S 55 AS 18011/12

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
55
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 55 AS 18011/12
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 AS 9/13 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze:

1. Ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 SGB 2 besteht für nach Art 2, 3, 4, 70 EGV 883/2004 Berechtigte nicht, weil das Gleichbehandlungsgebot des Art 4 EGV 883/2004 wegen § 30 Abs 2 SGB 1 unmittelbar rechtswirksam ist. Ansprüche auf Arbeitslosengeld II nach §§ 19 Abs 1 S 1 und 3, 20 Abs 1, 2 und 5, 7 Abs 1 S 1 und 22 Abs 1 SGB 2 werden als besondere beitragsunabhängige Geldleistungen von Art 70 EGV 883/2004 erfasst.

2. Der persönliche Anwendungsbereich der EU-VO 883/2004 ist über deren Art 2 und 3 stets für Unionsbürger eröffnet, weil sie als Arbeitssuchende Anspruch auf die Vermittlungsleistungen der Bundesagentur für Arbeit haben. Auch auf Unionsbürger, die Kindergeld (Familienleistung im Sinne von Art 3 Abs 1 lit j EU-VO 883/2004) beziehen, ist die EU-VO 883/2004 anzuwenden.

3. Für den durch die Geschäftsanweisung SGB 2 Nr 8 vom 23.2.2012 der Bundesagentur für Arbeit mitgeteilten durch die Bundesregierung gem Art 16 Buchst b EuFürsAbk erklärten Vorbehalt zur Anwendbarkeit des EuFürsAbk fehlt eine hinreichende Ermächtigung durch Parlamentsgesetz. Das EuFürsAbk bleibt daher als Spezialvorschrift vor § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 und 2 SGB 2 anwendbar.

Tenor:

1. Der Bescheid der Beklagten vom 2. April 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 2012 wird aufgehoben. 2. Die Beklagte hat den Klägern deren außergerichtliche Kosten des Rechtsstreites zu erstatten. 3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Aufhebung der Bewilligung von Grundsicherungsleistungen für den Monat Mai 2012 wegen einer Änderung der gesetzlichen Regelungen für den Leistungsbezug von Ausländern, die sich ausschließlich zur Arbeitssuche in der Bundesrepublik aufhalten.

Die Kläger sind schwedische Staatsbürger bosnischer Nationalität und reisten am 14. Juni 2010 erneut in die Bundesrepublik ein. Die Klägerin zu 1) ist 1966, die Klägerin zu 2) im Mai 1994 geboren worden, die weiteren Kläger in den Jahren 1998, 1999 bzw 2005. Nach ihrer Einreise bezog die Klägerin zu 1) für ihre vier Kinder Kindergeld in einem Gesamtumfang von 773 EUR. Der Kläger zu 5) erhielt Unterhaltsvorschuss von 180,00 EUR monatlich (das Kindergeld betrug für ihn 215 EUR). Die Unterkunftskosten betrugen 650,00 EUR bruttowarm einschließlich der Bereitstellung von Warmwasser. Den Klägern wurde am 1. Juli 2010 die Bescheinigung nach § 5 FreizügG/EU erteilt.

Die Beklagte bewilligte den Klägern zu 1) bis 4) mit Bescheid vom 7. September 2011 und mit den Änderungsbescheiden vom 26. November und 9. Dezember 2011 Leistungen für den Zeitraum vom 1. Dezember 2011 bis 31. Mai 2012. Mit Bescheid vom 2. April 2012 hob die Beklagte die Bewilligungsbescheide für den Zeitraum vom 1. bis 31. Mai 2012 für die Klägerin zu 1) "und ihre minderjährigen Kinder" ganz auf und stützte dies auf die §§ 40 Abs 1 und 2 Nr. 3 SGB II, 48 Abs 1 Satz 1 SGB X, 330 Abs 3 SGB III. Die Klägerin und ihre Familienangehörigen seien wegen § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II vom Leistungsbezug nach dem SGB II ausgeschlossen. Die Bundesrepublik habe nunmehr einen Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen (EuFürsAbk) erklärt. Da sich das Aufenthaltsrecht der Klägerin zu 1) allein aus dem Zweck der Arbeitssuche herleite, seien die Klägerin zu 1) und ihre Familienangehörigen vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Dagegen wandten sich die Kläger mit ihrem Widerspruch vom 25. April 2012. Der Leistungsausschluss sei europarechtlichen Bedenken ausgesetzt. Im Eilverfahren vor der 91. Kammer des Sozialgerichts Berlin wurde die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs angeordnet.

Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29. Juni 2012 zurück. Bei der Klägerin zu 1) sei ein anderer Aufenthaltsgrund als der Zweck der Arbeitssuche nicht erkennbar. Daraus folge wegen der Richtlinie 2004/38/EG kein Anspruch auf Gleichbehandlung mit deutschen Staatsangehörigen. Das EuFürsAbk finde nach der Erklärung des Vorbehalts durch die Bundesregierung keine Anwendung mehr. Die Aufhebung habe deshalb nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X mit Wirkung für die Zukunft zu erfolgen.

Die Kläger verfolgen ihr Begehren mit ihrer Klage vom 6. Juli 2012 weiter. Sie stützen sich in ihrer Begründung auf den Beschluss im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Die Klägerin zu 1) und die Klägerin zu 2) arbeiten seit Juni 2012 (die Klägerin zu 1) in Teilzeit, die Klägerin zu 2) vollschichtig).

Die Kläger beantragen,

den Bescheid der Beklagten vom 2. April 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 2012 aufzuheben.

Die Beklagte sie hält ihre Entscheidung für zutreffend und beantragt,

die Klagen abzuweisen.

Insbesondere sei den jüngsten Entscheidungen der Senate 20 und 29 des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg zur Vereinbarkeit von § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II mit Europarecht zu folgen.

Der Kammer haben außer den Prozessakten die Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Schriftsätze, das Protokoll und den Akteninhalt gemäß § 136 Abs 2 SGG Bezug genommen.

Der Kläger zu 5) hat mit Schreiben vom 21. Dezember 2012 darauf hingewiesen, dass er nur versehentlich in die Klageschrift aufgenommen worden und deshalb aus dem Rubrum zu streichen sei. Vorsorglich hat er die Klage zurück genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Kläger haben Anspruch auf Aufhebung des angefochtenen Aufhebungsbescheides vom 2. April 2012. Für diesen Bescheid fehlt es an einer Ermächtigungsgrundlage. Er kann sich insbesondere nicht auf § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X stützen, weil eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen nicht eingetreten ist. Der angefochtene Bescheid verletzt die einfach-gesetzlich vorgesehenen sozialen Rechte der Kläger zu 1) bis 4) wie auch deren Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Im Falle des Klägers zu 5) wäre er als sog. formeller Verwaltungsakt aufzuheben gewesen. Indes ist die Klage für den Kläger zu 5) jedenfalls zurückgenommen, weshalb es insofern keiner weiteren Gründe der Entscheidung mehr bedarf.

1. Die Klagen sind zulässig. Das Gericht ist zur Sachentscheidung berufen.

Die Kläger haben ihre Klagen gegen die Beklagte frist- und formgerecht erhoben. Das Widerspruchsverfahren ist jeweils durchgeführt und abgeschlossen worden. Die in zulässiger subjektiver Klagenhäufung eingelegten Anfechtungsklagen, sind statthaft (§ 54 Abs 1, 2 SGG). Die Kläger zu 1) bis 4) sind klagebefugt im Sinne von § 54 Abs 1 Satz 2, Abs 2 SGG. Sie behaupten jeweils eine Verletzung ihres Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art 1 Abs 1 und 20 GG) durch Entzug der bereits bewilligten Grundsicherungsleistungen als prozessrechtlich relevante Beschwer. Dem steht die nur vorläufige Auszahlung der Leistungen infolge der Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs nicht entgegen.

2. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 2. April 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 2012 ist aufzuheben, denn ihm fehlt die erforderliche Ermächtigungsgrundlage. Er kann sich insbesondere nicht auf § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X stützen, denn eine wesentliche Änderung in den rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnissen im Sinne dieser Vorschrift ist nicht eingetreten, insbesondere nicht durch die Erklärung des Vorbehalts nach Art 16 EuFürsAbk durch die Bundesregierung im Dezember 2011. Die Kläger hatten auch im Mai 2012 gemäß §§ 19 Abs 1, 3, 20 Abs 1, 2, 21 Abs 3 Nr 1, 23, 7 Abs 1 Satz 1 und 22 Abs 1 SGB II Anspruch auf Arbeitslosengeld II bzw Sozialgeld. Der Leistungsanspruch war nicht wegen § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II ausgeschlossen, weil die Kläger Unionsbürger sind. Insofern entfalten die Vorschriften der Art 2, 3, 4, 70 EU-VO 883/2004 wegen § 30 Abs 2 SGB I unmittelbare Geltung und haben Vorrang auch gegenüber den allgemeineren und älteren Regelungen des EuFürsAbk.

Die Voraussetzungen für die ursprünglich bewilligten Ansprüche auf Arbeitslosengeld II und Sozialgeld sind sämtlich erfüllt. Die Klägerinnen zu 1) und 2) sind erwerbsfähige Leistungsberechtigte im Sinne von § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II. Vorrangige Leistungsansprüche bestanden nicht. Weder die Regelungen des SGB XII, noch des AsylBewLG oder des WohnGG kamen in Betracht.

2.1. Die Klägerinnen zu 1) und 2) sind vom persönlichen Geltungsbereich der Grundsicherungsleistungen des SGB II nach § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 1 und 2 SGB II erfasst. Sie hatten im Sinne von § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 1 iVm § 7a SGB II während des hier streitigen Zeitraums Mai 2012 das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht erreicht.

Die Klägerinnen zu 1) und 2) waren im Sinne von §§ 7 Abs 1 Satz 1 Nr 2, 8 Abs 1 und 2 SGB II erwerbsfähig. Von der Erwerbsfähigkeit der Klägerinnen zu 1) und 2) im Sinne von § 8 Abs 1 SGB II hat sich die Kammer aufgrund der Angaben der Klägerinnen in der Verhandlung und des persönlichen Eindrucks überzeugt. Die Aufnahme der Beschäftigungen ab Juni 2012 durch beide Klägerinnen bestätigt dies. Anhaltspunkte für eine gesundheitliche Einschränkung des Leistungsvermögens der Klägerinnen, welche die Grenzen des § 8 Abs 1 SGB II überschreiten würden, sind nicht zu erkennen. Anlass für entsprechende Ermittlungen bestanden daher nicht.

Die Klägerinnen zu 1) und 2) sind als Unionsbürgerinnen mit schwedischer Staatszugehörigkeit auch im Sinne des § 8 Abs 2 SGB II erwerbsfähig, weil mit ihrer Freizügigkeitsbefugnis auch die Berechtigung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit verbunden ist.

2.2. Die Klägerinnen zu 1) und 2) waren hilfebedürftig im Sinne von §§ 7 Abs 1 Satz 1 Nr 3, 9 Abs 1, 2 SGB II. Sie verfügten in den hier streitigen Zeiträumen nicht über ausreichendes Einkommen oder Vermögen zur Deckung des bestehenden Bedarfs. Als Einkommen stand den Klägern nur das Kindergeld und für den Kläger zu 5) der Unterhaltsvorschuss zur Verfügung. Nur vom Kindergeld des Klägers zu 5) sind 14 EUR als Einkommen der Klägerin zu 1) zu berücksichtigen. Dieses Einkommen und das jeweilige Kindergeld konnten die Bedarfe der Kinder mit Ausnahme beim Kläger zu 5) jeweils nicht decken. Zur Berechnung der Bedarfe und der Anrechung des Einkommens wird auf den zutreffenden Bescheid vom 9. Dezember 2011 entsprechend § 136 Abs 3 SGG Bezug genommen. (Der Regelbedarf für den Kläger zu 5) nach dem geltenden Recht betrug 2012 monatlich 251,00 EUR.)

Die Unterkunftskosten der Kläger von 650,00 EUR bruttowarm und inklusive Warmwasser sind angemessen im Sinne von § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II (das sind 130,00 EUR pro Kopf). Ein Warmwassermehrbedarf nach § 21 Abs 7 Satz 1 SGB II war nicht zu berücksichtigen, weil das Warmwasser durch den Vermieter bereitgestellt wurde.

Zur Überzeugung der Kammer verfügten die Klägerinnen zu 1) und 2) über keine weiteren Einkünfte oder Vermögen im Mai 2012. Einkünfte aus einer Erwerbstätigkeit oder aus weiteren Sozialleistungen standen unstreitig nicht zur Verfügung. Unterhaltsleistungen haben beide nicht bezogen.

2.3. Auch der räumliche Geltungsbereich der Vorschriften erfasst wegen § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB II den Fall der Klägerinnen zu 1) und 2). Diese hatten unstreitig ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des Gesetzes. Sie wohnten seit Juni 2010 in der Bundesrepublik Deutschland.

Es besteht auch kein Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II. Zwar sind die Klägerinnen zu 1) und 2) mit ausländischer Staatsbürgerschaft zur Überzeugung der Kammer ausschließlich zur Arbeitssuche in die Bundesrepublik eingereist und seit Antragstellung auf SGB II-Leistungen hatten beide Klägerinnen ausschließlich wegen der Arbeitssuche oder als Arbeitnehmerinnen ihr europarechtliches Aufenthaltsrecht abgeleitet. Weil die Arbeitszeiten – für beide jeweils nicht mindestens sechs Monate seit Juni 2010 – kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht europarechtlich begründeten, vermittelte jeweils nach Beendigung der Beschäftigungen wieder ausschließlich die Arbeitssuche das Aufenthaltsrecht, so auch im Mai 2012.

Indes ist der Ausschlussgrund des § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II für die Klägerinnen zu 1) und zu 2), weil diese Unionsbürgerinnen sind, nicht zu prüfen. Insofern kommt den Vorschriften der Art 2, 3, 4, 70 EU-VO 883/2004 als jüngerem und höherrangigem, aber vor allem auch speziellerem Recht wegen § 30 Abs 2 SGB I Vorrang zu. Artikel 4 untersagt eine Ungleichbehandlung von Unionsbürgern gegenüber den eigenen Staatsangehörigen, denn die Vorschrift gebietet, dass Personen, für die die EU-VO 883/2004 gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates haben. Weil § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II nur für Personen mit ausländischer Staatsbürgerschaft nicht aber für Staatsangehörige der BRD gilt, kommt diese Regelung bei Geltung von Art 4 EU-VO 883/2004 bei Unionsbürgern nicht zur Anwendung. Art 4 EU-VO 883/2004 ist wegen Artikel 3 Abs 3, 70 Abs 3 EU-VO 883/2004 auch für die Leistungen, welche von Art 70 der Verordnung erfasst sind und zu denen die Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II gehören, zwingendes Recht. Insofern ist nicht zu prüfen, ob § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II europarechtswidrig sein könnte; vielmehr ist der normative Gehalt der europarechtlichen Vorgaben unmittelbar rechtswirksam zu machen (§ 30 Abs 2 SGB I und die st. Rspr des EuGH).

Der persönliche Anwendungsbereich ist im Falle der Klägerinnen zu 1) und 2) als schwedische Staatsbürgerinnen und zugleich Unionsbürgerinnen erfüllt, denn § 2 Abs 1 EU-VO 883/2004 regelt zum persönlichen Geltungsbereich: "Diese Verordnung gilt für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten " Beide Klägerinnen hatten ihren Wohnsitz auch in einem weiteren Mitgliedsstaat, nämlich der Bundesrepublik Deutschland und für sie gelten die bundesdeutschen Rechtsvorschriften. Nach der Legaldefinition des Art 1 lit l) EU-VO 883/2004 sind "Rechtsvorschriften" für jeden Mitgliedsstaat die Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durchführungsvorschriften in Bezug auf die in Art 3 Abs 1 VO 883/2004 genannten Zweige der sozialen Sicherheit. Nach Art 3 Abs 1 EU-VO 883/2004 gilt die Verordnung für alle Rechtsvorschriften, die bestimmte Zweige der sozialen Sicherheit betreffen, so u. a. die unter Buchstabe h) beschriebenen "Leistungen bei Arbeitslosigkeit" und unter Buchstabe j) "Familienleistungen".

Soweit man mit wortlautstrengster Auslegung annehmen wollte, dass wegen der Definition des Begriffs der Rechtsvorschriften in Art 1 Abs 1 lit l) EU-VO 883/2004 der persönliche Anwendungsbereich nur bei Anwendbarkeit der Regelungssysteme nach Art 3 Abs 1, nicht aber bei einem lediglich isolierten Bezug von Leistungen nach Art 3 Abs 3 iVm Art 70 der Verordnung in Betracht kommen sollte, also Art 3 Abs 3 und 70 EU-VO 883/2004 ausschließlich als bloß ergänzende bzw zusätzliche (nicht aber auch ersatzweise) Leistung zu nach jeweils aktuell bestehenden Ansprüchen der Leistungssysteme nach Art 3 Abs 1 EU-VO 883/2004 hinsichtlich des persönlichen Geltungsbereiches ansehen wollte, ändert dies nichts an der Eröffnung des persönlichen Anwendungsbereiches. Denn die Geltung der Rechtsvorschriften nach Art 2 EU-VO 883/2004 aus den Leistungsbereichen nach Art 3 Abs 1 EU-VO 883/2004 verlangt keinen inhaltlichen Bezug zwischen den Leistungen nach Art 70 EU-VO 883/2004 und einem System nach Art 3 Abs 1 EU-VO 883/2004. Insbesondere müssen nach dem Wortlaut und den normativen Zwecken für die Klärung des persönlichen Geltungsbereichs keine Unterhaltsersatzleistungen/Entgeltersatzleistungen bezogen werden. Es reicht aus, dass entsprechende Rechtsvorschriften gelten, unabhängig auch von deren Inanspruchnahme (SG Berlin, Urteil vom 25. August 2012, S 55 AS 13349/12).

Dies ist aber für jeden Arbeitssuchenden der Fall. Die Rechtsvorschriften für Leistungen bei Arbeitslosigkeit gelten für arbeitssuchende Unionsbürger stets, weil sie jedenfalls Arbeitsvermittlungsleistungen nach dem SGB III (§§ 35, 38 SGB III) in Anspruch nehmen können (SG Berlin, Beschluss vom 29.06.2012, S 96 AS 15360/12 ER; Urteil vom 25. August 2012, S 55 AS 13349/12). Dies gilt auch für die Klägerinnen zu 1) und 2). Die Kammer meint zudem, dass der Begriff der Rechtsvorschriften in Art 2 EU-VO 883/2004 schon deshalb, weil die Leistungen nach Art 70 auch als Ersatz für die in Art 3 Abs 1 EU-VO 883/2004 genannten Leistungen in Betracht kommen, auch die Rechtsvorschriften nach Art 70 EU-VO 883/2004 mit umfassen muss, wie dies die Auslegung des Begriffs der Rechtsvorschriften in Art 4 EU-VO 883/2004 zwingend ergibt (dazu unten). Das Recht der Grundsicherungsleistungen nach §§ 19, 20 SGB II stellt dann ebenfalls Rechtsvorschriften im Sinne von Art 2 EU-VO 883/2004 zur Verfügung (dazu sogleich).

Im Falle der Klägerinnen zu 1) und 2) tritt der Umstand hinzu, dass die Klägerin zu 1) für die Klägerin zu 2) und für die anderen Kinder Kindergeld bezog, also eine Familienleistung im Sinne von Art 3 Abs 1 lit j EU-VO 883/2004. Bereits deswegen war bei beiden der persönliche Anwendungsbereich der Verordnung gegeben.

Der sachliche Geltungsbereich wird nach Art 3 Abs 3 EU-VO 883/2004 erfüllt. Nach dieser Vorschrift gilt die EU-VO 883/2004 auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen gemäß Artikel 70 der Verordnung.

Ansprüche auf Arbeitslosengeld II nach §§ 19 Abs 1 Sätze 1, 2 und 3, 20 Abs 1, 2, 23, 7 Abs 1 Satz 1 und 22 Abs 1 SGB II werden von Art 70 EU-VO 883/2004 erfasst (SG Berlin, Urteile vom 24.05.2011, S 149 AS 17644/09, vom 27.03.2012, S 110 AS 28262/11; vom 25. August 2012, S 55 AS 13349/12; Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 14.07.2011, L 7 AS 107/11 B ER; Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27.04.2012, L 14 AS 7623/12 B ER, SG Dresden, Beschluss vom 05.08.2011, S 36 AS 3461/11 ER; SG Berlin, Beschlüsse vom 27.04.2012, S 55 AS 8242/12 ER, vom 08.05.2012, S 91 AS 8804/12, vom 20.06.2012, S 189 AS 15170/12 ER, vom 29.06.2012, S 96 AS 15360/12 ER; a A insbesondere Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 29.02.2012, L 20 AS 2347/11 B ER, vom 03.04.2012, L 5 AS 1257/11 B ER und vom 12.06.2012, L 29 AS 1044/12 B ER). Dies hatte das BSG für die wortgleiche Vorgängerregelung nach Art 4 Abs 2a EWGV 1408/71 bereits im Urteil vom 18. Januar 2011, B 4 AS 14/10 R, anerkannt: "Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II sind – anders als Sozialhilfeleistungen nach Art 4 Abs 4 EWGV Nr 1408/71 – als besondere beitragsunabhängige Geldleistungen, nicht jedoch als Leistungen bei Arbeitslosigkeit gemäß Art 4 Abs 1 Buchst g EWGV Nr 1408/71, von dem sachlichen Anwendungsbereich der für den hier streitgegenständlichen Zeitraum (15.2.2007 bis 27.11.2008) anwendbaren EWGV Nr 1408/71 umfasst (vgl Nachfolgeverordnung Nr 883/2004 vom 29.04.2004 (ABl 2004 [EU] Nr L 166, 1 ff), die nach deren Art 91 Satz 2 erst ab dem Inkrafttreten der Durchführungsverordnung am 01.05.2010 in Kraft getreten ist (Art 97 der VO 987/2009)." (RdNr 17) Dieser Rechtsprechung ist auch für die wortgleiche Nachfolgevorschrift der Art 3 Abs 3 und 70 EU-VO 883/2004 zu folgen.

Art 70 EU-VO 883/2004 gilt wegen seines Absatzes 1 für besondere beitragsunabhängige Geldleistungen, die nach Rechtsvorschriften gewährt werden, die aufgrund ihres persönlichen Geltungsbereichs, ihrer Ziele und/oder ihrer Anspruchsvoraussetzungen sowohl Merkmale der in Artikel 3 Absatz 1 genannten Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit als auch Merkmale der Sozialhilfe aufweisen. Diese Regelung entspricht in ihrem Wortlaut der Vorgängerregelung des Art 4 Abs 2a EWGV Nr 1408/71 idF der VO (EG) Nr 647/2005 vom 13.04.2005 (ABl EG Nr L 117/1) vom 04.05.2005. Dabei bezeichnet nach Absatz 2 der Vorschrift der Ausdruck "besondere beitragsunabhängige Geldleistungen" die Leistungen, a) die dazu bestimmt sind: i) einen zusätzlichen, ersatzweisen oder ergänzenden Schutz gegen die Risiken zu gewähren, die von den in Artikel 3 Absatz 1 genannten Zweigen der sozialen Sicherheit gedeckt sind, und den betreffenden Personen ein Mindesteinkommen zur Bestreitung des Lebensunterhalts garantieren, das in Beziehung zu dem wirtschaftlichen und sozialen Umfeld in dem betreffenden Mitgliedstaat steht, oder ii) allein dem besonderen Schutz des Behinderten zu dienen, der eng mit dem sozialen Umfeld dieser Person in dem betreffenden Mitgliedstaat verknüpft ist, und b) deren Finanzierung ausschließlich durch obligatorische Steuern zur Deckung der allgemeinen öffentlichen Ausgaben erfolgt und deren Gewährung und Berechnung nicht von Beiträgen hinsichtlich der Leistungsempfänger abhängen. Jedoch sind Leistungen, die zusätzlich zu einer beitragsabhängigen Leistung gewährt werden, nicht allein aus diesem Grund als beitragsabhängige Leistungen zu betrachten; und c) die in Anhang X aufgeführt sind.

Zunächst ist festzustellen, dass im Sinne von Buchstabe c) die Grundsicherungsleistungen des SGB II in der Anlage X der Verordnung aufgeführt sind.

Nach ständiger und zutreffender Rechtsprechung des BSG, handelt es sich im Sinne von Buchstabe b) der Regelung um ausschließlich steuerfinanzierte Leistungen (§ 46 Abs 1 Satz 1 SGB II). Wollte man im Hinblick auf den Eingliederungsbeitrag der Bundesagentur für Arbeit nach § 46 Abs 4 SGB II einen beitragsfinanzierten Anteil der Finanzierung annehmen, handelte es sich nicht um Leistungen nach Art 70 der Verordnung sondern um originäre Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach Titel III Kapitel VI der Verordnung. Indes ist der Zweck des Beitrages der Bundesagentur vorgegeben, indem er sich auf die Eingliederungsleistungen und Verwaltungskosten, nicht aber auf die Grundsicherungsleistungen bezieht.

Die Grundsicherungsleistungen nach §§ 19, 20 SGB II sind aber auch wegen Art 70 Abs 2 lit a) i) 70 EU-VO 883/2004 besondere beitragsunabhängige Geldleistungen, denn sie sind dazu bestimmt, einen zusätzlichen, ersatzweisen oder ergänzenden Schutz gegen die Risiken zu gewähren, die von den in Artikel 3 Absatz 1 genannten Zweigen der sozialen Sicherheit gedeckt sind, und den betreffenden Personen ein Mindesteinkommen zur Bestreitung des Lebensunterhalts garantieren, das in Beziehung zu dem wirtschaftlichen und sozialen Umfeld in dem betreffenden Mitgliedstaat steht. Schon die Wortwahl "zusätzlich, ersatzweise oder ergänzend" macht deutlich, dass der europäische Gesetzgeber ein weites Verständnis für die Ähnlichkeit des Schutzcharakters hat. Mag man noch annehmen, dass mit diesen Vorgaben weitgehend ein gleichartiger oder gar identischer Risikofall ("Versicherungsfall") gemeint sein soll, was hinsichtlich der Arbeitslosigkeit nach §§ 16, 118 Abs 1 SGB III aF (nunmehr §§ 16, 138 Abs 1 SGB III nF) unproblematisch ist, wenn der Betroffene – wie die Klägerinnen zu 1) und 2) – beschäftigungslos ist, Eigenbemühungen unternimmt und den Vermittlungsbemühungen zur Verfügung steht, so können etwa versicherungsrechtliche Voraussetzungen des "Hauptanspruches" kaum verlangt werden, denn die Leistung soll ja auch als Ersatz oder zusätzlich und vor allem beitragsfrei in Betracht kommen.

Es reicht eine zeitliche Ergänzung aus, das heißt, dass eine Aufeinanderfolge der Leistungen genügt und kein Parallelbezug vorliegen muss. Zudem können zusätzliche Leistungsvoraussetzungen, etwa Bedürftigkeit, normiert sein, denn die Leistung soll ja ausdrücklich das Mindesteinkommen sicherstellen, also durchaus eine Sozialhilfekomponente besitzen.

Ein Wertungswiderspruch zwischen Art 3 Abs 3, 70 EU-VO 883/2004 und etwa der (niederrangigen) Regelungen der Richtlinie 2004/38/EG (dort insbesondere Art 24 Abs 2) kann schon deshalb nicht gesehen werden, weil Art 3 Abs 3, 70 EU-VO 883/2004 ausdrücklich auf Leistungen mit einem Mischcharakter abstellen, die also über den sozialhilferechtlichen Aspekt hinaus weitere Umstände insbesondere parallel zu den Leistungssystemen nach Art 3 Abs 1 EU-VO 883/2004 berücksichtigen, während Art 24 Abs 2 Richtlinie 2004/38/EG allgemein auf Sozialhilfeleistungen ausgerichtet ist.

Diese unterschiedlichen Vorschriften treten mit ihrem normativen Bereich nebeneinander, können einander auch überlappen, aber nicht in normativen Widerstreit zueinander treten. Die Richtlinie 2004/38/EG schreibt dem nationalen Gesetzgeber nicht vor, wie er Sozialhilfeleistungen im Sinne der Richtlinie ausgestalten soll. Normiert er sie als besondere beitragsunabhängige Geldleistungen, führt an der Anwendung von Art 70 EU-VO 883/2004 kein Weg vorbei. Eine andere Auslegung würde die systematischen und historischen sowie teleologischen Aspekte, die bei der Auslegung der Regelungen zu beachten sind, auf den Kopf stellen. Beide Regelungssysteme sind in einem engen zeitlichen Zusammenhang geschaffen worden. Es kann daher nicht angenommen werden, dass der europäische Gesetzgeber dabei die Intention hatte, eine der Regelungen von vornherein leer laufen zu lassen. Für den nationalen Gesetzgeber besteht bei Ausfüllung der Richtlinie 2004/38/EG ein Gestaltungsspielraum – je nach Ausgestaltung einer Leistung mit wesentlichen sozialhilferechtlichen Komponenten – die erlaubten (nicht zwingenden) Rechtsfolgen der Richtlinie oder aber andere Rechtsfolgen, wie etwa der des Art 4 EU-VO 883/2004, zu setzen oder eben nicht. Wählt er die Ausgestaltung nach Art 70 EU-VO 883/2004, ist die Folge durch die EU-Verordnung vorgegeben. Die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen nach Art 70 EU-VO 883/2004 weisen nach ihrer Definition zwingend eine wesentliche Sozialhilfekomponente auf. Weil sie aber einen zweieinigen Charakter durch ihre weitere Komponenten aus den Leistungen nach Art 3 Abs 1 EU-VO 883/2004 besitzen, müssen die sozialrechtlichen Aspekte, insbesondere der im Europarecht fest verankerte Grundsatz der Gleichbehandlung, der mit der bereichsspezifischen Ausnahmeregelung in der Richtlinie 2004/38/EG lediglich gelockert wird, wieder stärker Beachtung finden. Dieses Konzept des europäischen Gesetzgebers ist systematisch und teleologisch schlüssig.

Das Arbeitslosengeld II weist sowohl eine Sozialhilfekomponente auf wie auch wesentliche Aspekte der in Artikel 3 Absatz 1 genannten Zweige der sozialen Sicherheit.

Nach dem Urteil des BVerfG vom 9. Februar 2010 zur Verfassungswidrigkeit der Regelsätze der Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II kann kein Zweifel mehr daran bestehen, dass das Arbeitslosengeld II eine Leistung ist, die den betreffenden Personen ein Mindesteinkommen zur Bestreitung des Lebensunterhalts garantiert, das in Beziehung zu dem wirtschaftlichen und sozialen Umfeld in dem betreffenden Mitgliedstaat steht. Insofern weist die Leistung zweifelsohne sozialhilferechtliche Züge aus. Diese lassen sich an verschiedenen Regelungsaspekten ohne Weiteres feststellen. Zu diesen gehören die Regelbedarfe und auch die Ausschlusstatbestände nach § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II, die stets daran anknüpfen, dass ein tatsächlicher Bezug zum Arbeitsmarkt nicht besteht. Sozialhilferechtliche Leistungsmerkmale sind indes über ihre existenzsichernde Funktion hinaus jedoch nicht geeignet, Aufschluss über die Einbeziehung der Leistung in den Wirkungsbereich des Art 70 EU-VO 883/2004 zu geben, weil dafür nach den Denkgesetzen wiederum auch die Regelungsaspekte eine Rolle spielen müssen, die auf einen zusätzlichen, ersatzweisen oder ergänzenden Schutz gegen die Risiken, die von den in Artikel 3 Absatz 1 genannten Zweigen der sozialen Sicherheit gedeckt sind, hindeuten.

Dass die Grundsicherungsleistungen der §§ 19, 20 SGB II jedoch auch einen zusätzlichen, ersatzweisen oder ergänzenden Schutz gegen die Risiken, die von den in Artikel 3 Absatz 1 genannten Zweigen der sozialen Sicherheit gedeckt sind, insbesondere der Arbeitslosigkeit (Art 3 Abs 1 lit h EU-VO 883/2004), vermitteln, folgt bereits aus dem Namen der Leistung: Arbeitslosengeld II. Der Gesetzgeber ist Vorschlägen im Gesetzgebungsverfahren, bei der Bezeichnung der Leistung einen deutlicheren Abstand zur beitragsfinanzierten Leistung Arbeitslosengeld zu wählen, nicht gefolgt (Gutachten Dr. Fuchsloch). Der bis Ende 2010 gewährte Zuschlag nach § 24 SGB II aF machte den ersatzweisen und ergänzenden Schutz im Anschluss an einen bisherigen Bezug von Arbeitslosengeld deutlich; dieser Zuschlag selbst dürfte sogar unmittelbar als Leistung nach Art 3 Abs 1 lit h EU-VO 883/2004 anzusehen gewesen sein ... Dass diese Regelung insbesondere wegen ihrer besonderen Kompliziertheit und des erheblichen Berechnungsaufwandes für die Verwaltung aufgehoben wurde, hat am Ergänzungs- und Ersatzcharakter der SGB II-Leistung nichts geändert. Dieser Charakter wird nach wie vor deutlich, wenn der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs 4a SGB II in den Blick genommen wird, der die Verfügbarkeit zur Arbeitsvermittlung sicherstellen soll. Hier erfolgt eine unmittelbare Anknüpfung an den persönlichen Geltungsbereich im Sinne von Art 2 iVm Art 3 Abs 1 EU-VO 883/2004, weil die Vorschrift auf die Erreichbarkeit für Vermittlungsangebote nach §§ 35, 38 SGB III abzielt. Dass die Leistung ausdrücklich Erwerbsfähigkeit zur Voraussetzung hat und damit Vermittelbarkeit auf dem Arbeitsmarkt als wesentlichen Anknüpfungspunkt hat, bestätigt den Ergänzungs- und Ersatzcharakter ebenso wie die Möglichkeit, die Leistung aufstockend zum Erwerbseinkommen zu beziehen und zwar selbst dann, wenn dieses Einkommen an sich ausreichen würde, den eigenen Grundsicherungsbedarf zu decken. Wegen § 9 Abs 2 Satz 3 SGB II wird trotz ausreichender Deckung des eigenen Bedarfs Bedürftigkeit fingiert, wenn nicht der gesamte Bedarf der Bedarfsgemeinschaft des Werktätigen durch die erzielten Einnahmen gedeckt ist. Damit wird der u U vollschichtig Erwerbstätige dem Regime der Förderung und Arbeitsvermittlung unterworfen wie ein Bezieher von Arbeitslosengeld bei bestehender Arbeitslosigkeit. All dies sind zentrale Regelungen der Leistung Arbeitslosengeld II, die ebenfalls deren Charakter prägen und verdeutlichen, dass die Leistung über den Charakter einer Sozialhilfeleistung hinaus aufgrund ihres persönlichen Geltungsbereichs, ihrer Ziele und/oder ihrer Anspruchsvoraussetzungen einen zusätzlichen, ersatzweisen oder ergänzenden Schutz insbesondere gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit vermittelt. Mit dieser strikten Prüfung aller Voraussetzungen von Art 70 Abs 2 EU-VO 883/2004 erfüllt die Kammer die Vorgabe der Erwägung 37 Satz 3 EU-VO 883/2004, wonach Titel III Kapitel 9 dieser Verordnung nur auf Leistungen angewendet werden kann, die sowohl besonders als auch beitragsunabhängig sind und in Anhang X dieser Verordnung aufgeführt sind. Auch diese Erwägung betont den zweieinigen Charakter der besonderen beitragsunabhängigen Leistungen.

Sofern einige Senate des LSG Berlin-Brandenburg (s o) zu einem abweichenden Ergebnis gelangen, haben diese die normativen Unterschiede zwischen Art 3 Abs 3, 70 EU-VO 883/2004 und Art 24 Abs 2 Richtlinie 2004/38/EG und insbesondere den Mischcharakter der von Art 3 Abs 3, 70 EU-VO 883/2004 erfassten Sozialleistungen aus Sicht der Kammer nicht hinreichend gewürdigt. Es darf nicht übersehen werden, dass die sozialhilferechtlichen Charakteristika für die Einbeziehung der Leistungen nach Art 3 Abs 3, 70 EU-VO 883/2004 lediglich insofern relevant sind, als es um die Sicherung des Mindesteinkommens geht. Sie spielen denknotwendig keinerlei Rolle, wenn es um die Klärung der Frage geht, inwieweit die Leistungen Voraussetzungen und Zwecke verfolgen, die aufgrund ihres persönlichen Geltungsbereichs, ihrer Ziele und/oder ihrer Anspruchsvoraussetzungen einen zusätzlichen, ersatzweisen oder ergänzenden Schutz insbesondere gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit gewähren. Die besondere Anbindung an den Vermittlungsanspruch und die Mitwirkungspflichten im Rahmen der Vermittlungsbemühungen durch die Bundesagentur für Arbeit muss Berücksichtigung finden. Schließlich wird auch das historische Auslegungsmoment vernachlässigt, wenn die praktisch wortgleiche Vorläuferregelung und die dazu ergangene Rechtsprechung nicht gewürdigt werden. Wenn eine Regelung im Zuge einer Neukodifikation praktisch wortgleich übernommen wird, spricht das regelmäßig dafür, dass der normative Gehalt in der Ausgestaltung durch die Rechtsprechung nicht verändert werden sollte.

Weil das Arbeitslosengeld II alle Voraussetzungen des Art 70 Abs 2 EU-VO 883/2004 erfüllt, gelten als Rechtsfolgen diejenigen nach Abs 3 und 4. Absatz 4 ordnet die Leistungsgewährung im Mitgliedsstaat des Wohnsitzes an und Absatz 3 schreibt indirekt die Geltung von Art 4 EU-VO 883/2004 vor, denn es erfolgt nur ein Ausschluss bestimmter Vorschriften der Verordnung, zu denen Art 4 gerade nicht gehört. Daraus ergibt sich folgerichtig, dass der Begriff der Rechtsvorschriften in Art 4 EU-VO 883/2004 dahingehend zu lesen ist, dass die Rechtsvorschriften auch diejenigen der Leistungssysteme nach Art 3 Abs 3 iVm 70 EU-VO 883/2004 meinen müssen. Erwägung 5 der EU-VO 883/2004 misst der Gleichbehandlung eine besondere Bedeutung zu. Erwägung 32 hebt hervor, dass zur Förderung der Mobilität der Arbeitnehmer vor allem ihre Arbeitssuche in den verschiedenen Mitgliedstaaten zu erleichtern ist. Diese Aspekte sind im Sinne des effet utile bei der Auslegung der einzelnen Vorschriften wirksam zu machen (so bereits SG Berlin, Beschlüsse vom 08.05.2012, S 91 AS 8804/12 ER, und vom 29.06.2012, S 96 AS 15360/12 ER, Urteil vom 25. August 2012, S 55 AS 13349/12). Damit wird das Recht der Bundesrepublik auf ein eigenes System der sozialen Sicherheit nicht berührt, denn die Besonderheiten der Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II werden für einen ausländischen Unionsbürger wie für einen deutschen Staatsangehörigen wirksam. Die Klägerinnen zu 1) und 2) dürfen daher nicht anders als ein deutscher Staatsbürger behandelt werden.

2.4. Sie haben damit dem Grunde nach Anspruch auf Leistung, denn sie sind erwerbsfähige Leistungsberechtigte im Sinne der §§ 19 Abs 1, 7 Abs 1 Sat 1 SGB II. Die Leistungsbewilligungen waren daher korrekt (§ 45 SGB X bietet daher ebenfalls keine Ermächtigungsgrundlage für eine Aufhebung der Leistungen) und für Mai änderte sich nichts, denn die anspruchsbegründenden Vorschriften hatten unverändert Bestand. Für die Kläger zu 3) und 4) folgte dies akzessorisch aus § 7 Abs 2 SGB II, weil sie hilfebedürftige Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft der Klägerinnen zu 1) und 2) waren.

2.5. Im Hinblick auf die Anwendbarkeit des EuFürsAbk ergibt sich keine andere Betrachtung. Denn das speziellere Gleichbehandlungsgebot nach Art 1 EuFürsAbk, seine Geltung für den Fall der Kläger unterstellt, verdrängt (zum Spezialitätscharakter des EuFürsAbk: BSG Urteil vom 19.10.2010, B 14 AS 23/10 R, RdNr 26) für die schwedischen Klägerinnen ebenfalls die Regelung des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 und 2 SGB II. Die persönlichen Voraussetzungen sind erfüllt; insbesondere gilt Art 1 EuFürsAbk für die schwedischen Klägerinnen, weil Schweden Signatarstaat des Abkommens ist. Die Voraussetzungen des Gleichbehandlungsgebots nach Art 1 EuFürsAbk liegen im Falle der Kläger auch inhaltlich vor. Denn bei den beanspruchten Leistungen nach §§ 19, 20, 23 SGB II handelt es sich um Fürsorge im Sinne des EuFürsAbk (BSG ebd RdNr 32). Daran hat die Kammer insbesondere im Hinblick auf das Urteil des BVerfG vom 9. Februar 2010, wonach es sich bei den Grundsicherungsleistungen des SGB II um existenzsichernde Leistungen handelt, keinen Zweifel. Zudem halten sich die Kläger erlaubt in der Bundesrepublik auf.

Die Vorschriften der §§ 19, 20 SGB II finden in Ermangelung eines von der Bundesrepublik abgegebenen innerstaatlich wirksamen Vorbehalts auch auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten Anwendung. Es fehlt an einem innerstaatlich wirksamen Vorbehalt im Sinne von Art 16 lit b EuFürsAbk (SG Berlin, Beschluss vom 25. April 2012, S 55 AS 9238/12). Nach dieser Vertragsregelung gilt: "Jeder Vertragschließende hat dem Generalsekretär des Europarates alle neuen Rechtsvorschriften mitzuteilen, die in Anhang I noch nicht aufgeführt sind. Gleichzeitig mit dieser Mitteilung kann der Vertragschließende Vorbehalte hinsichtlich der Anwendung dieser neuen Rechtsvorschriften auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragschließenden machen."

Zwar hat ausweislich der Geschäftsanweisung SGB II Nr. 8 vom 23.02.2012 der Bundesagentur für Arbeit die Bundesregierung nunmehr u. a. für Leistungen nach dem SGB II den folgenden Vorbehalt gegen das Europäische Fürsorgeabkommen erklärt: "Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland übernimmt keine Verpflichtung, die im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – in der jeweils geltenden Fassung vorgesehenen Leistungen an Staatsangehörige der übrigen Vertragsstaaten in gleicher Weise und unter den gleichen Bedingungen wie den eigenen Staatsangehörigen zuzuwenden."

Dieser Vorbehalt als völkervertragliche Regelung, die Gegenstände der Bundesgesetzgebung betrifft, ist jedoch weder durch ein entsprechendes Gesetz nach Art 59 Abs 2 Satz 1 GG in innerstaatliches Recht transformiert worden (vgl dazu SG Berlin, Beschluss vom 25. April 2012, S 55 AS 9238/12). Noch ist er auf der Grundlage eines bundesdeutschen Parlamentsgesetzes erklärt worden. Er ist auch nicht durch bundesdeutsches Parlamentsgesetz innerstaatlich wirksam gemacht worden. Zur Überzeugung der Kammer ist zur Wirksamkeit dieses Vorbehaltes jedoch ein bundesdeutsches Parlamentsgesetz erforderlich, zumindest im Sinne einer Ermächtigung für die Erklärung eines entsprechenden Vorbehalts (SG Berlin, Beschluss vom 25. April 2012, S 55 AS 9238/12), selbst wenn man aus Art 59 Abs 2 Satz 1 GG keine Notwendigkeit für eine parlamentarische Mitwirkung bei Erklärung eines Vorbehalts, die bestehende Belastungen der Bundesrepublik lediglich reduziert oder beseitigt, ableiten wollte.

Die ständige Rechtsprechung des BVerfG verlangt, dass wesentliche Regelungen, insbesondere solche mit Grundrechtsrelevanz, durch den parlamentarischen Gesetzgeber selbst getroffen werden. Dies hat das BVerfG auch in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 für den Bereich der existenzsichernden Leistungen betont (RdNr 136, Mogwitz in ZFSH/SGB 2011, 323, 329). Mit dem Vorbehalt sollen bestehende existenzsichernde Ansprüche, die dem aus Art 1 und 20 Abs 1 GG abzuleitenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums entspringen, entzogen bzw künftige Ansprüche versagt werden. Der vorliegende Fall einer Leistungsentziehung macht dies deutlich. Das Grundrecht ist ausweislich seiner Genese kein Grundrecht, das auf deutsche Staatsbürger beschränkt wäre. Die Würde des Menschen kommt auch Ausländern zu (BVerfG Urteil vom 18.07.2012, 1 BvL 10/10 u.a. - AsylBewLG). Auch das (wie Art 1 Abs 1 GG) unter dem Ewigkeitsgebot des Art 79 Abs 3 GG stehende Sozialstaatsgebot ist seinem das bundesdeutsche Staatswesen konstituierenden Charakter nach mit seinem besonderen Blick auf die soziale Gerechtigkeit nicht auf Mitbewohner "deutschen Bluts" beschränkt. Der Entzug gesetzlich auszugestaltender Grundrechtspositionen im Bereich der Existenzsicherung hat deshalb durch Parlamentsgesetz zu erfolgen, sofern dies mit dem Kerngehalt des Grundrechts noch vereinbar ist. Dies ist nicht geschehen. Eine parlamentsgesetzliche Ermächtigung der Bundesregierung zur Erklärung des Vorbehalts findet sich weder im Zustimmungsgesetz vom 15. Mai 1956 zum EuFürsAbk (BGBl II 1956 S. 563) noch im SGB II oder in einem anderen Gesetz. Art. 16 lit b EuFürsAbk stellt eine hinreichende Ermächtigung nicht dar.

Mangels gesetzlichen Charakters und gesetzlicher Grundlage des erklärten Vorbehalts besteht keine Bindung für das erkennende Gericht an diesen Vorbehalt (Art 20 Abs 3 und 97 Abs 1 GG). Er gilt deswegen auch nicht für die Verwaltung, die wegen Art 20 Abs 3 GG ebenfalls auf das Grundgesetz und die geltenden Gesetze, wozu auch Art 1 EuFürsAbk zählt, verpflichtet ist. Die Geschäftsanweisung SGB II Nr. 8 vom 23.02.2012 der Bundesagentur für Arbeit ist aufzuheben.

Unter diesen Umständen kommt es nicht darauf an, ob das EuFürsAbk für Unionsbürger gilt. Zweifel ergeben sich insofern aus Art 8 EU-VO 883/2004, wonach im Geltungsbereich der Verordnung an die Stelle aller zwischen den Mitgliedsstaaten geltenden Abkommen über soziale Sicherheit, die von den Mitgliedsstaaten vor dem Beginn der Anwendung der Verordnung geschlossen wurden, tritt, sofern die Abkommensregelungen nicht günstiger sind. Im Bereich der Leistungen nach dem SGB II als besondere beitragsunabhängige Geldleistungen sind die Vorschriften des EuFürsAbk für Unionsbürger nicht günstiger, weil ebenfalls ein striktes Gleichbehandlungsgebot gilt (s o). Weil es für die Entscheidung des Falles nicht darauf ankommt, muss nicht mehr geklärt werden, ob das EuFürsAbk im Sinne des Art 8 EU-VO 883/2004 ein Abkommen über soziale Sicherheit der Mitgliedsstaaten ist.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Erfolg der Rechtsverfolgung durch die Kläger.

Die Revision war wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zuzulassen (§§ 161 Abs 2, 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Angesichts der widersprüchlichen Entscheidungen der verschiedenen Senate allein des LSG Berlin-Brandenburg ist eine höchstrichterliche Klärung im unmittelbar grundrechtsrelevanten Bereich dringend erforderlich.
Rechtskraft
Aus
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