S 1 AS 467/12

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
1
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 1 AS 467/12
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 9 AS 192/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Gefährdung der Versetzung ist nicht das einzige, wenn auch ein wichtiges Kriterium für die Beurteilung der Frage, ob ein Bedarf für Bildung und Teilhabe in Form ergänzender Lernförderung vorliegt.
1. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 26.03.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.05.2012 verurteilt, dem Kläger Leistungen für ergänzende Lernförderung im gesetzlichen Umfang zu gewähren.

2. Der Beklagte hat dem Kläger die zur Rechtsverfolgung notwendigen Kosten zu erstatten.

3. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um ergänzende Lernförderung im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende.

Der am 2000 geborene Kläger erhielt (und erhält) in Bedarfsgemeinschaft mit seinen gemeinsam sorgeberechtigten Eltern (und seinem Bruder) laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) Grundsicherung für Arbeitsuchende –.

Im Frühjahr 2012 beantragte er, vertreten durch seine Eltern, Leistungen für Bildung und Teilhabe in Form der ergänzenden Lernförderung für das Fach Englisch. Er besuchte zu diesem Zeitpunkt die 5. Klasse der in A-Stadt. Die Fachlehrerin, die Zeugin A., bescheinigte dazu unter dem 11.01.2012, bei dem Kläger bestehe Lernförderbedarf in einem Umfang von ein bis zwei Stunden wöchentlich. Die Leistungen des Klägers seien "noch im schwach befriedigenden Bereich" [Hervorhebung durch die Zeugin]. Auf Bl. 22 der Verwaltungsakte (im Folgenden: VA) wird ergänzend Bezug genommen.

Der Kläger erhielt anschließend in der Zeit von März bis September 2012 Englischunterricht durch die C. & D ... Schülerhilfe GbR, A-Stadt; wegen der Einzelheiten des Vertragsverhältnisses wird auf den auf den 08.03.2012 datierten Vertrag (Gerichtsakte – im Folgenden: GA – Bl. 13), wegen der – zum Teil noch offenen – Forderungen auf die entsprechende Aufstellung der Schülerhilfe vom 07.12.2013 (GA Bl. 38) Bezug genommen.

Mit dem streitigen Bescheid vom 26.03.2012 (VA Bl. 25) lehnte der Beklagte den Antrag ab, da das Erreichen der wesentlichen Lernziele nicht gefährdet sei.

Der Widerspruch des Klägers vom 01.04.2012 (VA Bl. 38) blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 08.05.2012 [VA Bl. 45]).

Der Kläger hat daraufhin mit einem von seiner Mutter gezeichneten Schreiben vom 22.05.2012, eingegangen bei Gericht am 23.05.2012, Klage erhoben (Gerichtsakte – im Folgenden: GA – Bl. 1); nach Hinweis und Anfrage des Gerichts zur Klagebefugnis und zu den Sorgerechtsverhältnissen hat der Vater des Klägers die Mutter zur alleinigen Prozessführung bevollmächtigt (GA Bl. 12); außerdem haben beide Eltern mit einem gemeinsamen Schreiben vom 06.08.2012 (GA Bl. 11) die Hoffnung ausgesprochen, ihrem Sohn möge die streitige Leistung zugesprochen werden; zur mündlichen Verhandlung am 16.12.2013 schließlich sind beide Eltern erschienen.

Zur Begründung macht der Kläger insbesondere geltend, er sei auf entsprechende Leistungen angewiesen gewesen, auch wenn damals die Versetzung (noch) nicht gefährdet gewesen sei.

Er beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 26.03.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.05.2012 zu verurteilen, Lernförderung im gesetzlichen Umfang für die im Jahr 2012 in Anspruch genommene Nachhilfe zu erbringen.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Er verteidigt seinen Bescheid und hält daran fest, Lernziel sei nur die Versetzung insgesamt.

Die Kammer hat die Fachlehrerin des Klägers, Frau A., schriftlich als Zeugin befragt. Diese hat mit Schreiben vom 01.11.2012 erklärt, mit "noch schwach befriedigender Bereich" habe sie einen der Note 3- entsprechenden Leistungsstand beschrieben. Ein Absinken der Note auf 4 ohne Nachhilfe sei zu erwarten gewesen; ein Absinken auf 5 zum damaligen Zeitpunkt nicht. Eine Versetzungsgefährdung sei nicht auszumachen gewesen. Defizite seien eindeutig sowohl in den mündlichen als auch in den schriftlichen Leistungen des Klägers feststellbar gewesen, was durch die zweite Klassenarbeit (Note 5) bestätigt worden sei. Aus ihrer Sicht sei es zum damalige Zeitpunkt notwendig gewesen, frühzeitig dieser ‚Negativtendenz‘ entgegenzuwirken, und sinnvoll, dem Kläger rechtzeitig Fördermaßnahmen zukommen zu lassen. Nach ihrer damaligen Einschätzung wären zur Stabilisierung auf Note 3 zwei Stunden Nachhilfe pro Woche notwendig gewesen, was jedoch durch die fehlende Förderung nicht zu erreichen gewesen sei. Wegen der Einzelheiten wird auf GA Bl. 33 verwiesen.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 16.12.2013 hat die Kammer die Eltern des Klägers ausführlich gehört; hierzu wird auf die Sitzungsniederschrift (GA Bl. 41) verwiesen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- sowie der zum Kläger geführten Verwaltungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet. Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch auf ergänzende Lernförderung zu; der angefochtene Bescheid vom 26.03.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.05.2012 ist daher rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

I. Bei dem geltend gemachten Anspruch handelt es sich um einen Individualanspruch des Kindes (vgl. BSG, Urteil vom 10. September 2013 – B 4 AS 12/13 R –). Im konkreten Fall ist er daher im Namen des Klägers selbst geltend zu machen. Die (zunächst allein) von der Mutter des Klägers erhobene Klage lässt sich unter Berücksichtigung des sogenannten Meistbegünstigungsgrundsatzes entsprechend auslegen.

Prozesserklärungen sind auch hinsichtlich der Frage, in wessen Namen Klage erhoben werden soll, der Auslegung zugänglich. Ist das Klageziel – wie hier – nur zu erreichen, wenn der Anspruchsinhaber selbst als Beteiligter auftritt, kann – jedenfalls bei nicht rechtskundigen Klägern – vor dem Hintergrund des sogenannten Meistbegünstigungsgrundsatzes davon ausgegangen werden, dass ein Rechtsbehelf für diesen eingelegt werden soll, auch wenn nicht er selbst, sondern sein (gesetzlicher) Vertreter auftritt. Das gilt jedenfalls dann, wenn – wie hier durch das Schreiben vom 06.08.2012 und das Auftreten in der mündlichen Verhandlung – nach entsprechendem Hinweis des Gerichts deutlich wird, dass das Verfahren von den gesetzlichen Vertretern im Namen des Anspruchsinhabers geführt werden soll.

Die Leistungen für Bildung und Teilhabe können isoliert gerichtlich geltend gemacht werden; dementsprechend sind hier nicht die gesamten dem Kläger (und gar noch seinen Eltern und seinem Bruder) möglicherweise zustehenden Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende streitig, sondern nur der konkret eingeforderte Anspruch auf ergänzende Lernförderung (vgl. nochmals BSG, Urteil vom 10. September 2013 – B 4 AS 12/13 R –).

In zeitlicher Hinsicht sind nur Leistungen für die im Jahr 2012 in Anspruch genommene Lernförderung Gegenstand des Verfahrens. Hinsichtlich des Bedarfs, der aktuell jedenfalls nach Auffassung der Eltern des Klägers wiederum besteht, haben diese im Rahmen der mündlichen Verhandlung einen neuen Antrag gestellt. Über diesen hat der Beklagte noch nicht entschieden. Die Einbeziehung entsprechender Leistungsansprüche in das hiesige Klageverfahren ist daher weder möglich noch sinnvoll.

II. Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz – SGG –) statthaft. Bei dem Anspruch auf ergänzende Lernförderung aus § 28 Abs. 1 S. 1 i.m. Abs. 5 SGB II handelt es sich um einen gebundenen Anspruch. Diesen muss (und kann) der Kläger teilweise in Form eines Kostenerstattungs-, teilweise in Form eines Freistellungsanspruchs geltend machen, weil der hier streitige Zeitraum, in dem er die Lernförderung bei einem Drittanbieter in Anspruch genommen hat, bereits abgelaufen ist und es daher jetzt (nur noch) um die Erstattung der bereits vom Kläger aufgebrachten und die Übernahme der noch offenen Zahlungen gehen kann.

Die Klage ist auch im Übrigen zulässig. Der selbst auf Grund seines Alters nicht prozessfähige (dazu § 71 SGG) Kläger ist durch seine beiden Eltern im Verfahren ordnungsgemäß vertreten (vgl. dazu § 1629 Abs. 1 S. 1, S. 2 HS. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches). Die Klageschrift war zwar zunächst nur von der Mutter des Klägers gezeichnet; die Klage ist dennoch – durch die Genehmigung der Klageerhebung durch den Vater als dem anderen Sorgeberechtigten, die der Vollmachtserteilung vom 06.08.2012 und dem gemeinsamen Auftreten in der mündlichen Verhandlung zu entnehmen ist – wirksam erhoben.

Im Übrigen bestehen keine Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Klage; insbesondere ist sie nach Durchführung des notwendigen Vorverfahrens beim zuständigen Gericht form- und fristgerecht erhoben.

III. Die Klage ist schließlich auch begründet. Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 28 Abs. 5 SGB II (in der ab 01.04.2011 geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 13.05.2011, BGBl. I S. 850, 852).

1. Die Kammer ist dabei zunächst davon überzeugt, dass der Kläger – wiederum vertreten durch seine Eltern, wobei insoweit § 38 Abs. 1 SGB II eingreift – rechtzeitig den nach § 37 Abs. 1 S. 1 und 2 SGB II (gesondert) notwendigen Antrag gestellt hat. Dem steht nicht entgegen, dass die auf einem entsprechenden Formblatt eingereichte Stellungnahme der Englischlehrerin sowie die Angebote zweier verschiedener Nachhilfeanbieter erst am 09.03.2012 beim Beklagten eingingen, während die Unterschrift unter dem Vertrag über die entsprechenden Leistungen (jedenfalls von Seiten des Nachhilfeanbieters) bereits auf den 27.02.2012 (vgl. LA Bl. 20) bzw. 08.03.2012 (GA Bl. 13) datiert ist.

Die Mutter des Klägers hat hierzu in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt, wenn sie sich recht entsinne, habe sie den Antrag noch im Februar gestellt. Man habe ihr dann gesagt, sie solle Angebote einholen, die sie dann ja auch zur Akte gereicht habe. Damit stimmt überein, dass die Lehrerin des Klägers ihre Einschätzung zur Notwendigkeit und Geeignetheit der Förderung deutlich vor dem durch die Nachhilfeanbieter eingedruckten Datum, nämlich schon im Januar 2011, abgegeben hat und die Eltern des Klägers offenbar zwei verschiedene Angebote eingeholt und dem Beklagten eingereicht haben.

Vor diesem Hintergrund wird die frühe Datierung dadurch plausibel, dass die Nachhilfeanbieter ihre Angebote in Form ihrerseits schon gezeichneter Vertragsunterlagen abgegeben und die Eltern des Klägers diese dem Beklagten vorgelegt haben, bevor sie den Vertrag ihrerseits unterzeichnet haben. Der Beklagte hat überdies eine rechtzeitige Antragstellung zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt. Die Kammer ist daher der Überzeugung, dass die Mutter des Klägers den notwendigen Antrag mündlich – was ausreicht – schon vor der vertraglichen Bindung und der Inanspruchnahme der Leistungen gestellt hat.

Es kann daher offenbleiben, ob § 37 Abs. 2 SGB II und die dort vorgesehene Rückwirkung auf den Monatsersten auch im hiesigen Zusammenhang von Bedeutung sein kann.

2. Auch in der Sache liegen die Anspruchsvoraussetzungen vor.

a) Die Klage scheitert zunächst nicht etwa schon daran, dass der streitige Zeitraum bereits abgelaufen ist und der Beklagte daher die Lernförderung nicht mehr als Sachleistung oder in Gutscheinsform erbringen kann.

Der Leistungsberechtigte kann die Leistung nämlich bei einem Geschehensablauf wie dem hiesigen in Form eines Kostenerstattungs- bzw. Freistellungsanspruchs geltend machen. Voraussetzung hierfür ist, dass er die Leistungen – wie hier – nach rechtswidriger Ablehnung (oder Ablauf eines angemessenen Prüfzeitraums ohne Entscheidung der Behörde) selbst finanziert hat bzw. entsprechende Ansprüche des Anbieters noch offenstehen (vgl. wiederum BSG, Urteil vom 10. September 2013 B 4 AS 12/13 R –).

b) Auch die Anspruchsvoraussetzungen in der Sache sind erfüllt. Nach § 28 Abs. 1 S. 1 SGB II werden bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen neben dem Regelbedarf Bedarfe für Bildung und Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft nach den nachfolgenden Absätzen der Vorschrift gesondert berücksichtigt. Hierzu gehört nach § 28 Abs. 5 SGB II bei Schülerinnen und Schülern eine die schulischen Angebote ergänzende angemessene Lernförderung, soweit diese geeignet und zusätzlich erforderlich ist, um die nach den schulrechtlichen Bestimmungen festgelegten wesentlichen Lernziele zu erreichen.

Die vom Kläger in Anspruch genommene Lernförderung war zunächst notwendig und geeignet, um die wesentlichen Lernziele zu erreichen. Dabei handelt es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe. Die in diesem Rahmen vom Leistungsträger zu treffende Prognoseentscheidung ist daher vom Gericht voll zu überprüfen (vgl. z.B. Thommes, in: Gagel, SGB II/SGB III, § 28 SGB II Rn. 43 und Luik, in: Eicher, SGB II, 3. Aufl. 2013, § 28 Rn. 44).

Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 17/4304 S. 105) berücksichtigt die Vorschrift, dass auch außerschulische Lernförderung als Sonderbedarf vom Anspruch auf Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums erfasst sein könne. Diese sei als Mehrbedarf allerdings nur in Ausnahmefällen geeignet und erforderlich und damit notwendig. In der Regel sei sie nur kurzzeitig notwendig, um vorübergehende Lernschwächen zu beheben. Sie solle unmittelbare schulische Angebote lediglich ergänzen. Die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Lernförderung beziehe sich auf das wesentliche Lernziel, das sich wiederum im Einzelfall je nach Schulform und Klassenstufe aus den schulrechtlichen Bestimmungen des jeweiligen Landes ergebe. Das wesentliche Lernziel in der jeweiligen Klassenstufe sei regelmäßig die Versetzung in die nächste Klassenstufe beziehungsweise ein ausreichendes Leistungsniveau. Verbesserungen zum Erreichen einer besseren Schulartempfehlung stellten regelmäßig keinen Grund für Lernförderung dar. Es sei eine auf das Schuljahresende bezogene prognostische Einschätzung unter Einbeziehung der schulischen Förderangebote zu treffen. Liege die Ursache für die vorübergehende Lernschwäche in unentschuldigtem Fehlen oder vergleichbaren Ursachen und bestünden keine Anzeichen für eine nachhaltige Verhaltensänderung, sei Lernförderung ebenfalls nicht erforderlich.

Diese (teilweise) engen Formulierungen aus der Gesetzesbegründung (vgl. hierzu krit. etwa Thommes, in: Gagel, SGB II/SGB III, § 28 SGB II Rn. 33), die sich an der Versetzung in die nächste Klassenstufe orientieren, haben allerdings nicht durchgängig Eingang in den Gesetzestext gefunden. Maßgeblich ist vielmehr der Verweis auf die jeweiligen schulrechtlichen Bestimmungen, auf die daher bei der Beurteilung, ob die Lernförderung erforderlich ist, zurückgegriffen werden muss.

Allgemeine Grundsätze für die schulische Bildung enthält § 2 Abs. 3 des Hessischen Schulgesetzes (SchulG). Danach soll die Schule den Schülerinnen und Schülern die dem Bildungs- und Erziehungsauftrag entsprechenden Kenntnisse, Fähigkeiten und Werthaltungen vermitteln. Die Schülerinnen und Schüler sollen insbesondere lernen, (1.) sowohl den Willen, für sich und andere zu lernen und Leistungen zu erbringen, als auch die Fähigkeit zur Zusammenarbeit und zum sozialen Handeln zu entwickeln, [ ], (4.) sich Informationen zu verschaffen, sich ihrer kritisch zu bedienen, um sich eine eigenständige Meinung zu bilden und sich mit den Auffassungen anderer unvoreingenommen auseinandersetzen zu können, (5.) ihre Wahrnehmungs-, Empfindungs- und Ausdrucksfähigkeiten zu entfalten und (6.) Kreativität und Eigeninitiative zu entwickeln. Zudem sollen die Schulen die Schülerinnen und Schüler darauf vorbereiten, ihre Aufgaben als Bürgerinnen und Bürger in der Europäischen Union wahrzunehmen (§ 2 Abs. 4 SchulG). Dabei ist Schule nach § 3 Abs. 6 SchulG so zu gestalten, dass die gemeinsame Erziehung und das gemeinsame Lernen aller Schülerinnen und Schüler in einem möglichst hohen Maße verwirklicht wird und jede Schülerin und jeder Schüler unter Berücksichtigung der individuellen Ausgangslage in der körperlichen, sozialen und emotionalen sowie kognitiven Entwicklung angemessen gefördert wird. Es ist Aufgabe der Schule, drohendem Leistungsversagen und anderen Beeinträchtigungen des Lernens, der Sprache sowie der körperlichen, sozialen und emotionalen Entwicklung mit vorbeugenden Maßnahmen entgegenzuwirken.

Der Weg, auf dem diese allgemeinen Grundsätze konkretisiert werden, ist in § 4 Abs. 1 SchulG geregelt: Verbindliche Grundlage für den Unterricht sind danach Pläne (Kerncurricula), die übergangs- und abschlussbezogene Bildungsstandards mit fachspezifischen Inhaltsfeldern (Kern von Lernbereichen) verknüpfen und lernzeitbezogene Kompetenzerwartungen einschließlich der zugrundeliegenden Wissensstände enthalten.

Die Bildungsstandards und Kerncurricula sind durch das Hessische Kultusministerium definiert; konkret ist das Kerncurriculum für die Sekundarstufe I – Gymnasium – für die modernen Fremdsprachen einschlägig (Bildungsstandards und Inhaltsfelder – Das neue Kerncurriculum für Hessen – Sekundarstufe I – Gymnasium – Moderne Fremdsprachen; hrsg. v. Hessischen Kultusministerium, ZR., abrufbar unter: http://lsa.hessen.de/irj/servlet/prt/portal/prtroot/slimp.CMReader/HKM 15/LSA Internet/med/4c2/4c22d584-b546-821f-012f-31e2389e4818,22222222-2222-2222-2222-222222222222).

Dort (S. 5 der entsprechenden Broschüre) heißt es zu den konzeptionellen Grundlagen dieser schulrechtlichen Bestimmungen: "Das neue Kerncurriculum für Hessen ist die verbindliche curriculare Grundlage für den Unterricht an hessischen Schulen in allen Fächern der Primarstufe und der Sekundarstufe I. Wesentliches Merkmal und Anliegen seiner Konzeption ist die Darstellung eines kumulativen Kompetenzaufbaus von Jahrgang 1 bis zur Jahrgangsstufe 10 in einem einheitlichen Format. Im Mittelpunkt steht das, was alle Kinder und Jugendlichen am Ende ihrer schulischen Laufbahn (bzw. nach bestimmten Abschnitten ihres Bildungsweges) können und wissen sollen. Dies führt zur Beschreibung von Kompetenzen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt von allen Lernenden erwartet werden."

Neben den konkreten fachlichen werden dort die überfachlichen Kompetenzen besonders herausgestellt. So wird auf S. 8 ausgeführt: "Im Entwicklungsprozess der Lernenden kommt dem Aufbau überfachlicher Kompetenzen eine besondere Bedeutung zu. Dabei geht es um ein Zusammenwirken von Fähigkeiten und Fertigkeiten, personalen und sozialen Dispositionen sowie Einstellungen und Haltungen. Den Lernenden wird hierdurch ermöglicht, in der Schule, in ihrem privaten und auch in ihrem künftigen beruflichen Leben Herausforderungen anzunehmen und erfolgreich und verantwortungsvoll zu meistern. Zu einer Entwicklung in diesem Sinne tragen alle Fächer gemeinsam bei."

Dies wird (auf S. 11) weiter und in Bezug auf das hier in Rede stehende Fach Englisch (und die anderen modernen Fremdsprachen) konkretisiert; danach ist das "Erlernen moderner Fremdsprachen ( ) ein wichtiger Beitrag zur Persönlichkeitsbildung und befähigt zur Mitwirkung an gemeinschaftlichen Aufgaben in Schule, Beruf und Gesellschaft. Nahezu alle gesellschaftlichen Prozesse sind sprachlich-diskursiv gefasst. In den offenen Gesellschaften eines zusammenwachsenden Europas und einer globalisierten Welt erlangt Diskursfähigkeit dadurch eine große und zunehmende Bedeutung für den Alltag vieler Menschen. Dazu ist es notwendig, kommunikative, transkulturelle und sprachlernbezogene Kompetenzen aufzubauen, die für ein erfolgreiches und verantwortungsvolles Handeln erforderlich sind."

Dem "Einstieg" in das Erlernen fremder Sprachen kommt dabei im Lernprozess erhebliches Gewicht zu (vgl. S. 12). Auch wird die besondere Bedeutung des Englischen hervorgehoben (S. 12): "Englisch ist Lingua Franca und wird als internationale Verkehrs-, Handels- und Wissenschaftssprache verwendet. Der schulische Englischunterricht trägt diesem Aspekt in vielfältiger Art und Weise Rechnung, indem er auf konkrete sprachliche Handlungskontexte vorbereitet und damit Anwendungsbezüge ins Zentrum rückt."

Aus alldem wird deutlich, dass eine ausschließliche Orientierung an der Versetzung in die nächste Klassenstufe den Vorgaben der schulrechtlichen Bestimmungen nicht gerecht wird. Das ergibt sich schon auf Grund der dort herausgestellten besonderen Bedeutung überfachlicher Kompetenzen und der fehlenden Jahrgangsorientierung des Curriculums (vgl. S. 30, wo "lernzeitbezogene Kompetenzerwartungen" – erst – für das Ende der Jahrgangsstufe 6 formuliert sind, nicht aber für die Jahrgangsstufe 5, in der sich der Kläger befand). Konkret ist überdies die hohe Bedeutung, die die schulrechtlichen Bestimmungen dem Erlernen der ersten modernen Fremdsprache zumessen, von erheblichem Gewicht für die Bestimmung der wesentlichen Lernziele im Sinne von § 28 Abs. 5 SGB II.

Die (Gefährdung der) Versetzung kann somit nicht das einzige, wenn auch ein wichtiges Kriterium für die Beurteilung der Erforderlichkeit zusätzlich Lernförderung sein. Vielmehr verlangt der Verweis auf die schulrechtlichen Bestimmungen die Beantwortung der Frage, ob die zusätzliche Lernförderung notwendig und geeignet ist, um der Schülerin oder dem Schüler zu ermöglichen, die lernzeitbezogenen Kompetenzerwartungen zum gegebenen Zeitpunkt zu erreichen. Damit wird eine Beurteilung der konkreten Lernsituation und der schulischen Entwicklung des einzelnen Schülers sowie der möglichen Auswirkungen der Lernförderung auf die weitere Entwicklung notwendig.

Ausgehend von diesen Grundsätzen und den Vorgaben der von § 28 Abs. 5 SGB II ausdrücklich in Bezug genommenen schulrechtlichen Bestimmungen, hält die Kammer im konkreten Einzelfall – in Übereinstimmung mit der Einschätzung der zuständigen Fachlehrerin, der die Kammer erhebliche Bedeutung beimisst – eine zusätzliche Lernförderung für notwendig: Der Kläger musste damals den Einstieg in das (gymnasialen) Erlernen der ersten Fremdsprache bewältigen; dieser Schritt stellt, auch wenn dem erste Erfahrungen mit dem sogenannten Grundschulenglisch vorausgegangen waren, eine besondere Herausforderung dar. Die erfolgreiche Bewältigung dieser Situation ist für die weitere Schullaufbahn (und das Erlernen weiterer Fremdsprachen) von herausragender Bedeutung (vgl. hierzu S. 11 f. des Kerncurriculums).

Obwohl die Versetzung des Klägers zu dem Zeitpunkt, als der Beklagte prognostisch über die Erforderlichkeit der Lernförderung zu entscheiden hatte, auch nach Einschätzung der Fachlehrerin nicht gefährdet gewesen sein mag, stimmt die Kammer daher mit deren Beurteilung überein, dass in dieser Lernsituation das absehbare Absinken von einem noch schwach befriedigenden Niveau das Erreichen der wesentlichen Lernziele gefährdete.

Ein Ausgleich mit schulischen Mitteln und Angeboten war nach Einschätzung der Zeugin, an der zu zweifeln die Kammer keinen Anlass hat und die auch von dem Beklagten nicht in Frage gestellt wird, nicht möglich. Auch konnten die Eltern des Klägers, die nach ihren glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung beide kein Englisch können, ihm nicht helfen, die Defizite aufzuarbeiten. Im Ergebnis war daher die Förderung des Klägers durch ergänzende Lernförderung notwendig.

Wiederum ausgehend von der Einschätzung der Fachlehrerin, die sich schriftlich als Zeugin geäußert und im Verwaltungsverfahren Stellung genommen hat, hat die Kammer weiter keine Zweifel, dass ergänzende Lernförderung in dem von ihr empfohlenen Umfang geeignet gewesen wäre, dem Kläger das Erreichen der wesentlichen Lernziele zu ermöglichen. Schon weil es sich dabei um eine prognostische Entscheidung handelt, ist insoweit nicht von Belang, dass nach Einschätzung der Eltern des Klägers aktuell (wieder) ein Bedarf an Lernförderung besteht, ohne dass es insoweit darauf ankäme, ob dies auf die hier streitige Ablehnung zurückzuführen ist.

Bedenken gegen die Angemessenheit der Lernförderung hat der Beklagte nicht geltend gemacht und sind auch sonst nicht ersichtlich.

I Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die angesichts des Umfangs der streitigen Aufwendungen für die Lernförderung nicht von Gesetzes wegen zulässige Berufung (§ 144 Abs. Abs. 1 SGG), war durch die Kammer zuzulassen. Die Voraussetzungen hierfür (§ 144 Abs. 2 SGG) liegen vor, da die Frage, anhand welchen Maßstabs die Erforderlichkeit ergänzender Lernförderung zu beurteilen ist, namentlich ob insoweit eine Förderung allein bei einer konkreten Versetzungsgefährdung in Betracht kommt, von grundsätzlicher Bedeutung (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG) und bislang in der Rechtsprechung nicht geklärt ist.
Rechtskraft
Aus
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