S 11 AL 3545/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 11 AL 3545/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Die Nahtlosigkeitsregelung findet keine Anwendung, wenn beide Versicherungsträger von einem objektiv vorhandenen Leistungsvermögen ausgehen und nur der Arbeitslose meint, sein Leistungsvermögen sei aufgehoben.
2. Aufgabe der Nahtlosigkeitsregelung ist es nicht, einen nahtlosen Leistungsbezug bis zum Abschluss eines rentenrechtlichen Verfahrens sicherzustellen.
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Bewilligung von Arbeitslosengeld I ab dem 30.07.2012 aufgrund der Nahtlosigkeitsregelung im Streit.

Die am 21.02.1958 geborene Klägerin (Kl.) war zuletzt bis zum 30.04.2012 als Sekretärin versicherungspflichtig beschäftigt. Seit dem 31.01.2011 war sie arbeitsunfähig und bezog bis zur Aussteuerung am 29.07.2012 Krankengeld. Ihren Antrag vom 26.04.2012 auf eine Rente wegen Erwerbsminderung lehnte die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV Bund) durch Bescheid vom 11.09.2012 ab, da sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt über ein arbeitstägliches Leistungsvermögen von mindestens sechs Stunden im Rahmen einer Fünf-Tage-Woche verfüge. Grundlage der Entscheidung der DRV Bund waren der Entlassungsbericht über eine vom 07.02.2012 bis zum 07.03.2012 durchgeführte stationäre Rehabilitationsmaßnahme (Entlassungsbericht vom 03.04.2012, Bl. 30 ff. der Gerichtsakte [d. GA.]) und ein internistisches Gutachten (Gutachten von Dr. S. vom 20.07.2012, Bl. 59 ff. d. GA.). Gegen den Bescheid der DRV Bund vom 11.09.2012 legte die Kl. am 19.09.2012 Widerspruch ein, ein Widerspruchsbescheid war zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch nicht ergangen.

Am 11.07.2012 meldete sich die Kl. mit Wirkung zum 30.07.2012 arbeitslos. Aus einem hierauf von der Beklagten (Bekl.) erstellten ärztlichen Gutachten (Gutachten von Dr. M. vom 24.07.2012, Bl. 37 der Verwaltungsakte [d. VA.]) ergab sich ein mindestens sechsstündiges arbeitstägliches Leistungsvermögen der Kl. auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und für ihre zuletzt ausgeübte Beschäftigung im Rahmen einer Fünf-Tage-Woche. Nachdem die Kl. gegenüber der Bekl. in Kenntnis der gutachterlichen Feststellungen erklärt hatte, sich wegen ihrer gesundheitlichen Einschränkungen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung zu stellen, lehnte die Bekl. durch Bescheid vom 16.08.2012 den Antrag auf Arbeitslosengeld I vom 06.08.2012 ab. Die Kl. sei nicht arbeitslos.

Mit dem hiergegen erhobenen Widerspruch begehrte die Kl. die Bewilligung von Arbeitslosengeld I aufgrund der Nahtlosigkeitsregelung, da sie aus gesundheitlichen Gründen (somatoforme Schmerzstörung, mittelgradige Depression, Migräne) dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehe. Während des Widerspruchsverfahrens erklärte sie auf Nachfrage der Bekl. nochmals, sie stelle sich auch dann dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung, wenn hierdurch das laufende Rentenverfahren nicht beeinträchtigt werde. Durch Widerspruchsbescheid vom 29.08.2012 wies die Bekl. den Widerspruch als unbegründet zurück. Die Kl. sei nicht arbeitslos, da sie sich dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stelle. Die Nahtlosigkeitsregelung sei aufgrund der gutachterlichen Feststellungen nicht anwendbar.

Am 28.09.2012 hat die Kl. Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben. Sie bekräftigt ihre Ausführungen aus dem Widerspruchsverfahren.

Die Kl. beantragt,

die Bekl. unter Aufhebung des Bescheids vom 16.08.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.08.2012 zu verurteilen, ihr ab dem 30.07.2012 Arbeitslosengeld I in gesetzlicher Höhe und Dauer zu bewilligen.

Die Bekl. beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist auf ihre Ausführungen im angefochtenen Bescheid.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der dem Gericht vorliegenden Verwaltungsakte der Bekl. sowie den der Gerichtsakte (S 11 AL 3545/12) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 1 S. 1 Var. 1 und Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist unbegründet. Der Bescheid der Bekl. vom 16.08.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.08.2012 ist rechtmäßig und verletzt die Kl. nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 S. 1 SGG). Zu Recht hat die Bekl. die Bewilligung von Arbeitslosengeld I ab dem 30.07.2012 abgelehnt.

1. Einen Anspruch auf Arbeitslosengeld I hat gemäß § 137 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III), wer (Nr. 1) arbeitslos ist, (Nr. 2) sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet und (Nr. 3) die Anwartschaftszeit erfüllt hat. Arbeitslos ist wiederum, wer den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht (§ 138 Abs. 1 Nr. 3 SGB III). Den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit steht der oder die Arbeitslose gemäß § 138 Abs. 5 SGB III dann zur Verfügung, wenn er u. a. (Nr. 1) eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende zumutbare Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für sie oder ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarktes ausüben kann und darf und (Nr. 3) bereit ist, jede Beschäftigung i. S. d. § 138 Abs. 5 Nr. 1 SGB III anzunehmen und auszuüben.

Gemessen an diesen gesetzlichen Vorgaben hat die Bekl. zu Recht durch Bescheid vom 16.08.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.08.2012 die Bewilligung von Arbeitslosengeld I abgelehnt. Die Kl. war weder objektiv (hierzu unter a) noch subjektiv verfügbar (hierzu unter b). Auch war der Anwendungsbereich der Nahtlosigkeitsregelung nicht eröffnet (hierzu unter c).

a) Die Kl. hat selbst ausgeführt, aufgrund ihrer Erkrankung (somatoforme Schmerzstörung, mittelgradige Depression, Migräne) nicht mindestens 15 Stunden wöchentlich eine zumutbare Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für sie in Betracht kommenden Arbeitsmarktes ausüben zu können. Sie ist mithin &8210; nach ihren Ausführungen &8210; nicht objektiv verfügbar i. S. d. § 138 Abs. 5 Nr. 1 SGB III.

b) Ebenso ist die Kl. auch nicht subjektiv verfügbar (§ 138 Abs. 5 Nr. 3 SGB III). Sie hat auf nochmalige Nachfrage der Bekl. während des Widerspruchsverfahrens erklärt, sich auch dann nicht den Vermittlungsbemühungen der Bekl. zur Verfügung zu stellen, wenn hiervon ihr Rentenantrag unberührt bliebe (Landessozialgericht [LSG] Hessen, Urteil vom 22.04.2002, L 10 AL 773/98, Rn. 32; Sozialgericht [SG] Berlin, Urteil vom 14.09.2001, S 58 AL 2107/01, Rn. 19 &8210; jeweils nach juris).

c) Zuletzt ergibt sich auch aus der Nahtlosigkeitsregelung kein Anspruch der Kl. auf Arbeitslosengeld I ab dem 30.07.2012.

Gemäß § 145 Abs. 1 S. 1 SGB III hat Anspruch auf Arbeitslosengeld I auch eine Person, die alleine deshalb nicht arbeitslos ist, weil sie wegen einer mehr als sechsmonatigen Minderung ihrer Leistungsfähigkeit eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung nicht unter den üblichen Bedingungen ausüben kann, die auf dem für sie in Betracht kommenden Arbeitsmarkt ohne Berücksichtigung der Minderung der Leistungsfähigkeit üblich sind, wenn eine verminderte Erwerbsfähigkeit i. S. d. gesetzlichen Rentenversicherung nicht festgestellt worden ist.

§ 145 Abs. 1 S. 1 SGB III ist vorliegend nicht anwendbar. Sinn und Zweck desselben sind die Fiktion des objektiven gesundheitlichen Leistungsvermögens des Arbeitslosen bis zum Eintritt des in der Rentenversicherung versicherten Risikos der Erwerbsminderung. Diese Fiktion hindert die Arbeitsverwaltung daran, einen Anspruch auf Arbeitslosengeld mit der Begründung zu verneinen, der Arbeitslose sei wegen nicht nur vorübergehenden Einschränkungen der gesundheitlichen Leistungsfähigkeit objektiv nicht verfügbar. Die "Sperrwirkung" der Nahtlosigkeitsregelung entfaltet sich allein im Rahmen der objektiven Verfügbarkeit und verhindert, dass Versicherungsschutz aus beiden Versicherungszweigen deshalb nicht gewährt wird, weil die Bundesanstalt für Arbeit und der Rentenversicherungsträger die objektive Leistungsfähigkeit unterschiedlich beurteilen. Dagegen findet § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB III keine Anwendung, wenn beide Versicherungsträger von einem objektiv vorhandenen Leistungsvermögen ausgehen und nur der Arbeitslose meint, sein Leistungsvermögen sei aufgehoben. Aufgabe der Nahtlosigkeitsregelung ist es nicht, einen nahtlosen Leistungsbezug bis zum Abschluss eines rentenrechtlichen Verfahrens sicherzustellen (LSG Berlin, Urteil vom 12.06.2003, L 14 AL 2/01, Rn. 25 f.; LSG Bayern, Urteil vom 15.12.2011, L 9 AL 66/09, Rn. 37 ff. &8210; jeweils nach juris).

Darüber hinaus kann durch § 145 Abs. 1 S. 1 SGB III, wenn sein Anwendungsbereich eröffnet ist, nur die objektive und nicht die subjektive Verfügbarkeit fingiert werden (LSG Bayern, a. a. O., Rn. 48, Brand, in: Brand, SGB III, 6. Aufl. 2012, § 145 SGB III, Rn. 2).

Nach alledem ist der Bescheid der Bekl. vom 16.08.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.08.2012 rechtmäßig und verletzt die Kl. nicht in ihren Rechten. Die Kl. hat keinen Anspruch auf die Bewilligung von Arbeitslosengeld I ab dem 30.07.2012. Die Klage war demgemäß abzuweisen.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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