L 11 AS 661/11

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
11
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 9 AS 968/10
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 11 AS 661/11
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Für die nach § 7 Abs 4 Satz 3 SGB II anzustellende Prognose über die zu erwartende Aufenthaltsdauer in einer stationären Einrichtung ist maßgeblich auf den Zeitpunkt der Beantragung von Leistungen nach dem SGB II abzustellen.
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 30.06.2011 wird zurückgewiesen.

II. Der Beklagte hat auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.



Tatbestand:


Streitig sind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld II -Alg II-) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 22.10.2010 bis 11.04.2011.

Der Kläger bezog zunächst Alg II vom Beklagten. Am 27.10.2009 kam er in Untersuchungshaft in die Justizvollzugsanstalt (JVA) C-Stadt. Mit Urteil des Amtsgerichts D-Stadt vom 13.04.2010 wurde er wegen des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt. In den Gründen des Urteils ist ausgeführt, vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 35 Betäubungsmittelgesetz (BtMG) könne ausgegangen werden, da die eigene Betäubungsmittelabhängigkeit des Klägers zumindest mitursächlich für sein Handeltreiben gewesen und damit der erforderliche Kausalzusammenhang gegeben sei. Mit Bescheid vom 23.09.2010 stellte die Jugendrichterin am Amtsgericht C-Stadt als Vollstreckungsleiterin die Vollstreckung der Strafe mit Wirkung vom 11.10.2010 für die Dauer von längstens zwei Jahren zurück und verfügte die Verbringung des Klägers in die E., E-Straße, E-Stadt. Die nachgewiesene Zeit des Aufenthalts in der Einrichtung werde auf die Jugendstrafe angerechnet, bis infolge der Anrechnung 2/3 der Strafe erledigt seien (§ 36 Abs 1 BtMG). Hieraus ergebe sich bei einem voraussichtlichen Strafende am 05.08.2012 eine 2/3-Zeit für den 25.08.2011. Am 11.10.2010 begab sich der Kläger zur Durchführung einer stationären Drogenlangzeittherapie in die E.; die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV) erteilte diesbezüglich eine Kostenzusage über 26 Wochen bis zum 11.04.2011. Am 11.04.2011 wurde der Kläger aus der Klinik entlassen; ab 12.04.2011 bis 30.09.2011 bewilligte der Jobcenter Landkreis R. dem Kläger Alg II. Im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens (S 9 AS 1013/10 ER) vor dem Sozialgericht Würzburg (SG) teilte die JVA E. unter dem 11.01.2011 mit, dass einer Entlassung des Klägers zur Bewährung bei ordnungsgemäßem Abschluss der Therapie voraussichtlich nichts entgegenstehe.

Bereits am 22.10.2010 hatte der Kläger beim Beklagten Alg II beantragt. Nachdem ein wegen Unzuständigkeit ablehnender Bescheid vom 26.01.2010 mit Abhilfebescheid vom 03.11.2010 wieder aufgehoben wurde, lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 03.11.2010 die vorläufige Gewährung von Alg II nach § 43 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) ab, da der Kläger ab 11.10.2010 für mehr als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht sei. Dabei sei nur die Zeit des stationären Aufenthalts berücksichtigt worden. Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein. Nachdem die Therapiekosten für 26 Wochen genehmigt worden seien, befinde er sich nicht voraussichtlich für länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung. Zudem sei der Antrag erst am 22.10.2010 gestellt worden, der Bewilligungszeitraum für die Therapie liege damit unter einem halben Jahr. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 29.11.2010 zurück. Seitens des Kostenträgers sei zu Therapiebeginn am 11.10.2010 von einem Aufenthalt von weniger als sechs Monaten, sondern von mindestens sechs Monaten ausgegangen worden. Die maßgebliche Prognoseentscheidung sei zu Beginn des Aufenthalts zu treffen. Auch für ein vorzeitiges Ende des Aufenthalts gebe es keine Anhaltspunkte. Maßgeblich sei auch nicht der Zeitpunkt der Antragstellung, da andernfalls der Betroffene durch einen später gestellten Antrag einen Leistungsanspruch nach dem SGB II herbeiführen könnte.

Dagegen hat der Kläger Klage beim SG erhoben. Eine Prognose anhand der Kostenzusage der DRV, die einzelfallunabhängig erteilt werde, sei nicht möglich. Der Zeitpunkt der Antragstellung sei maßgeblicher Beginn des Prognosezeitraums. Mit Urteil vom 30.06.2011 hat das SG den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 03.11.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.11.2010 verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 22.10.2010 bis 11.04.2011 Alg II in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe er jedenfalls bis zum 26.10.2009 im Zuständigkeitsbereich des Beklagten gehabt, da er seinerzeit bei seiner Mutter gewohnt habe. Durch die Verbüßung der Jugendhaft sei kein neuer gewöhnlicher Aufenthalt begründet worden. Gleiches gelte für den Aufenthalt in der E ... Er sei auch nicht nach § 7 Abs 4 Satz 1 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen, da zum Zeitpunkt der Antragstellung am 22.10.2010 von einem Aufenthalt in der E. von weniger als sechs Monaten auszugehen gewesen sei. Eine etwaige Missbrauchsgefahr trete hinter den Gedanken zurück, dass es darum gehe, einen "an sich" Erwerbsfähigen wegen eines prognostizierbar längeren Krankenhausaufenthaltes aus dem Leistungssystem des SGB II wieder auszuschließen.

Der Beklagte hat dagegen Berufung beim Bayer. Landessozialgericht eingelegt. Für die Prognoseentscheidung sei auf den Zeitpunkt des Beginns des Aufenthalts in der Therapieeinrichtung abzustellen, was der Gesetzesbegründung entspreche und nicht zu einem Missbrauch der gesetzlichen Regelungen führe. Ferner sei nicht abzusehen gewesen, dass der Kläger für weniger als sechs Monate in der Einrichtung untergebracht sein würde, da die Strafzeit während des Aufenthalts in der E. nur zurückgestellt gewesen sei. Es sei keineswegs absehbar gewesen, dass der Kläger die Therapie ordnungsgemäß beenden werde. Das Bundessozialgericht (BSG) habe es in seiner Entscheidung vom 06.09.2007 (B 14/7b AS 60/06 R) ausdrücklich offen gelassen, ob der Prognosezeitraum immer vom Zeitpunkt des ersten Tages der Aufnahme in eine stationäre Einrichtung an zu rechnen sei. Im Übrigen stelle die Zeit in der JVA E. und die Zeit der Unterbringung des Klägers in der E. einen einheitlichen Prognosezeitraum dar. Hierfür spreche § 36 Abs 1 Satz 1 BtMG, wonach der Aufenthalt in der Einrichtung auf die Strafe angerechnet werde, bis infolge der Anrechnung 2/3 der Strafe erledigt seien. Zum Zeitpunkt der Unterbringung habe von einer Fortsetzung der Jugendhaft ausgegangen werden müssen, da nur unter bestimmten Voraussetzungen nach § 88 Jugendgerichtsgesetz (JGG) ein Jugendrichter die Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung aussetzen könne. Bei der Zurückstellung der Vollstreckung des Strafurteils vom 13.04.2010 sei die Hälfte der Strafzeit noch nicht abgelaufen gewesen; der Strafrest auch noch nicht zur Bewährung ausgesetzt worden. So sei die Einschätzung des Bediensteten der JVA E., einer Entlassung zur Bewährung stünde nach ordnungsgemäßem Therapieabschluss voraussichtlich nichts entgegen, nicht ausreichend, um die Fortsetzung der Jugendhaft nach Therapie-Ende ausschließen zu können. Die Zurückstellung der Vollstreckung könne nicht mit einer Entlassung aus der Strafhaft gleichgesetzt werden. Selbst bei Annahme, die Aufnahme in die E. eröffne einen neuen Prognosezeitraum, gelte nichts anderes, da prognostisch 26 Wochen für den Aufenthalt angesetzt worden seien und damit die Sechs-Monats-Grenze nach § 7 Abs 4 SGB II erreicht worden wäre. Auch dem Strafurteil vom 13.04.2010 lasse sich nicht entnehmen, dass nach Abschluss der Therapie der Rest der Strafe zur Bewährung ausgesetzt werde. Dort sei zwar § 35 BtMG erwähnt worden, es sei aber Sache der Vollstreckungsbehörde, ob sie unter Ausübung ihres Ermessens § 35 BtMG anwende oder nicht. Von einer überwiegenden Sicherheit, der Kläger stehe nach Beendigung der therapeutischen Maßnahme wieder dem Arbeitsmarkt zur Verfügung, könne nicht ausgegangen werden, wenn noch eine richterliche Entscheidung ausstehe, ob nach Ablauf der Behandlung die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden könne.

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 30.06.2011 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 03.11.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.11.2010 abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Maßgeblich für die Prognoseentscheidung sei nicht die Kostenzusage der DRV, sondern alleine die Entscheidung des medizinischen Personals in der Klinik. Im Übrigen wäre der Tag der Entlassung nicht einzurechnen, so dass der Zeitraum des Aufenthalts in der Klinik die Zeit vom 11.10.2010 bis 10.04.2011 umfasst habe, mithin weniger als sechs Monate. Der Anspruch auf Alg II lebe wieder auf, wenn nach fundierter Prognose die Unterbringung voraussichtlich weniger als sechs Monate dauere und eine Erwerbswahrscheinlichkeit gegeben sei. Dies entspreche dem Wortlaut der Norm und ihrem Sinn und Zweck. Schließlich sei der Tag der Antragstellung maßgeblich, da dies dem Aktualitätsprinzip entspreche. Ein Zusammenrechnen von Haftzeit und Aufenthalt in der Rehabilitationseinrichtung komme nicht in Betracht, vielmehr stelle das Überwechseln in die E. eine Zäsur dar, die eine neue Prognose erforderlich mache. Insbesondere sei der Kläger in der E. keinerlei freiheitsbeschränkenden Maßnahmen unterlegen, die mit dem vorhergehenden Strafvollzug auch nur annähernd vergleichbar gewesen seien. Die JVA sei zudem keine Einrichtung im Sinne des § 7 Abs 4 Satz 1 SGB II. Unschädlich sei schließlich, dass die endgültige Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung nach ordnungsgemäß durchgeführter Therapie noch einer richterlichen Entscheidung bedurft habe. Durch die Mitteilung der JVA E. bzw. den Strafvollstreckungsbescheid vom 23.09.2010 liege eine verlässliche Prognosegrundlage vor. Selbst ein Abbruch der Therapie hätte nicht zwingend wieder eine Inhaftierung bedeutet.

Auf Anfrage des Senats hat die Jugendrichterin am Amtsgericht C-Stadt mitgeteilt, der Ablauf des Falles beim Kläger sei der Regelfall. Unabhängig von der Anrechnung der Maßnahme auf die Strafverbüßung erfolge nach Beendigung der erfolgreichen Therapie die Entlassung auf Bewährung. Darüber entscheide der erkennende Richter. Die Richterin am D. hat mitgeteilt, die Entlassung in Freiheit nach Therapieabschluss entspreche dem Regelfall. Es sei gerade Sinn und Zweck der Maßnahme, dass die Straftäter nach erfolgreicher Therapie wieder in Freiheit kommen und dort - insbesondere auch in den Arbeitsmarkt - integriert würden. Die entsprechende Prognose, ob mit dem erfolgreichen Abschluss zu rechnen sei, treffe dabei die Jugendrichterin als Vollstreckungsleitern. Schließlich hat der Chefarzt der E. Dr. B. angegeben, es habe nach Aktenlage am 11.10.2010 keinen Hinweis darauf gegeben, die Behandlungsziele hätten nicht bis zum 11.04.2011 erreicht werden können.

Mit Beschluss vom 07.10.2013 hat der Senat den Beigeladenen zum Verfahren beigeladen.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die Verwaltungsakten des Beklagten und die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die Akten des Verfahrens S 9 AS 1013/10 ER Bezug genommen.



Entscheidungsgründe:


Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), aber nicht begründet. Zu Recht hat das SG den Beklagten verurteilt, dem Kläger Alg II für die Zeit vom 22.10.2010 bis 11.04.2011 zu zahlen. Der Bescheid vom 03.11.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.11.2010 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Streitgegenstand der zulässigen kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG) ist vorliegend die Gewährung von Alg II für die Zeit vom 22.10.2010 bis 11.04.2011. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 03.11.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.11.2010 hat der Beklagte den Antrag des Klägers auf Alg II abgelehnt. Dabei ist unter Berücksichtigung der Begründung des Bescheides erkennbar, dass der Beklagte nicht nur die vorläufige Gewährung von Alg II ablehnen wollte, sondern selbst in der Sache über eine Leistungsgewährung nach dem SGB II entschieden hat. Auch der förmliche Leistungsantrag des Klägers enthielt keine Beschränkung auf bloß vorläufige Leistungen oder einen Vorschuss. Mithin steht nicht nur eine vorläufige Leistungsgewährung in Streit. Zutreffend hat das SG über die Zeit bis einschließlich 11.04.2011 entschieden. In Fällen ablehnender Verwaltungsentscheidungen erstreckt sich der streitgegenständliche Zeitraum zwar grundsätzlich bis zur letzten mündlichen Verhandlung (vgl BSG, Urteil vom 16.05.2007 - B 11b AS 37/06 R - SozR 4-4200 § 12 Nr 4; Urteil vom 23.11.2006 - B 11b AS 1/06 R - SozR 4-4200 § 20 Nr 3 RdNr 19). Vorliegend hat der Beklagte aber ab dem 12.04.2011 wieder Alg II gezahlt, sodass der Kläger richtigerweise seinen Klageantrag auf die Zeit bis 11.04.2011 beschränkt hat. Folgebescheide und die von diesen umfasste Leistungszeiträume werden insoweit grundsätzlich nicht Gegenstand eines bereits anhängigen Rechtsschutzverfahrens (zur fehlenden Anwendungsmöglichkeit von § 86 SGG bzw § 96 SGG bei Bewilligungsbescheiden für Folgezeiträume vgl die ständige Rechtsprechung des BSG, zB Urteil vom 07.11.2006 - B 7b AS 14/06 R - SozR 4-4200 § 20 Nr 1; Urteil vom 23.11.2006 - B 11b AS 9/06 R - SozR 4-4300 § 428 Nr 3; Urteil vom 16.05.2007 - B 11b AS 29/06 R - juris; Urteil vom 05.09.2007 - B 11b AS 15/06 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 5).

Der Beklagte ist für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II örtlich zuständig, § 36 SGB II. Das SG hat insofern zutreffend ausgeführt, dass der Kläger vor seiner Inhaftierung seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich des Beklagten hatte und sich daran durch den Aufenthalt in der JVA und der E. nichts geändert hat. Insofern folgt der Senat den entsprechenden Ausführungen des SG und sieht diesbezüglich von einer weiteren Begründung ab, § 153 Abs 2 SGG.

Der Kläger hat für den streitgegenständlichen Zeitraum auch einen Anspruch auf Alg II. Nach § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II idF des Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung vom 20.04.2007 (BGBl I 554) erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig sowie hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Hilfebedürftige). Nach § 9 Abs 1 SGB II idF des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistung am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003 (BGBl I 2954) ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit, aus dem zu berücksichtigen Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält.

Diese Leistungsvoraussetzungen werden vom Kläger erfüllt. Im streitgegenständlichen Zeitraum war er 22 Jahre alt und hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Mangels eigenem Einkommen und Vermögen lag Hilfebedürftigkeit vor und auch Zweifel an der Erwerbsfähigkeit des Klägers bestehen nicht. Anhaltspunkte, die dagegen sprechen könnten, sind weder erkennbar noch vom Beklagten vorgetragen. Vielmehr wurden dem Kläger ab 12.04.2011 bei unveränderten Verhältnissen Alg II bewilligt.

Ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs 4 idF des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.07.2006 (BGBl I 1706) ist vorliegend ebenfalls nicht gegeben, da ein Ausnahmefall nach § 7 Abs 4 Satz 3 Nr 1 SGB II vorliegt. Nach § 7 Abs 4 Satz 1 SGB II erhält keine Leistungen nach dem SGB II, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art bezieht. Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung ist der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt (Satz 2). Abweichend von Satz 1 erhält Alg II, wer voraussichtlich für weniger als sechs Monate in einem Krankenhaus (§ 107 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch -SGB V-) untergebracht ist (Satz 3 Nr 1). Zu den Krankenhäusern in diesem Sinne zählen auch die in § 107 SGB V genannten Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation, die in diesem Zusammenhang Krankenhäusern gleichgestellt sind (so bereits die Gesetzesbegründung, vgl BT-Drucks. 16/1410 S 20; Sächsisches LSG, Beschluss vom 28.11.2012 - L 7 AS 244/12 B ER - juris; Spellbrink/G. Becker in: Eicher, SGB II, 3. Aufl, § 7 Rn 129).

Im streitgegenständlichen Zeitraum war der Kläger in der E., einer Einrichtung der medizinischen Rehabilitation nach § 107 Abs 2 SGB V, untergebracht. Der damit dem Grunde nach erfüllte Tatbestand des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs 4 Satz 1 SGB II greift dennoch vorliegend nicht, da eine Rückausnahme iSv § 7 Abs 4 Satz 3 Nr 1 SGB II gegeben ist. Der Kläger war ab dem 22.10.2010 voraussichtlich für weniger als sechs Monate bis 11.04.2011 in der Reha-Klinik, die schon im Hinblick auf die zuvor erfolgte Aussetzung der Vollstreckung der Haftstrafe keine Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung darstellt, untergebracht. Für den Beginn der in diesem Zusammenhang zu treffende Prognose über die Dauer des voraussichtlichen Aufenthalts ist auf den Aufnahmezeitpunkt bzw hilfsweise auf den späteren Zeitpunkt der Antragstellung iSv § 37 SGB II abzustellen. Maßgeblich für die anzustellende Prognose über die Dauer des Aufenthaltes war vorliegend damit die Antragstellung am 22.10.2010, mithin die ab diesem Datum zu prognostizierende voraussichtliche Restaufenthaltsdauer in der E. (so auch Spellbrink/G. Becker aaO Rn 120; Knickrehm in: Kommentar zum Sozialrecht, 2. Aufl, § 7 SGB II Rn 25; aA LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 18.12.2008 - L 5 AS 31/08; Valgolio in: Hauck/Noftz, SGB II, Stand 10/2013, § 7 Rn 245; wohl auch Hänlein in: Gagel, SGB II/SGB III, 50. Ergänzungslieferung 2013, § 7 Rn 78 aE; offen gelassen von BSG, Urteil vom 06.09.2007 - B 14/7b AS 60/06 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 5). Grundintention des SGB II ist es, jeden erwerbsfähigen Hilfebedürftigen iS des § 8 SGB II in Erwerbsarbeit zu integrieren. Es entspricht dabei dem Aktualitätsprinzip des SGB II, den Prognosezeitraum grundsätzlich ab dem Zeitpunkt beginnen zu lassen, zu dem der Antragsteller Alg II begehrt und damit zugleich anzeigt, dass er Leistungen zur Eingliederung in Arbeit gemäß §§ 14 ff SGB II erhalten möchte, wenn der Leistungsausschluss durch Unterbringung in einer Einrichtung gemäß § 7 Abs 4 SGB II absehbar zeitlich zu Ende geht (BSG aaO). Vorliegend würde es diesen Erwägungen zuwider laufen, bei Beantragung von Alg II nach Aufnahme eines Leistungsberechtigten in eine Einrichtung auf einen vorhergehenden Zeitpunkt abzustellen, wenngleich doch absehbar ist, dass dieser in weniger als sechs Monaten wieder dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht und ggf. bereits zuvor schon entsprechender Unterstützung bedarf. So kann im Idealfall mit der Entlassung bereits wieder eine Arbeitsstelle aufgenommen werden. Auch eine Missbrauchsgefahr durch das "Herauszögern" der Antragstellung, bis die Restaufenthaltsdauer geringer als sechs Monate ist, ist nicht zwingend, da regelmäßig bei einem Leistungsausschluss nach § 7 Abs 4 Satz 1 SGB II ein Sozialhilfeanspruch in Betracht kommen würde. So spricht vorliegend nichts für einen solchen Missbrauch, zumal der Kläger nicht erkennbar die - im Gegensatz zum SGB II geringeren - Vermögensfreigrenzen des SGB XII überschritten hätte. Im Übrigen wäre vom Beklagten andernfalls eine rückschauende Prognose zu treffen, ob bereits bei Aufnahme in die Einrichtung eine Aufenthaltsdauer von weniger als sechs Monaten anzunehmen gewesen wäre.

Zum Zeitpunkt der Antragstellung am 22.10.2010 war davon auszugehen, dass der Kläger die Einrichtung vor Ablauf von sechs Monaten wieder verlassen würde. Hierfür spricht neben der entsprechenden Dauer der Kostenzusage der Rentenversicherung, deren Rest ab Antragszeitpunkt unter sechs Monaten lag, auch die Bestätigung des Arztes der E., der ebenfalls gegenüber dem Gericht bescheinigte, dass ausgehend vom 22.10.2010 mit einer Entlassung vor Ablauf eines halben Jahres auszugehen gewesen ist. Der Senat teilt nicht die Bedenken des Beklagten, es habe die Gefahr bestanden, der Kläger hätte nach der Beendigung der Therapie wieder in die JVA zurückkehren müssen. Wie sowohl die Jugendrichterin am Amtsgericht C-Stadt als auch die Jugendrichterin am D. bestätigt haben, ist es der Regelfall, dass die Jugendlichen nach der erfolgreichen Beendigung der Therapie sofort in Freiheit entlassen werden und der Rest der Freiheitsstrafe noch zur Bewährung ausgesetzt wird. Es wäre schlichtweg widersinnig, den Jugendlichen nach erfolgreicher Therapie wieder in die JVA zu verbringen. Ziel der Therapie ist es gerade, den Jugendlichen wieder zu resozialisieren. Die entsprechende rechtliche Möglichkeit zur Aussetzung der restlichen Freiheitsstrafe zur Bewährung folgt insofern gerade aus § 88 Abs 1 JGG. Auch unter Berücksichtigung dieses Umstandes war ausgehend vom 22.10.2010 prognostisch nicht mit einem Aufenthalt in einer Klinik oder in der JVA von sechs Monaten oder länger auszugehen.

Im Hinblick darauf, dass auf den Zeitpunkt der Antragstellung für den Beginn der Prognose abzustellen ist, kommt es vorliegend nicht mehr darauf an, ob der vorangegangene Aufenthalt des Klägers in der JVA mit der Zeit in der E. zusammenzurechnen wäre.

Der Kläger hat damit den vom SG ausgesprochenen Anspruch auf Alg II. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG war folglich zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision war wegen grundsätzliche Bedeutung gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 SGG zuzulassen. Die Rechtsfrage, auf welchen Zeitpunkt im Rahmen der Prognose der Aufenthaltsdauer im Rahmen des § 7 Abs 4 Satz 3 Nr 1 SGB II abzustellen ist, ist bislang nicht höchstrichterlich geklärt. Die vorliegende Entscheidung weicht vom Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz (Urteil vom 18.12.2008 - L 5 AS 31/08) ab.
Rechtskraft
Aus
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