S 12 AS 1722/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Reutlingen (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 12 AS 1722/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1) Eine Ausnahme von der Bescheidungspflicht des § 88 SGG besteht nur, wenn der geltend gemachte Anspruch unter keinen denkbaren Umständen bestehen kann und nicht bereits dann, wenn der Beklagte der Ansicht ist, der Kläger könne mit dem Sachbegehren keinen Erfolg haben. 2) Der Beklagte hat auch dann die außergerichtlichen Kosten der Kläger im Rahmen einer zwischenzeitlich erledigten Untätigkeitsklage zu tragen, wenn der (nicht in angemessener Frist beschiedene) Antrag nach § 44 SGB X nur gestellt worden ist, weil der Widerspruch gegen den zu überprüfenden Bescheid als unzulässig verworfen wurde.
Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Kläger.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten über die Kostentragung einer zwischenzeitlich erledigten Untätigkeitsklage.

Die Kläger stehen seit geraumer Zeit im Leistungsbezug des Beklagten. Mit Bescheid vom 26.03.2011 bewilligte der Beklagte den Klägern Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Mit Schreiben vom 13.12.2011, übersandt per Fax am 19.12.2011 (laut vorgelegtem Sendebericht der Kläger), erhoben die Kläger Widerspruch und beantragten, den Bescheid aufzuheben und die Leistungen nach dem SGB II mit verfassungsgemäß angemessenen erhöhten Regelleistungen zu bewilligen. Das Schreiben enthielt den Hinweis: "Sofern der Widerspruch als unzulässig verworfen wird, ist dieser als Antrag im Sinne von § 44 SGB X zu werten."

Mit Bescheid vom 20.03.2012 verwarf der Beklagte den Widerspruch als unzulässig.

Am 21.06.2012 erhoben die Kläger Untätigkeitsklage. Sie machten geltend, dass über den Widerspruch (wohl gemeint Überprüfungsantrag) seit sechs Monaten ohne ersichtlichen Grund nicht entschieden worden sei. Sie beantragten, den Überprüfungsantrag der Kläger vom 19.12.2011 gegen den Bescheid des Beklagten vom 26.03.2011 zu bescheiden.

Mit Bescheid vom 06.07.2012 lehnte der Beklagte die Überprüfung ab. Der zu überprüfende Bescheid sei nicht zu beanstanden. Die Kläger erklärten daraufhin den Rechtsstreit für erledigt.

Sie beantragen nunmehr noch,

dem Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Der Beklagte beantragt,

zu entscheiden, dass Kosten gemäß § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht zu erstatten sind.

Er macht geltend, eine Untätigkeitsklage nach § 88 Abs. 1 SGG sei zwar grundsätzlich nur auf die Bescheidung schlechthin, nicht aber auf die Stattgabe gerichtet. Ein Rechtsschutzbedürfnis für die gerichtliche Durchsetzung der Bescheidungspflicht bestehe aber nicht unbeschränkt. Das formelle Recht auf Bescheidung stelle sich nicht als Selbstzweck dar, sondern diene der Durchsetzung materieller Ansprüche. Stehe fest, dass das vom Kläger verfolgte Klageziel nicht durch die Erteilung des Bescheides erreicht werden könne, so sei die Untätigkeitsklage mangels Rechtsschutzbedürfnisses abzuweisen. Dies sei hier der Fall. Das Klageziel - eine erhöhte Regelleistung - könne durch die Untätigkeitsklage nicht erreicht werden. Weiterhin sei anzumerken, dass der Überprüfungsantrag offenbar nur gestellt worden sei, da die rechtzeitige Erhebung des Widerspruchs versäumt worden sei. Augenscheinlich haben so die gesetzlich geregelten Fristen umgangen werden sollen.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakten des Beklagten sowie die Gerichtsakten Bezug genommen. II.

Der Beklagte hat den Klägern ihre außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Das Gericht hat gem. § 193 Abs. 1 S. 1 SGG im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluss, wenn das Verfahren - wie hier - anders beendet wird (§ 193 Abs. 1 S. 3 SGG). Bei der Kostenentscheidung nach dieser Bestimmung sind das Ergebnis des Verfahrens sowie der Sach- und Streitstand bei der zu treffenden Ermessensentscheidung zu berücksichtigen (Rechtsgedanke des § 91a Zivilprozessordnung (ZPO) und des § 161 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO); vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Auflage München 2012, § 193, Rn 13; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 04.04.2011, Az.: L 8 B 13/07 AY, bei Juris Rn. 20). Ebenso zu berücksichtigen sind die zur Erhebung der Klage und zur Erledigung des Rechtsstreits führenden Umstände (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 18.01.2010, Az.: L 8 B 6/07 SO, bei Juris Rn. 17). In erster Linie ist danach der Verfahrensausgang bzw. der mutmaßliche Verfahrensausgang maßgebend. Daneben tritt als zweiter Gesichtspunkt das so genannte Veranlassungsprinzip, also die Frage, wer die Führung des Rechtsstreits veranlasst hat. Diesem kommt eine Korrektivfunktion zur Vermeidung unbilliger Ergebnisse zu (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 08.11.2005, Az.: L 13 B 9/05 SB, bei Juris Rn. 13). Es gilt also neben dem tatsächlichen bzw. vermutlichen Verfahrensausgang zur Vermeidung unbilliger Ergebnisse zu prüfen, ob es sich etwa um einen von vorneherein vermeidbaren oder überflüssigen Prozess gehandelt hat und wem dies gegebenenfalls zur Last zu legen ist.

Ist ein Antrag ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht beschieden worden, so ist nach § 88 SGG eine sogenannte Untätigkeitsklage nicht vor Ablauf von sechs Monaten seit Antragstellung zulässig. Bei Erledigung einer Untätigkeitsklage gilt grundsätzlich, dass der Beklagte die außergerichtlichen Kosten der Kläger zu erstatten hat, sofern die Klage nach den in § 88 genannten Sperrfristen erhoben wurde. Dies gilt, weil die Kläger mit einer Bescheiderteilung vor dem gesetzlichen Fristablauf rechnen dürfen, sofern nicht der Beklagte einen zureichenden Grund für seine Untätigkeit hatte und diesen Grund den Klägern mitgeteilt hatte oder er ihnen bekannt war (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.09.2005, Az.: L 10 LW 4563/04 AK-B, bei Juris Rn. 27; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19.01.2007, Az.: L 6 B 102/07 AL, bei Juris Rn. 3; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 193 Rn. 13c m.w.N.).

Die Kläger haben den Überprüfungsantrag am 19.12.2011 gestellt, wenn auch zunächst hilfsweise. Ausweislich des Faxsendeberichts ist der Antrag, der das Datum 13.12.2011 trägt, an diesem Tag an die Faxnummer des Beklagten übersandt worden. Es ist nicht ersichtlich, dass dieses Schreiben nicht am 19.12.2011 angekommen ist. Auch der Beklagte hat insofern nichts Gegenteiliges behauptet. Bis zum Ende der sechsmonatigen Frist - gem. § 202 SGG i.V.m. § 222 der ZPO, § 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) mit Ablauf des 19.06.2012 - hat der Beklagte nicht über diesen Antrag entschieden. Einen wichtigen Grund für dieses Verhalten hat der Beklagte nicht vorgetragen. Ein solcher ist auch nicht ersichtlich. Auf den Vortrag des Beklagten, dass mit dem Überprüfungsantrag lediglich die versäumte Widerspruchsfrist umgangen werden soll, kommt es nicht an. Die Kläger haben einen Antrag gestellt, dieser ist zu bescheiden. Etwas anderes mag im Falle querulatorischen Verhaltens gelten, dafür ist aber nichts ersichtlich. Die Anwendbarkeit des § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) hat nicht zur Voraussetzung, dass ein zulässiger Widerspruch erhoben und ein Widerspruchsverfahren durchgeführt worden ist. Demnach kann es auch die Anwendbarkeit der Norm nicht hindern, wenn ein Widerspruch als unzulässig verworfen wurde. Auch der Einwand, dass die Kläger durch eine Bescheiderteilung keine höheren Regelleistungen erreichen können und sie demzufolge kein Rechtsschutzbedürfnis hinsichtlich einer Untätigkeitsklage haben, greift in dieser Form nicht durch. So, wie der Beklagte diese in der Rechtsprechung (vgl. Bayerisches LSG, Beschluss vom 20.02.2009, Az. L 17 B 274/08 U PKH, bei Juris Rn. 12 m.w.N.) zu findende Aussage versteht, dass es einer Untätigkeitsklage am Rechtsschutzbedürfnis fehle, wenn das vom Kläger verfolgte Klageziel nicht durch Bescheiderteilung erreicht werden könne, kann sie nicht gemeint sein. Ansonsten würde das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis immer nur dann gegeben sein, wenn der Kläger einen für ihn positiven Bescheid erreichen und mit seinem Sachbegehren durchdringen könnte. Es wäre im Rahmen der Zulässigkeit der Untätigkeitsklage demzufolge zu prüfen, ob der Kläger mit dem begehrten Bescheid auch die angestrebte Leistung erhalten würde, ob sein Sachantrag also Erfolg hat. Das aber ist nicht Sinn und Zweck der Untätigkeitsklage. Diese soll lediglich den Beklagten dazu anhalten, dass der Beklagte in angemessener Zeit über den Antrag entscheidet. Dabei spielt es keine Rolle, ob er diese Entscheidung für den Kläger positiv oder negativ ist. Außerdem würde sich das Gericht ansonsten bereits vorab über die Hauptsache äußern und damit die Erstentscheidung in der Sache treffen oder zumindest lenken. Die Sachentscheidung ist aber der Verwaltung zugewiesen ist (vgl. Binder in HK-SGG, 3. Auflage, Baden-Baden 2009, § 88, Rn. 4). Vielmehr ist die von dem Beklagten zitierte Aussage einschränkend so zu verstehen, dass das Rechtsschutzbedürfnis fehlt, wenn der Bescheid für den Kläger keine materiell-rechtlichen Wirkungen haben kann oder aber wenn das von der Behörde beschiedene Sachbegehren offensichtlich unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt und unter keinen denkbaren Umständen Erfolg haben kann (LSG Hamburg, Urteil vom 18.02.2004, Az. L 1 KR 71/03, bei Juris Rn. 26 m.w.N.). Die von dem Beklagten angeführte Aussage ist auf die Fälle rechtsmissbräuchlicher Rechtsverfolgung zu beschränken. Nur dann kann von einer Unzulässigkeit der Untätigkeitsklage ausgegangen werden (vgl. Binder in HK-SGG, § 88, Rn. 7), was aber allerdings nur in Ausnahmefällen anzunehmen ist (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 88, Rn. 4a m.w.N.). Eine solche offensichtliche Aussichtslosigkeit ist nach Auffassung des Gerichts jedoch nicht gegeben, insbesondere sorgt die Angemessenheit der Regelsätze weiterhin für Streitstoff zwischen den Beteiligten, eine umfassende Entscheidung des Bundessozialgerichts ist noch nicht ergangen.

Die Entscheidung ist unanfechtbar (§ 172 Abs. 3 Nr. 3 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved