S 44 (2) SO 194/09

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Duisburg (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
44
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 44 (2) SO 194/09
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die für Ch. B., geboren 05.07.19xx, in der Zeit vom 07.08.2006 bis 13.08.2008 aufgewendeten Leistungen in Höhe von 80.976,90 EUR zu erstatten.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 80.976,90 EUR festgesetzt.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Aufwendungen in Höhe 80.976,90 EUR, die die Klägerin zugunsten der am 05.07.19xx geborenen Hilfeempfängerin Ch.B. (B) in der Zeit vom 07.08.20xx bis 13.08.20xx für deren Unterbringung in einer Einrichtung aufwandt hat.

Der Kläger hatte B, die am 26.03.20xx Mutter geworden war, Hilfe zur Erziehung gemäß § 27 ff. KJHG gewährt. B lebte in der Zeit vom 02.12.20xx bis 16.01.20xx und 13.03. bis 18.03.20xx in der Einrichtung "Die Münze" in K ... Der Beklagte hatte hierfür nach Vorleistung des Klägers die Kosten im Rahmen der Gewährung von Eingliederungshilfe übernommen.

Durch Beschluss des Amtsgerichts G. vom 14.03.2006 war den Kindeseltern der B die Personensorge entzogen worden. Es war eine Ergänzungspflegschaft und das Stadtjugendamt G. zum Ergänzungspfleger bestellt worden.

Mit Wirkung ab 07.08.20xx war B in der Einrichtung "Haus an der Dorenburg" untergebracht worden. Der Kläger hatte dazu am 02.08.2006 eine Kostenzusage für Heimerziehung bzw. sonstige betreute Wohnform gemäß § 27 i.V.m. § 34 KJHG erteilt.

Mit Schreiben vom 14.11.2006 bat der Kläger den Beklagten bezugnehmend auf den Antrag auf Eingliederungshilfe aus Dezember 2005 um Kostenübernahme. Mit Schreiben vom 14.07.2007 bestätigte der Beklagte den Eingang des Antrags vom 14.11.2006. Zugleich wies er darauf hin, dass aufgrund der übersandten Testergebnisse bei B eine geistige Behinderung bestätigt werde. Da das "Haus an der Dorenburg" lediglich den Personenkreis der seelisch behinderten Menschen betreue, sei eine Unterbringung von B dort nicht geeignet.

Mit an die Ergänzungsbetreuerin gerichteten Bescheid vom 16.10.2007 hatte der Beklagte die Bewilligung von Eingliederungshilfe gemäß § 53 ff. SGB XII an B in Form von Kostenübernahme für die Unterbringung in der Einrichtung "Haus an der Dorenburg" abgelehnt. Aus vorliegenden Entwicklungsberichten vom 30.04. und 30.07.2007 gehe hervor, dass die Unterbringungnotwendigkeit für B aus den seelischen Beeinträchtigungen resultiere. Die leichte geistige Behinderung sei eine zusätzliche Beeinträchtigung und erhalte in der Jugendhilfe keine weitere speziellere Förderung im Sinne der Eingliederungshilfe. Selbst wenn eine Förderung erfolgen würde, könnte diese nicht im Sinne der Eingliederungshilfe anerkannt werden, da die Einrichtung "Haus an der Dorenburg" lediglich eine Leistungs- und Prüfungsvereinbarung für seelisch behinderte Menschen aufweisen könne. Den Widerspruch vom 13.11.2007 hatte der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20.02.2008 als unbegründet zurückgewiesen. Die dagegen vor dem Sozialgericht Duisburg erhobene Klage (S 2 SO 35/08) endete durch Klagerücknahme im Erörterungstermin vom 21.12.2009, der gemeinsam mit einem Erörterungstermin im hiesigen Klageverfahren durchgeführt worden war. Hintergrund der Klagerücknahme war ein zuvor erfolgter Hinweis des Gerichts vom 21.09.2009 gewesen, wonach der Bedarf von B durch die Leistungen des hiesigen Klägers gedeckt worden sei und es sich faktisch lediglich um ein Erstattungsverfahren zwischen dem hiesigen Kläger und der Beklagten handele.

Das Widerspruchschreiben vom 13.11.2007 gegen den Bescheid vom 16.10.2007 enthielt zugleich auch die förmliche Anmeldung eines Erstattungsanspruchs gemäß § 102 ff. SGB X für die gewährte Hilfe in der Einrichtung "Haus an der Dorenburg".

Mit Schreiben vom 14.11.2008 lehnte der Beklagte einen Erstattungsanspruch des Klägers ab. Er verwies auf den Ablehnungsbescheid vom 16.10.2007. Neue Erkenntnisse hätten sich nicht ergeben. Die Einrichtung "Haus an der Dorenburg" sei eine reine Jugendhilfeeinrichtung. Dort seien auch keine Leistungen der Eingliederungshilfe für B erbracht worden. Außerdem sei dem Beklagten erst mit Schreiben vom 14.11.2006 bekannt geworden, dass B sich bereits seit dem 07.08.2006 in der Einrichtung befinde. Er sei somit nicht bei der Suche nach einer geeigneten Unterbringung für B beteiligt gewesen.

Mit seiner am 12.08.2009 erhobenen Klage begehrt der Kläger die Erstattung der gesamten für B erbrachten Leistungen in Höhe von 80.976,90 EUR.

Er habe B tatsächlich Leistungen der Eingliederungshilfe gewährt, die der Beklagte zu erstatten habe. Wie sich aus den psychiatrisch/psychotherapeutischen Gutachten der Sachverständigen Dr. Z. vom 31.07.2009 im Verfahren S 2 SO 53/08 eingeholten Gutachten ergebe, leide B an einer psychischen Störung und einer geistigen Behinderung im Sinne einer mehrfachen Beeinträchtigung. Beide Störungen beeinträchtigten deutlich ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Die Unterbringung von B in der Einrichtung "Haus an der Dorenburg" sei als geeignet angesehen worden, B die notwendigen Hilfen zu gewähren, insbesondere das Vermitteln lebenspraktischer Fähigkeiten und der Fähigkeiten zur Einordnung in der Gemeinschaft. Die Unterbringung habe auch das Ziel gehabt, die Grundlage für einen angemessenen Schulbesuch zu schaffen und B auf eine angemessene berufliche Tätigkeit vorzubereiten. Wenn Leistungen der Eingliederungshilfe erbracht worden sind, komme es nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 22.10.2009, 5 C 19/08) nicht darauf an, ob diese Leistung im Verhältnis zu den sich damit überschneidenden Leistungen der Jugendhilfe vorrangig oder schwerpunktmäßig erbracht worden sind.

Der Kläger beantragt,

ihm die für Ch. B., geboren 05.07.19xx, in der Zeit vom 07.08.20xx bis 13.08.20xx aufgewendeten Jugendhilfeleistungen in Höhe von 80.976,90 EUR zu erstatten.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er tritt dem Erstattungsanspruch entgegen. Er meint, die Einrichtung "Haus an der Dorenburg" sei eine reine Jugendhilfeeinrichtung. Dort sei keine Leistung der Eingliederungshilfe erbracht worden. Die Unterbringungsnotwendigkeit für B resultiere aus deren seelischen Beeinträchtigungen. Die zusätzlich bestehende leichte geistige Behinderung habe in der Jugendhilfeeinrichtung keine spezielle Förderung im Sinne der Eingliederungshilfe erhalten. Selbst wenn eine Förderung.erfolgt wäre, hätte diese nicht im Sinne der Eingliederungshilfe anerkannt werden können, da die Einrichtung "Haus an der Dorenburg" lediglich eine Leistungs- und Prüfungsvereinbarung für seelisch behinderte Menschen aufweisen könne. Es sei darauf hinzuweisen, dass dem Beklagten erst mit Schreiben vom 14.11.2006 bekannt geworden sei, dass sich B bereits seit dem 07.08.20xx in der Einrichtung befunden habe. Er sei also nicht bei der Suche nach einer geeigneten Einrichtung für B beteiligt gewesen. Die seelische Behinderung sei Grund für die Unterbringung gewesen. Die leichte geistigen Behinderung sei demgegenüber nachrangig gewesen.

Seit dem 12.09.20xx erhalte B von ihm ambulante Eingliederungshilfe in Form von selbständigem Wohnen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Prozessakten und der Verwaltungsvorgänge des Klägers und des Beklagten sowie der beigezogenen Akte des Sozialgerichts Duisburg, S 2 SO 53/08, in der sich das psychiatrisch/psychotherapeutische Gutachten von Dr. Z. vom 31.07.2009 befindet. Diese Akten haben vorgelegen und sind ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der Beratung und Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem sich die Beteiligten übereinstimmend mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben.

Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Erstattung von 80.976,90 EUR gegen den Beklagten. Der Erstattungsanspruch gegen den Beklagten hat seine Grundlage in § 104 Abs. 1 SGB X. Hat danach ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die Voraussetzung von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, so ist der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Ein Erstattungsanspruch besteht dann nicht, soweit der nachrangige Leistungsträger seine Leistung auch bei Leistung des vorrangig verpflichteten Leistungsträgers hätte erbringen müssen. Gemäß § 104 Abs. 3 SGB X richtet sich der Umfang des Erstattungsanspruch nach den für den vorrangig verpflichteten Leistungsträger geltenden Vorschriften.

Der Kläger hat der Hilfebedürftigen B Jugendhilfeleistungen erbracht, obwohl der Beklagte Leistungen der Eingliederungshilfe hätte erbringen müssen. Unter Bezugnahme auf den Antrag auf Eingliederungshilfe aus Dezember 2005 für B hatte der Beklagte mit Schreiben vom 14.11.2006 Kostenübernahme im Rahmen von Eingliederungshilfe für Jugendliche beantragt und darin unter anderem auf die seit 07.06.20xx fortlaufende Unterbringung von B im "Haus an der Dorenburg" hingewiesen. Darin liegt die rechtzeitige Anmeldung des Erstattungsanspruchs im Sinne von § 111 SGB X.

Bei der Hilfebedürftigen B handelt es sich um einen Fall von Mehrfachbehinderungen, für den nach §§ 53, 54 SGB XII Leistungen der Eingliederungshilfe zu erbringen waren und sind. Bei ihr liegen wohl eine seelische als auch eine geistige Behinderung vor. Dies ergibt sich aus dem im Verfahren S 2 SO 53/08 eingeholten psychiatrisch/psychotherapeutischen Gutachten der Sachverständigen Dr. Z. vom 31.07.2009, das von den Beteiligten in das vorliegende Klageverfahren eingeführt worden ist. Danach lag bei B zum Zeitpunkt der Untersuchung am 30.05. und 03.06.2009 eine unreife Persönlichkeitsstörung und Anpassungsstörung als reaktiv depressive Anpassungsstörung sowie eine nachgewiesene leichte Intelligenzminderung mit deutlicher Verhaltensstörung bei Intelligenz- oder Entwicklungsalter von knapp 12 Jahren vor. Eine Lernbehinderung lag nicht vor. Dabei handelt es sich um eine wesentliche Mehrfachbehinderung mit seelischer Behinderung aufgrund von Trennungs- und Verlusterlebnissen innerfamiliär und emotionaler Vernachlässigung und Missbrauchs sowie auch um eine geistige Behinderung. Wenngleich die unterdurchschnittliche Gesamtintelligenz die seelische Störung verschlimmert hat, sind nach Einschätzung der Sachverständigen die abnormen innerfamiliären Beziehungen und Bindungen geprägt von Disharmonie, Mangel an Wärme und Sorge, Desinteresse und emotionalen Missbrauchs im besonderen Maße für die Entwicklung der seelischen Störung im Sinne von Belastungsfaktoren ursächlich gewesen. Seelische und geistige Behinderung im Sinne eines ungünstigen Ineinandergreifens seien ursächlich für den aktuellen retardierten Entwicklungsstand. Das wiederholte Weglaufen, das zur Unterbringung im "Haus an der Dorenburg" geführt hatte, sei als Folge der seelischen Störung und nicht der Intelligenzminderung zu verstehen. Eine Unterbringung der Klägerin im "Haus an der Dorenburg" bzw. einer Einrichtung des betreuten Wohnens sei sinnvoll gewesen und weiterhin sinnvoll. Soweit der Beklagte daraus die Schlussfolgerung zieht, dass alleine die seelische Behinderung ausschlaggebend für die Notwendigkeit der durch den Kläger erfolgten Hilfeleistung gewesen ist, folgt das Gericht dem nicht. Die Sachverständige stellt eindeutig einen Zusammenhang zwischen der seelischen und geistigen Behinderung im Sinne eine Verzahnung und Verstärkung der seelischen Behinderung durch die geistige Behinderung dar. Daraus ergibt sich, dass die Hilfen, die B im Zusammenhang mit ihrer seelischen Behinderung gewährt worden sind, zugleich auch Hilfen zur Förderung im Zusammenhang mit ihrer geistigen Behinderung gewesen sind. Gerade das Gewinnen an Alltagskompetenz, der Strukturierung des Tagesablaufes und des Erlernens sozialadäquaten Verhaltens auch im Sinne einer Distanzwahrung, dienen der Förderung der Teilhabe von B am Leben in der Gesellschaft, worauf der Kläger zutreffend hingewiesen hat. Das BSG hat in seinem Urteil vom 24.03.2009, B 8 SO 29/07 R, im Anschluss an die vom Kläger zitierte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts das Konkurrenzverhältnis zwischen Leistung der Jugendhiilfe und Leistung der Eingliederungshilfe für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert sind, zulasten der Sozialhilfe gelöst, wenn grundsätzlich doppelte Leistungspflicht besteht und die Leistungen gleich, gleichartig, einander entsprechen, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind. Die Hilfebedürftige B bedarf nach dem Ergebnis der Begutachtung durch die Sachverständige Dr. Z. Hilfe sowohl bei der Bewältigung ihrer seelischen wie ihrer geistigen Behinderung. Die zu gewährenden Hilfen überschneiden sich auch, denn wegen der Doppelbehinderung der B können Hilfen zur Bewältigung der geistigen Behinderung nur erfolgreich erfolgen, wenn gleichzeitig auch Hilfen zur Bewältigung der seelischen Behinderung der B stattfinden. Umgekehrt haben die Hilfen zur Bewältigung der seelischen Behinderung immer auch einen Ausgleichseffekt bei der geistigen Behinderung der B.

Unerheblich ist, dass die tatsächlich gewährte Hilfe im "Haus an der Dorenburg" als Jugendhilfe geleistet worden ist und keine gezielte Förderung hinsichtlich der geistigen Behinderung der hilfebedürftigen B erfolgt ist. Maßgeblich für die Erstattungspflicht ist nicht, welche Hilfe hätte gewährt werden müssen, sondern welche Hilfe tatsächlich gewährt worden ist, jedenfalls dann, wenn bei Doppelbehinderungen tatsächliche Hilfeleistung erfolgt ist. Unerheblich ist auch der Zeitpunkt, an dem der Beklagte von Unterbringung der B im "Haus an der Dorenburg" erfahren hat. Dieser Zeitpunkt ist lediglich maßgeblich im Sinne von § 111 SGB X als fristwahrend für die Geltendmachung des Erstattungsanspruchs. Unerheblich ist auch, dass der Beklagte vorher an der Auswahl des Heims keine Mitwirkungsmöglichkeit hatte. Das ist in Fällen, in denen zunächst der unzuständige Leistungsträger Leistungen erbringt eher typisch. Im Gegenteil muss der Beklagte sich vorhalten lassen, dass er der eine Förderungspflicht für die Hilfebedürftige B für vorangegangene Zeiträume grundsätzlich anerkannt hat, nach Bekanntwerden der aus seiner Sicht fehlerhaften Unterbringung im ausgewählten Heim nicht initiativ geworden ist und für eine andere Heimunterbringung gesorgt hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a Abs. 1 SGG i.V.m. § 154 VwGO. Die Entscheidung über den Streitwert ergibt sich aus dem geltend gemachten Klageanspruch.
Rechtskraft
Aus
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