L 7 AS 686/13 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 7 AS 805/13 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 686/13 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 21.03.2013 geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller ab dem 11.03.2013 bis zur bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 30.09.2013 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in beiden Rechtszügen.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Der im Jahr 1958 in Viersen geborene Antragsteller ist italienischer Staatsangehöriger. Er lebte zunächst in der Bundesrepublik Deutschland und arbeitete als Kfz-Mechaniker sowie als Maler und Lackierer. Nach einem etwa 26-jährigen Aufenthalt in Spanien kam er im November 2012 nach Berlin und am 13.01.2013 zurück nach Viersen, wo sein Vater lebt. Da sein Vater ihm keine Unterkunft gewähren konnte, war der Antragsteller obdachlos. Die Stadt Viersen nahm ihn ausweislich einer Mitteilung vom 22.02.2013 am 17.02.2013 in der Städtischen Übernachtungsstelle Viersen auf. Der Kläger wird ausweislich der Auskunft der Stadt Viersen und des SKM Viersen mit Lebensmitteln oder geringen Barbeträgen unterstützt.

Der Antragsgegner lehnte mit Bescheid vom 12.02.2013 den Antrag auf Gewährung von Grundsicherung ab und verwies zur Begründung auf § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, wonach der Antragsteller, der sich ausschließlich zum Zwecke der Arbeitsuche in Deutschland aufhalte, keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II habe. Ausnahmetatbestände seien nicht erkennbar. Die gegenüber dem Jobcenter Berlin angegebene Daueraufenthaltsgenehmigung-EU sei verfallen, da sich der Antragsteller 26 Jahre und damit länger als zwei Jahre ununterbrochen im Ausland aufgehalten habe. Gegen die Ablehnung legte der Antragsteller Widerspruch ein.

Am 11.03.2013 beantragte der Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung bei dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf. ein. Den Antrag des Antragstellers, den Antragsgegner einstweilen zu verpflichten, ihm vorläufig "die nach dem SGB II vorgesehenen Leistungen" zu gewähren, hat das SG mit Beschluss vom 21.03.2013 zurückgewiesen. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, der Antragsteller sei nach § 7 Abs.1 S. 2 Nr. 2 SGB II von der Gewährung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II ausgeschlossen, da er sich lediglich zum Zwecke der Arbeitsuche in Deutschland aufhalte. Bedenken hinsichtlich der Anwendbarkeit des § 7 Abs.1 S. 2 Nr. 2 SGB II und dessen Europarechtskonformität (insbesondere im Hinblick auf Art. 4 VO 883/2004 (EG) und auf Art. 24 Richtlinie 2004/38/EG) sowie hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des von der Bundesrepublik am 19.12.2011 unter Berufung auf Art. 16 b des Europäischen Fürsorgeabkommens erklärten Vorbehaltes bestünden nicht. Daher sei auch nicht im Rahmen einer Folgenabwägung, sondern abschließend zu entscheiden, und der Antrag auf Gewährung vorläufiger Leistungen zurückzuweisen.

Mit der am 18.04.2013 eingelegten Beschwerde hat der Antragsteller schriftsätzlich sinngemäß beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 21.03.2013 zu ändern und dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt schriftsätzlich,

die Beschwerde zurückzuweisen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufigen Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, Az.: 1 BvR 569/05, BVerfGK 5, 237 = NVwZ 2005, Seite 927).

Unter Berücksichtigung des existenzsichernden Charakters der Leistungen nach dem SGB II und der nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei nicht möglicher abschließender Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen Folgenabwägung ist der Beschluss des SG Düsseldorf vom 21.03.2013 zu ändern und der Erlass einer einstweiligen Anordnung gerechtfertigt.

Bedenken hinsichtlich der Hilfebedürftigkeit des Antragstellers bestehen nicht. Der Antragsgegner hat die Hilfebedürftigkeit auch nicht in Frage gestellt. Der Antragsteller wird von seinem in Viersen lebenden Vater nach Aktenlage nicht unterstützt. Zudem hat die Stadt Viersen den Antragsteller wegen Obdachlosigkeit in der Städtischen Übernach-tungsstelle Viersen untergebracht. Des Weiteren wird er vom SKM mit geringen Barmitteln versorgt.

Der Antragsteller hat auch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik (§ 7 Absatz 1 Nr. 4 SGB II). Die Frage des gewöhnlichen Aufenthaltes richtet sich nach § 30 SGB I. Den gewöhnlichen Aufenthalt hat hiernach eine Person dort, wo sie sich nach Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass sie dort nicht nur vorübergehend verweilen möchte. Der gewöhnliche Aufenthalt setzt damit in objektiver Hinsicht den faktischen Aufenthalt an einem Ort und darüber hinaus in subjektiver Hinsicht den Willen voraus, sich an diesem Ort zukunftsoffen aufzuhalten. Erforderlich ist also eine Prognose, die anhand objektiv nachvollziehbarer Tatsachen und nach außen manifestierter subjektiver Umstände zu treffen ist (vgl. Schlegel in JurisPK, 2. Auflage, § 30 SGB I Rn. 34 ff). Jedenfalls für die im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotene Prüfungsdichte kann dahingestellt bleiben, ob der Begriff des gewöhnlichen Aufenthaltes "bereichsspezifisch" auszulegen ist (so LSG NRW, Beschluss vom 18.04.2013. L 19 AS 362/13 B ER). Denn bei summarischer Prüfung kann festgestellt werden, dass der Antragsteller sich tatsächlich in der Bundesrepublik aufhält, und auch keine Gründe ersichtlich oder vorgetragen worden sind, die für eine zeitnahe Beendigung seines Aufenthaltes in Deutschland sprechen würden. Der Antragsteller ist als "Alt-EU-Bürger" freizügigkeitsberechtigt (§§ 1 ff FreizügG/EU). Gründe, die zu einer Ausreiseverpflichtung des Antragstellers führen könnten, sind nicht ersichtlich. Der Aufenthalt in Deutschland ist damit bei der gebotenen summarischen Prüfung zukunftsoffen im Sinne des § 30 SGB I.

Der Antragsteller ist auch erwerbsfähig im Sinne des § 8 Abs. 2 SGB II, da er gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU als in der Bundesrepublik arbeitsuchender Unionsbürger freizügigkeitsberechtigt ist. Er ist auch nicht nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen, weil sein Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland länger als drei Monate währt.

Bei der Frage, ob der Antragsteller gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen ist, weil er sich allein zum Zwecke der Arbeitsuche in Deutschland aufhält, ob das europäische Fürsorgeabkommen (EFA) durch den von der Bundesrepublik erklärten Vorbehalt nicht anwendbar ist, oder ob § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II aufgrund der unmittelbaren Anwendbarkeit des Art. 4 VO (EG) 883/2004 hinter diese zurücktritt, handelt es sich um umstrittene Rechtsfragen, die in Rechtsprechung und Literatur bisher nicht einheitlich beantwortet sind (vgl. etwa entgegen der Anwendbarkeit des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.05.2012 – L 19 AS 794/12 B ER unter Berufung auf ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages; SG Berlin, Beschluss vom 08.5.2012 – S 91 AS 8804/12 ER; LSG NRW, Beschluss vom 02.10.2012 - L 19 AS 1393/12 B ER; Schreiber in NZS 2012, S. 647 ff.; für eine Anwendbarkeit des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II: die von dem Antragsgegner zitierte Entscheidung des SG Berlin, Beschluss vom 11.6.2012 – S 205 AS 11266/12 ER und vom 14.5.2012 - S 124 AS 7164/12 ER; LSG Berlin Brandenburg, Beschluss vom 21.6.2012 - L 20 AS 1322/12 B ER und vom 02.8.2012 – L 5 AS 1297/12 B ER; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.05.2012 – L 3 AS 1477/11).

Aufgrund der Komplexität der Rechtsfragen kann die Rechtslage in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend beurteilt werden, so dass anhand einer Folgenabwägung, unter Berücksichtigung des durch Art. 1 Grundgesetz geschützten Existenzminimums zu entscheiden ist (BVerfG ). Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05). Die Folgenabwägung fällt zugunsten des Antragstellers aus. Ohne die beantragten Leistungen drohen existentielle Nachteile, die er aus eigener Kraft nicht mehr abwenden kann, da der Lebensunterhalt des Antragstellers nicht gesichert ist. Demgegenüber hat der Antragsgegner allein finanzielle Nachteile durch die vorläufige Auszahlung der Leistungen. Insbesondere ist der Antragsteller zur Sicherstellung des Existenzminimums wegen der auch diesbezüglich bestehenden klärungsbedürftigen Rechtsfragen auch nicht auf die Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII zu verweisen (LSG NRW, Beschluss vom 20.12.2012 - L 7 AS 2138/12 B ER).

Der Antragsteller hat Anspruch auf die vorläufige Leistungsgewährung sowohl in Höhe des Regelbedarfs nach § 20 SGB II als auch auf die Unterkunftskosten nach § 22 SGB II (vgl. hierzu bereits LSG NRW, Beschluss vom 21.05.2013 – L 7 AS 553/13 B ER), da der Antragsteller bereits durch die Stadt Viersen in einer städtischen Übernachtungsstelle untergebracht worden ist, um die Obdachlosigkeit zu vermeiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

Der Beschluss ist mit der Beschwerde nicht angreifbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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