L 3 AS 18/12 B PKH

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
3
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 28 AS 1990/11
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 3 AS 18/12 B PKH
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Wenn sich ein Leistungsträger bei der Rückabwicklung einer vorläufigen Entscheidung fälschlicherweise auf §§ 45 oder 48 SGB X oder § 50 SGB X beruft, ist dies in der Regel unschädlich, da es sich bei der Angabe der Rechtsgrundlage nur um ein (dann fehlerhaftes) Begründungselement handelt, was sich bei gebundenen Entscheidungen nicht auswirkt.

2. Eine unerlaubte Ortsabwesenheit ist nicht ab dem Tag einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit deswegen unbeachtlich, weil ab diesem Zeitpunkt der Hilfebedürftige nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelbar war. Denn maßgebend für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4a SGB II ist der Verstoß gegen die Pflicht zur Erreichbarkeit. Erst wenn die Erreichbarkeit wiederhergestellt ist, entfällt die Ausschlussregelung aus § 7 Abs. 4a SGB II.
I. Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 28. November 2011 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Kläger wendet sich mit der Beschwerde gegen die Ablehnung seines Antrages auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren.

Die ARGE Z L (im Folgenden: ARGE) bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 9. September 2009 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 15. Oktober 2009, 24. November 2009, 2. Dezember 2009 und 19. Januar 2010 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) für die Zeit vom 1. Oktober 2009 bis 31. März 2010.

Am 21. Januar 2010 beantragte der Kläger die Zustimmung zu seiner Ortsabwesenheit für einen Monat. Die ARGE erteilte die Zustimmung für den Zeitraum vom 25. Januar 2010 bis zum 14. Februar 2010. Unter Aushändigung einer Rechtsfolgenbelehrung wurde der 18. Februar 2010 als neuer Vorsprachetermin festgelegt. Zu diesem Termin erschien der Kläger nicht.

Mit Bescheid vom 18. Februar 2010 hob die ARGE die Leistungsbewilligung für die Zeit ab 15. Februar 2010 wegen unerlaubter Ortsabwesenheit ganz auf. Nach vorheriger Anhörung mit Schreiben vom 18. Februar 2010 erließ die ARGE am 11. März 2010 einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid. In diesem wurde die Leistungsbewilligung für die Zeit vom 15. Februar 2010 bis zum 28. Februar 2010 ganz aufgehoben und die Erstattung eines Betrages von 268,97 EUR gefordert.

Die in der Verwaltungsakte befindliche Kopie von Seite 10 des Visums trägt den Einreisestempel mit Datum 16. Januar 2010 und den Ausreisestempel mit Datum 18. März 2010.

Mit zwei Schriftsätzen vom 12. April 2010 legte der Klägerbevollmächtigte Widerspruch gegen die Bescheid vom 18. Februar 2010 und 11. März 2010 ein, im ersten Fall mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Er trug vor, dass der Kläger den Bescheid vom 18. Februar 2010 am 19. März 2010 erhalten habe. Erst zu diesem Zeitpunkt sei er von seiner Reise nach Vietnam, seinem Herkunftsland, zurückgekehrt. Die Rückkehr habe sich auf Grund einer Erkrankung am Urlaubsort um drei Wochen verzögert. Der Klägerbevollmächtigte legte zwei Kopien von "Bescheinigungen für Krankschreibung" in vietnamesischer Sprache und zwei Übersetzungen vor. Die Krankschreibungen betreffen die Zeiten vom 19. Februar 2010 bis zum 28. Februar 2010 sowie vom 1. März 2010 bis zum 10. März 2010. Als Krankheitsgrund war "Ausdehnung des Sehnenbandes des linken Fußgelenkes" angegeben. Ferner legte er einen Krankenschein in vietnamesischer Sprache und eine Übersetzung vor. Unter dem Untersuchungsdatum 15. März 2010 sind Hustenanfall und leichtes Fieber als klinische Symptome und Entzündung des oberen Atemweges als Diagnose festgestellt.

Im Schriftsatz vom 15. Mai 2010 machte der Klägerbevollmächtigte unter anderem geltend, dass es für die Kürzung der Ortsabwesenheit von den gewünschten vier Wochen auf 21 Tage ganz offensichtlich keine zwingenden Gründe gebe. Für den Vorsprachetermin am 18. Februar 2010 seien keine Gründe genannt. Es müsse vermutet werden, dass das Ermessen nicht richtig ausgeübt worden sei und eine gegebenenfalls sogar schikanös einzustufende Verfahrensweise zu sehen sei. Der Kläger sei vor Ort erkrankt. Da in Vietnam die Behörden und medizinischen Einrichtungen nicht wie in Deutschland funktionieren würden, sei der Kläger zunächst gezwungen gewesen, sich von Familienangehörigen pflegen zu lassen. Diese hätten auch versucht, ärztliche Hilfe zu organisieren und Geld zur Bezahlung des Arztes zu sammeln. Die Erkrankung sei bereits Tage vor der Abreise eingetreten. Es erübrige sich wohl, die Familienangehörigen als Zeugen anzugeben, da deren Vernehmung in Vietnam wohl unverhältnismäßig sei. Der Krankenschein vom 19. Februar 2010 indiziere die Zeit der vorherigen Erkrankung. Auf die Aufforderung der ARGE, Nachweise über die Buchung des Rückfluges oder eine etwaige Umbuchung wegen der Erkrankung vorzulegen, erklärte der Klägerbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 30. August 2010, dass die ursprüngliche Buchung oder das ursprüngliche Ticket nicht vorliege, da es zur Umbuchung abgegeben worden und auch im Nachhinein nicht erbringlich sei. Möglicherweise sei dies vor Ort in Vietnam möglich, wozu allerdings noch einmal dahingereist werden müsse.

Der zum 1. Januar 2011 an die Stelle der ARGE getretene Beklagte, das Jobcenter Z , wies den Widerspruch gegen den Bescheid vom 18. Februar 2010 mit Widerspruchsbescheid vom 30. März 2011, zurück. Der Vortrag, die rechtzeitige Rückkehr sei aus Krankheitsgründen nicht möglich gewesen, könne auf Grund der Umstände und der vorgelegten Unterlagen nur als Schutzbehauptung gewertet werden.

Mit weiterem Widerspruchsbescheid vom 31. März 2011 wies er den Widerspruch gegen den Bescheid vom 11. März 2010 zurück. Die im Zeitraum vom 15. Februar 2010 bis 28. Februar 2010 zu Unrecht gezahlten Leistungen seien zu erstatten. Die Aufhebungsentscheidung sei wegen der vorangegangenen Entscheidung im Bescheid vom 18. Februar 2010 entbehrlich gewesen.

Der Klägerbevollmächtigte hat am 2. Mai 2011, einem Montag, zwei Klagen erhoben. Das Verfahren mit dem Az. S 28 AS 1990/11 hatte eine Anfechtungsklage gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 11. März 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. März 2011, das Verfahren mit dem Az. S 28 AS 1991/11 hatte eine Anfechtungs- und Leistungsklage gegen den Aufhebungsbescheid vom 18. Februar 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. März 2011 zum Gegenstand. Das Sozialgericht hat beide Verfahren mit Beschluss vom 28. November 2011 verbunden und unter dem Az. S 28 AS 1990/11 weitergeführt.

Einen ersten Prozesskostenhilfeantrag hat das Sozialgericht wegen fehlender Unterlagen mit Beschluss vom 16. Juni 2011 abgelehnt. Den zweiten Prozesskostenhilfeantrag hat das Sozialgericht mit dem hier streitigen Beschluss vom 28. November 2011 wegen fehlender hinreichender Erfolgsaussicht abgelehnt. Der Kläger habe seine unerlaubte Ortsabwesenheit selbst zu vertreten.

Der Klägerbevollmächtigte hat am 28. Dezember 2011 Beschwerde gegen die Ablehnung des Prozesskostenhilfeantrages eingelegt, ohne einen bestimmten Antrag zu stellen. Er hat sich auf Ausführungen des Sozialgerichtes im Klage abweisenden Gerichtsbescheid vom 1. Dezember 2011 bezogen. Darin hat das Sozialgericht im Wesentlichen ausgeführt, dass die Aufhebung der Leistungsbewilligung für den Zeitraum vom 15. Februar 2010 bis zum 28. Februar 2010 und die Erstattungsforderung des Betrages von 268,87 EUR rechtmäßig sei, weil der Kläger verschuldet ortsabwesend gewesen sei. Das früheste Attest bescheinige eine Erkrankung ab dem 19. Februar 2010. Zu diesem Zeitpunkt hätte der Kläger bereits wieder in der Bundesrepublik sein müssen, sodass die Erkrankung für seine nicht erfolgte Rückreise am 14. Februar 2010 nicht kausal gewesen sei. Möglicherweise, so der Klägerbevollmächtigte, könne dem Kläger mangels Nachweis für die Zeit vom 14. Februar 2010 bis zum 18. Februar 2010 der Vorwurf gemacht werden, in dieser Zeit unerlaubt abwesend gewesen zu sein. Spätestens aber seit dem 19. Februar 2010 sei er wegen starker Behinderung der Gehfähigkeit gehindert gewesen, die Rückreise anzutreten. Wegen seiner Erkrankung habe er erst ab dem 29. Februar 2010 wieder im Wohnort anwesend sein können. Die Erwägungen des Sozialgerichtes zur Kausalität seien spekulativ. Im Übrigen sei der Kläger mindestens ab dem 19. Februar 2010 ohnehin nicht für die ARGE verfügbar gewesen, weil er objektiv erkrankt gewesen sei.

Der Beschwerdegegner hat sich zur Beschwerde geäußert. Der Beklagte hat von der Gelegenheit zur Stellungnahme keinen Gebrauch gemacht.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten aus beiden Verfahrenszügen Bezug genommen.

II.

1. Über die Beschwerde kann auch noch nach Abschluss des Hauptsacheverfahrens, hier des Verfahrens zur Gewährung vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes, entschieden werden (vgl. zur Zulässigkeit einer rückwirkenden Beschwerdeentscheidung nach rechtskräftigem Abschluss des vorausgegangenen Hauptsacheverfahrens: Sächs. LSG, Beschluss vom 15. Februar 2010 – L 3 AS 570/09 B PKH – JURIS-Dokument Rdnr. 15, m. w. N.; Sächs. LSG, Beschluss vom 22. Juni 2011 – L 3 AS 290/10 B PKH – JURIS-Dokument Rdnr. 9, m. w. N.; Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz [10. Aufl., 2012], § 73a Rdnr. 12c; vgl. auch LSG Niedersachsen, Beschluss vom 15. Mai 1995 – L 8 S (Vs) 52/95 – Breithaupt 1995, 735). Denn die Frage, ob der Antragsteller alles Erforderliche getan hat, um vor Wegfall der Rechtshängigkeit des Hauptsacheverfahrens eine Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag zu erwirken, und die Frage, ob der Bevollmächtigte beigeordnet werden konnte mit der Folge, dass der Anspruch gegen die Staatskasse auf Erstattung von Auslagen und Gebühren gemäß §§ 45 des Gesetzes über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte (Rechtsanwaltsvergütungsgesetz – RVG) entstehen konnte, betrifft nicht die Zulässigkeit der Beschwerde, sondern deren Begründetheit.

2. Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere statthaft.

Die Voraussetzungen für einen Beschwerdeausschluss nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sind nicht gegeben. Gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 1 Halbsatz 1 SGG ist die Beschwerde in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ausgeschlossen, wenn in der Hauptsache die Berufung nicht zulässig wäre. Dies gilt gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 1 Halbsatz 2 SGG auch für Entscheidungen über einen Prozesskostenhilfeantrag im Rahmen dieser Verfahren. Der Wortlaut dieses zweiten Halbsatzes ist eindeutig. Die Regelung kann deshalb nicht erweiternd ausgelegt und auf Klageverfahren, in denen in der Hauptsache die Berufung nicht zulässig wäre, ausgedehnt werden. Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senates ist auch ein Rückgriff auf die Beschwerdeausschlussregelung in § 127 Abs. 2 Satz 2 der Zivilprozessordnung (ZPO), sei es in Verbindung mit § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG oder in Verbindung mit § 202 SGG oder in analoger Anwendung, nicht möglich (vgl. Sächs. LSG, Beschluss vom 9. Dezember 2010 – L 3 AS 240/09 B PKH – JURIS-Dokument Rdnr. 18 ff.; Beschluss vom 15. Juni 2010 – L 3 AS 158/12 B PKH – JURIS-Dokument Rdnr. 11). Da es somit vorliegend für die Statthaftigkeit der Beschwerde nicht auf den Wert des Beschwerdegegenstandes im Hauptsacheverfahren ankommt, ist es unerheblich, dass sich die Klage auf einen Rückforderungsbetrag in Höhe von 268,97 EUR bezog und damit der Grenzwert aus § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG von 750,00 EUR nicht überschritten wird.

3. Die zulässige Beschwerde ist jedoch unbegründet. Das Sozialgericht hat den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Bevollmächtigten im Ergebnis zu Recht abgelehnt, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinne von § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 114 ZPO hatte.

In Bezug auf die Anspruchsvoraussetzung der hinreichenden Erfolgsaussicht ist zu beachten, dass das Gericht im Prozesskostenhilfeverfahren die Prüfung der Sach- und Rechtslage nur summarisch vorzunehmen hat und aus Gründen der Waffengleichheit zwischen den Beteiligten insbesondere bei von Fachgerichten zu entscheidenden Rechtsstreitigkeiten keine allzu überspannten Anforderungen zu stellen sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. April 2002 – 1 BvR 81/00NJW 2000, 1936 ff.). Damit muss der Erfolg des Rechtsbegehrens nicht gewiss sein; Erfolgsaussichten sind nur dann zu verneinen, wenn diese nur entfernt oder schlechthin ausgeschlossen sind (vgl. Sächs. LSG, Beschluss vom 15. Februar 2010 – L 3 AS 598/09 B PKH – JURIS-Dokument Rdnr. 4, m. w. N.).

In diesem Sinne besaß die Klage zum Zeitpunkt der Entscheidungsreife über den Prozesskostenhilfeantrag, auf den abzustellen ist (vgl. Sächs. LSG, Beschluss vom 15. Februar 2010 – L 3 AS 598/09 B PKH – JURIS-Dokument Rdnr. 5, m. w. N.; Leitherer, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz [10. Aufl. 2012], § 73a Rdnr. 7d, m. w. N.), keine hinreichende Erfolgsaussichten.

a) Gegenstand der gerichtlichen Prüfung ist der Aufhebungsbescheid vom 18. Februar 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. März 2011 in der Fassung, die er durch den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 11. März 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. März 2011 gefunden hat. Denn mit der Aufhebungsentscheidung im Bescheid vom 11. März 2010 wurde nicht nur die Aufhebungsentscheidung vom 18. Februar 2010 wiederholt, wie der Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 31. März 2011 vertreten hat. Vielmehr wurde die umfassendere Aufhebungsentscheidung ("ab 15.02.2010") durch eine zeitlich begrenztere Aufhebungsentscheidung ("vom 15. Februar 2010 bis 28. Februar 2010") ersetzt. Hiervon ging auch das Sozialgericht im angefochtenen Gerichtsbescheid – ohne Begründung – aus. Ob die zeitliche Begrenzung der Aufhebungsentscheidung der Regelungsintention des Beklagten entsprach, kann dahingestellt bleiben. Denn auf Grund des eindeutigen Wortlautes des Verfügungssatzes im Bescheid vom 11. März 2010 besteht kein Ansatzpunkt für eine Auslegung. Der Wortlaut dieses Verfügungssatzes deckt sich im Übrigen mit dem Text im Anhörungsschreiben vom 18. Februar 2010, worin unter anderem auch auf die Aufhebungsregelung des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 des Sozialgesetzbuches Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) abgestellt wurde.

b) Die Rechtsgrundlagen für die Rückforderungsentscheidungen der ARGE hätten sich eigentlich in § 40 Abs. 2 Nr. 2 SGB II (in der bis zum 31. März 2011 geltenden Fassung) i. V. m. § 328 des Sozialgesetzbuches Drittes Buch – Arbeitsförderung – (SGB III) gefunden. Nach § 328 Abs. 2 SGB III ist eine vorläufige Entscheidung nur auf Antrag des Berechtigten (seit 1. April 2012: der berechtigten Person) für endgültig zu erklären, wenn sie nicht aufzuheben oder zu ändern ist. Eine gesonderten Aufhebung nach Maßgabe der §§ 44 ff. SGB X bedarf es nicht; die dort genannten Voraussetzungen müssen nicht erfüllt sein (vgl. Kallert, in: Gagel, SGB II/SGB III [50. Erg.-Lfg., Juni 2013], § 328 SGB III Rdnr. 82; Due, in: Brand, SGB III [6. Aufl., 2012], § 328 Rdnr. 24). Nach § 328 Abs. 2 Satz 1 SGB III sind auf Grund der vorläufigen Entscheidung erbrachte Leistungen auf die zustehende Leistung anzurechnen. Soweit mit der abschließenden Entscheidung ein Leistungsanspruch nicht oder nur in geringerer Höhe zuerkannt wird, sind gemäß § 328 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 SGB III auf Grund der vorläufigen Entscheidung erbrachte Leistungen zu erstatten. Die zuletzt genannte Regelung ist lex specialis zu § 50 SGB X (vgl. Due, a. a. O., Rdnr. 27; Kaminski, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching [Hrsg.], Beck scher Online-Kommentar Sozialrecht [30. Aufl., Juni 2013], § 328 SGB III Rdnr. 20).

Wenn sich aber ein Leistungsträger bei der Rückabwicklung einer vorläufigen Entscheidung dennoch fälschlicherweise auf §§ 45 oder 48 SGB X oder § 50 SGB X beruft, ist dies in der Regel unschädlich, da es sich bei der Angabe der Rechtsgrundlage nur um ein (dann fehlerhaftes) Begründungselement handelt, was sich bei gebundenen Entscheidungen nicht auswirkt (vgl. Kallert, a. a. O., Rdnr. 88; vgl. zu § 42 SGB I [Vorschüsse]: BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 – B 11 AL 19/09 RBSGE 106, 244 =SozR 4-1200 § 42 Nr. 2 = JURIS-Dokument Rdnr. 21). Dies ist auch vorliegend der Fall, weil für die Rückforderung selbst die strengeren Anforderungen aus § 48 SGB X und § 50 SGB X erfüllt wären.

Die nach § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II i. V. m. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X geforderte nachträgliche, wesentliche Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, ist vorliegend mit dem Verstoß des Klägers gegen die Regelungen der Erreichbarkeits-Anordnung eingetreten.

Die Anspruchsberechtigung des Klägers war nicht bereits wegen seiner Erkrankung und der daraus folgenden mangelnden Erwerbsfähigkeit entfallen. Denn erwerbsfähig im Sinne von § 7 Abs. 1 Nr. 2 i. v. m. § 8 Abs. 1 SGB II ist, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Der Begriff "auf absehbare Zeit" (gemeint ist "auf nicht absehbare Zeit"; vgl. Blüggel, in: Eicher/Spellbrink, SGB II [3. Aufl., 2013], § 8 Rdnr. 29) betrifft einen über sechs Monate hinausgehenden Zeitraum (vgl. Armborst, in: Münder [Hrsg.], SGB II [4. Aufl., 2011], § 8 Rdnr. 17; Blüggel, a. a. O., § 8 Rdnr. 31, jeweils m. w. N.). Der Kläger war nicht in diesem zeitlichen Umfang erkrankt.

Rechtsgrundlage für den vom Beklagten geltend gemachten Leistungsausschluss ist § 7 Abs. 4a SGB Halbsatz 1 SGB II in der vom 1. Januar 2008 bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung. Danach erhielt Leistungen nach dem SGB II nicht, wer sich ohne Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners außerhalb des in der Erreichbarkeits-Anordnung vom 23. Oktober 1997 (ANBA 1997, 1685), geändert durch die Anordnung vom 16. November 2001 (ANBA 2001, 1476), definierten zeit- und ortsnahen Bereiches aufhielt. Die übrigen Bestimmungen dieser Anordnung galten entsprechend (vgl. § 7 Abs. 4a Halbsatz 2 SGB II).

Nach § 2 der Anordnung des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit zur Pflicht des Arbeitslosen, Vorschlägen des Arbeitsamtes zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten zu können (Erreichbarkeits-Anordnung – EAO) kann sich der Arbeitslose vorübergehend auch von seinem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt entfernen, wenn 1. er dem Arbeitsamt rechtzeitig seine Anschrift für die Dauer der Abwesenheit mitgeteilt hat, 2. er auch an seinem vorübergehenden Aufenthaltsort die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 erfüllen kann und 3. er sich im Nahbereich des Arbeitsamtes aufhält. Wenn der Arbeitslose nicht die Voraussetzungen des § 2 Nrn. 1 bis 3 EAO erfüllt, steht dies gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 EAO der Verfügbarkeit bis zu drei Wochen im Kalenderjahr nicht entgegen, wenn das Arbeitsamt vorher seine Zustimmung erteilt hat. Nach § 3 Abs. 3 EAO kann in Fällen außergewöhnlicher Härten, die aufgrund unvorhersehbarer und für den Arbeitslosen unvermeidbarer Ereignisse entstehen, die Drei-Wochenfrist nach § 3 Abs. 1 und 2 EAO vom Arbeitsamt tageweise, höchstens um drei Tage verlängert werden.

Der Klägerbevollmächtigte räumt im Beschwerdeverfahren ein, dass ein Nachweis über den Eintritt einer Erkrankung vor dem 19. Februar 2010 nicht geführt werden könne. Sinngemäß macht er nunmehr geltend, dass dem Kläger allenfalls die Zeit vom 15. Februar 2010 bis zum 18. Februar 2010 als Zeit der unerlaubten Ortsabwesenheit vorgehalten werden könne, dass aber der Leistungsausschluss nicht für die nachfolgende Zeit der nachgewiesenen Erkrankung, in denen eine Rückreise nicht möglich gewesen sei, geltend dürfe. Ansatzpunkt für die vom Kläger begehrte Herausrechnung der Tage, für die eine Krankschreibung vorliegt, aus der Zeit des Leistungsausschlusses auf der Grundlage von § 7 Abs. 4a Halbsatz 1 SGB II kann die Härtefallregelung in § 3 Abs. 3 EAO sein.

Dem rechtlichen Ansatz des Klägerbevollmächtigten liegt die Prämisse zugrunde, dass der Kläger infolge seiner Erkrankung nicht fähig zur Rückreise, das heißt nicht reisefähig, gewesen sei. Die Reiseunfähigkeit ist aber in dem angefochtenen Gerichtsbescheid weder ausdrücklich noch konkludent festgestellt. Sie ergibt sich insbesondere nicht aus den vorgelegten Bescheinigungen für Krankschreibung. Denn eine Erkrankung bedingt nicht zwingend eine Reiseunfähigkeit, wie bereits im Beschluss vom 14. September 2012 zur Nichtzulassungsbeschwerde (Az. L 3 AS 8/12 NZB) ausgeführt wurde.

Weitere Ermittlungen von Amts wegen, bei denen in der Regel eine hinreichende Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung im prozesskostenhilferechtlichen Sinne besteht (vgl. Sächs. LSG, Beschluss vom 15. Februar 2010 – L 3 AS 598/09 B PKH – JURIS-Dokument Rdnr. 8, m. w. N.), waren für das Sozialgericht nicht geboten. Denn die Unmöglichkeit der Rückreise war nur behauptet. Sie ergab sich nicht aus Krankschreibung. Auch hatte der Kläger keine Angaben dazu gemacht, wann, wo und wie es zur Dehnung der Sehnen gekommen war. Für das Sozialgericht boten sich wegen des wenig substantiierten klägerischen Vortrages keine Ansatzpunkt für Ermittlungen von Amts wegen.

Die Ortsabwesenheit des Klägers war entgegen der Auffassung des Klägerbevollmächtigten auch nicht ab 19. Februar 2010 deswegen unbeachtlich, weil ab diesem Zeitpunkt der Kläger wegen seiner krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelbar war. Denn maßgebend für den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4a SGB II ist der Verstoß gegen die Pflicht zur Erreichbarkeit. Erst wenn die Erreichbarkeit wiederhergestellt ist, entfällt die Ausschlussregelung aus § 7 Abs. 4a SGB II.

In Bezug auf einen Vertrauenssausschlusstatbestand stützte sich die ARGE auf den in § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X. Danach ist (vgl. § 330 Abs. 1 Satz 1 SGB III) der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben, soweit der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist. Die Frage, ob ein solches gesteigerte Verschulden gegeben ist, ist unter Berücksichtigung der individuellen Einsichts- und Urteilsfähigkeit der Klägerin zu beantworten. In der Regel ist insoweit eine Befragung des Betroffenen angezeigt, um sich einen persönlichen Eindruck zu verschaffen. In diesem Fall werden die hinreichenden Erfolgsaussichten der Klage nicht mehr ohne weiteres zu verneinen sein (vgl. Sächs. LSG, Beschluss vom 23. Februar 2009 – L 3 B 740/08 AS-PKH – JURIS-Dokument Rdnr. 10; Sächs. LSG, Beschluss vom 15. Januar 2013 – L 3 AS 1184/12 B PKH – JURIS-Dokument Rdnr. 22). Vorliegend wird allerdings aus dem klägerischen Vortrag deutlich, dass sich der Kläger der Pflicht zur Gewährleistung seiner Erreichbarkeit und den sich aus einem etwaigen Verstoß ergebenden Folgen bewusst war. Er wurde nichts vorgetragen, was den Verschuldensvorwurf aus § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X betroffen und ihn zumindest hätte in Zweifel ziehen können.

Ebenfalls ist ein Verstoß gegen die Regelungen in § 50 Abs. 1 SGB X über die Erstattungspflicht nicht festzustellen.

4. Dieser Beschluss ergeht gerichtskostenfrei (vgl. § 183 SGG). Die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht erstattungsfähig (vgl. § 202 SGG i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO).

5. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (vgl. § 177 SGG).

Dr. Scheer Höhl Atanassov
Rechtskraft
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