L 12 AS 283/13

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 38 AS 2920/11
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 12 AS 283/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 14 AS 391/13 B
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 12.12.2012 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Vorliegend ist streitig, ob der Kläger zur Erstattung der ihm gewährten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II verpflichtet ist.

Der im streitigen Zeitraum 19 bzw. 20 Jahre alte Kläger nahm zum 01.10.2010 bei der Firma I Industriemontage, geleitet durch den Zeugen I, eine Ausbildung auf. Am 07.12.2010 mahnte der Zeuge den Kläger wegen mehrfacher Aufforderung, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen und unentschuldigten Fehlens ab. Am 15.12.2010 erhielt der Kläger die Kündigung des Ausbildungsvertrages in der Probezeit zum 15.12.2010. Ein näherer Kündigungsgrund wurde in der Kündigung nicht genannt.

Der Kläger stellte am 11.01.2011 einen Antrag auf Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Er erhielt vom 01.01.2011 bis 31.03.2011, 04.04.2011 bis 30.04.2011 und 01.05.2011 bis 30.06.2011 sowie 01.07.2011 bis 31.12.2011 Leistungen seitens des Beklagten. Mit Schreiben vom 05.09.2011 teilte der Beklagte dem Kläger mit, dass er einen Ersatzanspruch gegenüber ihm geltend machen wolle, und er eine Summe von 850,05 EUR zu erstatten habe.

Mit Bescheid vom 09.11.2011 stellte der Beklagte einen Erstattungsanspruch nach § 34 SGB II fest. Die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen seien durch den Kläger zumindest grob fahrlässig herbeigeführt worden. Er habe dazu beigetragen, dass ihm in der Probezeit sein Ausbildungsplatz fristlos gekündigt worden und er auf den Bezug von Leistungen nach dem SGB II angewiesen sei. Mit Bescheid vom selben Tag setzte er den Erstattungsbetrag auf 850,05 EUR fest. Dies entspräche den gezahlten Leistungen vom 01.01. bis 31.08.2011. Die eingelegten Widersprüche gegen die beiden Bescheide wurden mit Widerspruchsbescheiden vom 21.11.2011 jeweils als unbegründet zurückgewiesen. Der Verlust des Arbeitsplatzes des Klägers sei kausal gewesen für die Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit. Sein Verhalten sei als grob fahrlässig zu bewerten. Der Kläger habe erkennen können, dass er bei Kündigung seines Arbeitsverhältnisses hilfebedürftig werden würde. Das zur Kündigung führende Verhalten stelle eine Sorgfaltspflichtverletzung ungewöhnlich hohen Ausmaßes dar. Dass eine Kündigung drohe, habe der Kläger erkennen müssen, da er vom Arbeitgeber abgemahnt worden sei.

Der Kläger hat am 14.12.2011 Klage erhoben und wendet sich gegen die Bescheide vom 09.11.2011, mit denen seine Ersatzpflicht festgestellt und die Erstattungssumme für den Zeitraum 01.01. bis 31.08.2011 festgesetzt wurde. Die Voraussetzungen für eine Erstattungspflicht gemäß § 34 SGB II lägen nicht vor. Er habe nicht grob fahrlässig eine fristlose Kündigung während der Probezeit provoziert. Hintergrund der Kündigung sei lediglich eine Krankmeldung des Klägers gewesen. Er habe seine ärztlich bestätigte Arbeitsunfähigkeit aufgrund seiner Erkrankung telefonisch seinem Arbeitgeber mitgeteilt. Noch am Folgetag habe er allerdings die Kündigung des Arbeitgebers erhalten. Es sei auch zu berücksichtigen, dass die Kündigung in der Probezeit erfolgt sei, da der Arbeitgeber des Klägers Angst gehabt habe, eine Kündigung zum späteren Zeitpunkt nicht mehr ohne größere Schwierigkeiten durchführen zu können. Da insofern die Kündigung in der Probezeit ohne Nennung weiterer Gründe erfolgen könnte, sei es nicht hinnehmbar, dass dieses eine Ersatzpflicht des Klägers begründe.

Der Beklagte hat ausgeführt, es sei zwar richtig, dass dem Kläger in der Probezeit gekündigt worden sei. Allerdings beruhe diese Kündigung auf dem Verhalten des Klägers, der insofern die Kündigung provoziert habe. Der Grund der Kündigung hätte nicht lediglich in der Krankschreibung gelegen. Der Kläger habe sich wiederholt trotz mehrfacher Ansprache durch seinen Vorgesetzten Arbeitsaufträgen entzogen, sich widersetzt und den Betriebsablauf sowie Arbeitsabläufe soweit gestört, dass die weiteren Mitarbeiter des Unternehmens nicht länger bereit gewesen seien, mit dem Kläger zusammenzuarbeiten. So habe der Zeuge I bei einer Befragung durch die Behörde als Gründe für die Kündigung ungebührliches Verhalten des Klägers (Unpünktlichkeit, Versäumen des Schulunterrichts sowie unsauberes oder gar nicht Ausführen von Arbeitsaufgaben) angegeben.

Das Sozialgericht hat in einem weiteren Verfahren (S 38 AS 2162/11), den ehemaligen Arbeitgeber I sowie den Vater des Klägers als Zeugen vernommen. Das Gericht hat die in diesem Verfahren aufgenommenen Zeugenaussagen im vorliegenden Verfahren als Urkundenbeweis verwertet. Auf die Einzelheiten wird Bezug genommen. Mit Urteil vom 12.12.2012 hat es der Klage stattgegeben. Die angefochtenen Bescheide seien rechtswidrig. Ersatzansprüche des Beklagten gegenüber dem Kläger nach § 34 SGB II bestünden nicht. Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB II sei, wer nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach diesem Buch an sich oder an Personen, die mit ihr oder ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat, zum Ersatz der deswegen gezahlten Leistungen verpflichtet. Voraussetzung für die Entstehung des Anspruchs sei, dass das Verhalten des Leistungsempfängers als sozialwidrig anzusehen sei. Der Betroffene müsse sich der Sozialwidrigkeit seines Verhaltens bewusst oder grob fahrlässig nicht bewusst sein. Dass der Kläger seine Hilfebedürftigkeit vorsätzlich herbeigeführt hätte, habe das Sozialgericht unter Verwertung der Aussage des Zeugen I und den Angaben des Klägers nicht feststellen können. Auch bestünden Zweifel daran, dass der Kläger, unter Berücksichtigung seiner Urteils- und Kritikfähigkeit und seines Einsichtsvermögens, hätte erkennen können und müssen, dass sein Verhalten zur Kündigung führe. Ferner bliebe offen, ob das Verhalten des Klägers als objektiv sozialwidrig einzustufen sei. Zwar sei die Kammer nach dem durchgeführten Verhandlungstermin und unter Berücksichtigung der Aussage des Zeugen I zu dem Schluss gekommen, dass die Kündigung des Klägers nicht allein aus von ihm nicht beeinflussbaren Gründen in der Probezeit erfolgt sei, sondern auch durch das Verhalten des Klägers begründet worden sei. Der Zeuge I habe ausgeführt, dass er dem Kläger aufgrund seines verspäteten Erscheinens beim Arbeitsplatz und bei der Schule und insbesondere wegen den Auseinandersetzungen mit weiteren Mitarbeitern in der Firma gekündigt habe. Soweit man die Angaben des Klägers zu Grunde legen würde, bestünden aber schon Zweifel, ob es sich bei diesem Verhalten um objektiv zu missbilligendes und verwerfliches Verhalten handele. Der Kläger habe angegeben, sich lediglich geringfügig verspätet zu haben und es sei zu Streitigkeiten nur mit einem Mitarbeiter gekommen, der ihn unflätig beschimpft habe, wogegen er sich gewehrt habe. Hierbei habe es sich kaum um eine in hohem Maße zu missbilligende Motivation handeln dürfen. Dies alles könne jedoch dahin stehen, da der Kläger zur Überzeugung der Kammer bezüglich der Sozialwidrigkeit seines Verhaltens, soweit man von einer solchen ausgehe, weder vorsätzlich noch grob fahrlässig handeln würde. Es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger vorsätzlich sozialwidrig gehandelt habe. Nach der bereits aufgeführten Einlassung des Klägers sei die Kammer der Auffassung, dass der Kläger ohne Bewusstsein über den möglichen Unrechtsgehalt seines Verhaltens gehandelt habe. Die Kammer habe aber auch ein grob fahrlässiges Handeln des Klägers bezüglich der Sozialwidrigkeit nicht feststellen können. Die erforderliche Sorgfalt sei in besonders schwerem Maße verletzt, wer schon ganz einfache, naheliegende Überlegungen nicht anstelle und daher nicht beachte, was im gegebenen Fall jedem einleuchten müsse. Abzustellen sei dabei auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit und das Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie die besonderen Umstände des Falles. Die Kammer sei davon überzeugt, dass der Kläger nach seiner Persönlichkeitsstruktur und seinem individuellen Erkenntnishorizont nicht hätte erkennen können, dass sein Verhalten in objektiv zu missbilligender Weise zur Kündigung und zum Leistungsbezug führen würde. Die Kammer sei in der mündlichen Verhandlung zu dem Eindruck gelangt, dass es sich bei dem Kläger um einen impulsiven jungen Mann handelt, dessen Verhalten sehr stark emotional und weniger rational geprägt sei, insbesondere, wenn dieser der Auffassung sei, ungerecht behandelt zu werden. Dieser Eindruck werde durch die Aussagen der Zeugen I und des Vaters des Klägers gedeckt. Der Zeuge I habe über den Kläger angegeben, dass der Kläger sich wie ein 14-jähriger Verhalten habe und der Vater des Klägers habe ausgesagt, dass der Kläger nicht klein beigäbe, wenn er davon ausginge, im Recht zu sein. Überdies habe das Sozialgericht erhebliche Zweifel, ob die Geltendmachung der Forderung nicht eine Härte im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 3 SGB II darstellen würde. Insofern sei zu berücksichtigen gewesen, dass der Kläger mittlerweile wieder lediglich von SGB II-Leistungen lebe und sich zuvor in einem Ausbildungsverhältnis befunden habe, sein Einkommen damit auch in dieser Zeit begrenzt gewesen sei. Es sei zweifelhaft, ob die Geltendmachung eines Erstattungsanspruches überhaupt zumutbar gewesen sei.

Das Urteil ist dem Beklagten am 18.01.2013 zugestellt worden. Am 13.02.2013 hat der Beklagte hiergegen Berufung eingelegt. Der Kläger habe vorsätzlich, zumindest aber grob fahrlässig die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II an sich ohne wichtigen Grund herbeigeführt. Zwischenzeitlich sei dem Kläger zum 01.11.2012 in einem anderen Ausbildungsverhältnis gekündigt worden. Auch hieraus ergebe sich, dass der Berufungsbeklagte weiterhin nicht gewillt zu sein scheine, sich dauerhaft mit seinem Arbeitsumfeld zu arrangieren. Insbesondere spätestens nach Erhalt der schriftlichen Abmahnung hätte dem Kläger klar sein müssen, dass er durch sein Verhalten seinen Ausbildungsplatz gefährde und seine Hilfebedürftigkeit herbeiführe. Das Gericht sei ohne Gutachten und lediglich im Rahmen der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gekommen, dass aufgrund der Persönlichkeitsstruktur und des individuellen Erkenntnishorizonts ein vorsätzliches oder grob fahrlässiges sozialwidriges Verhalten des Klägers nicht vorläge. Auf die Einzelheiten der Berufungsbegründung vom 20.02.2013 wird Bezug genommen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil vom 12.12.2012 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Der Kläger erklärt, der Beklagte habe sich mit dem erstinstanzlichen Urteil nicht auseinandergesetzt. Der Beklagte verkenne die Voraussetzungen des § 34 SGB II. Für einen Erstattungsanspruch sei erforderlich, dass der Kläger vorsätzlich die Beendigung seines Beschäftigungsverhältnisses herbeigeführt habe, um Leistungen nach dem SGB II zu beziehen.

Der Senat hat die Beteiligten mit Schreiben vom 31.05.2010 darauf hingewiesen, dass er die Berufung einstimmig für unbegründet hält, und zu einer Entscheidung nach § 153 Abs. 4 SGG angehört.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte durch Beschluss nach § 153 Abs. 4 SGG entscheiden, da er die Berufung einstimmig für unbegründet und deshalb eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind hierzu angehört worden.

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Zur Begründung nimmt der Senat zunächst gemäß § 153 Abs. 2 SGG Bezug auf die Erwägungen der erstinstanzlichen Entscheidung, die er sich nach eigener Prüfung der Sach- und Rechtslage im Wesentlichen zu Eigen macht.

Auch unter Berücksichtigung des Berufungsvorbringens des Beklagten ergibt sich keine andere Entscheidung.

Der Beklagte hat keinen Anspruch Ersatzanspruch gegenüber dem Kläger nach § 34 SGB II. Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB II ist, wer nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach diesem Buch an sich oder an Personen, die mit ihr oder ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat, zum Ersatz der deswegen gezahlten Leistungen verpflichtet. Voraussetzung für die Entstehung Anspruchs ist, dass das Verhalten des Leistungsempfängers als sozialwidrig anzusehen sei. Sozialwidrig ist ein Verhalten, wenn das Tun oder Unterlassen desjenigen, der zum Ersatz verpflichtet werden soll, objektiv zu missbilligen ist und er dadurch sich oder Mitglieder seiner Bedarfsgemeinschaft in die Lage gebracht hat, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Anspruch nehmen zu müssen. Ausreichend ist aber nicht jedes verwerfliche Verhalten. Dass der Kläger seine Hilfebedürftigkeit vorsätzlich herbeigeführt hat, hat das Sozialgericht unter Verwertung der Aussage des Zeugen I und den Angaben des Klägers zu Recht nicht feststellen können.

Nach Würdigung aller Gesamtumstände bestehen für den Senat schon Zweifel, ob es sich bei dem Verhalten des Klägers überhaupt um ein objektiv zu missbilligendes und verwerfliches Verhalten handelt. Denn der Kläger hat vor dem Sozialgericht angegeben, sich nur geringfügig verspätet zu haben und es sei zu Streitigkeiten nur mit einem Mitarbeiter gekommen; hiergeben habe er sich gewehrt. Insofern handelt es sich nach Überzeugung des Senats hierbei nicht um eine in hohem Maße zu missbilligende Motivation. Auch steht nicht fest, dass der Kläger sich objektiv sozialwidrig verhalten hat. Vorsätzlich handelt eine Person dann, wenn sie wissentlich und willentlich eine Leistungserbringung verursacht oder diesen Erfolg zwar nicht anstrebt, jedoch als möglich erachtet und billigend in Kauf nimmt und dabei positive Kenntnis bezüglich der Sozialwidrigkeit ihres Handelns hat. Der Begriff der groben Fahrlässigkeit sei in § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X definiert. Danach liegt grobe Fahrlässigkeit vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Auch hierfür sieht der Senat keine Anhaltspunkte. Die Aussagen des Klägers und der Zeugen stimmen überein. Danach handelt es sich bei dem Kläger um einen impulsiven jungen Mann, dessen Verhalten insbesondere dann stark emotional und weniger rational geprägt ist, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt.

Im Übrigen weist der Senat darauf hin, dass der von dem Beklagten erwähnte Umstand, dass der Kläger im Rahmen eines anderen Ausbildungsverhältnisses mittlerweile erneut gekündigt worden ist, er rechtlich nicht maßgebend ist und gegebenenfalls in einem anderen Zusammenhang überprüft werden muss.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war im Sinne des § 160 Abs. 2 SGG entgegen dem Antrag des Beklagten nicht zuzulassen, da hierfür keine Gründe von dem Beklagten genannt worden und auch für den Senat nicht ersichtlich sind.
Rechtskraft
Aus
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