S 14 AS 159/10

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
14
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 14 AS 159/10
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um einen krankheitsbedingten Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung.

Der 44-jährige Kläger steht im laufenden Bezug von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II). Im Januar 2009 beantragte er die Bewilligung eines zusätzlichen krankheitsbedingten Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung und legte hierzu eine Bescheinigung des Allgemeinmediziners Dr. R. vor, der als Diagnose eine chronischen Pankreatitis angab. Seit Februar 2009 bewilligte der Beklagte hierauf einen Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung in Höhe von monatlich 30,68 Euro, dies allerdings unter Zugrundelegung der Erkrankung Hyperurikämie.

Im Juli 2009 beantragte der Kläger die Bewilligung eines weiteren krankheitsbedingten Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung wegen der Erkrankung Laktoseintoleranz. Diesen Antrag legte der Beklagte dem Gesundheitsamt vor, das in einer Stellungnahme die Gewährung eines Mehrbedarfs für diese Erkrankung für 12 Monat entsprechend des Mehrbedarfs für eine colitis ulcerosa empfahl. Hierauf bewilligte der Beklagte mit Änderungsbescheid vom 26.08.2009 neben dem bereits gewährten einen weiteren Mehrbedarf in Höhe von 25,56 Euro monatlich für die Monate Juli und August 2009.

Mit weiterem Bescheid vom 26.08.2009 wurde der Mehrbedarf von insgesamt 56,24 Euro auch für die Monate September 2009 bis Februar 2010 bewilligt. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein, der Mehrbedarf für die Laktoseintoleranz sei falsch berechnet, insgesamt sei vielmehr ein Mehrbedarf von 71,58 Euro anzuerkennen. Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11.01.2010 zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 11.02.2010 Klage erhoben.

Mit Bescheid vom 18.01.2010 bewilligte der Beklagte dem Kläger Leistungen für den Zeitraum 01.03. bis 31.8.2010 unter Gewährung eines Mehrbedarfs in Höhe von 36,00 Euro monatlich. Diesbezüglich hat der Kläger am 18.06.2010 einen Überprüfungsantrag gestellt, der mit Bescheid vom 28.06.2010 zurückgewiesen worden ist. Den hiergegen gerichteten Widerspruch hat der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 22.07.2010 zurückgewiesen.

Der Kläger trägt vor, für die Erkrankung Laktoseintoleranz sei ein Mehrbedarf von 71,58 Euro anzuerkennen. Dies ergebe sich aus einschlägiger höchstrichterlicher Rechtsprechung.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 26.08.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.01.2010 und unter Aufhebung des Bescheids vom 28.06.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.07.2010 und Abänderung des Bescheids vom 18.01.2010 zu verurteilen, dem Kläger Leistungen der Grundsicherung in Form von Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung in Höhe von insgesamt 71,58 Euro monatlich im Zeitraum vom 01.07.2009 bis 31.08.2010 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte bezieht sich im Wesentlichen auf die Begründungen der angefochtenen Bescheide. Er ist der Auffassung, als Mehrbedarf für Laktoseintoleranz sei ein Betrag von 36,00 Euro jedenfalls ausreichend bemessen.

Das Gericht hat gemäß §§ 103, 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Beweis erhoben durch Einholung eines ernährungsmedizinisches Gutachten von Frau Dr. I ...

Wegen des Inhalts und Ergebnisses des Gutachtens, sowie auch wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da diese rechtmäßig sind. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung eines höheren Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung.

Streitgegenstand ist der Zeitraum vom 01.07. bis 31.08.2009 (Änderungsbescheid vom 26.08.2009), vom 01.09.2009 bis 28.02.2010 (Bewilligungsbescheid vom 26.08.2009) und vom 01.03. bis 31.08.2010 (Bewilligungsbescheid vom 18.01.2010 bzw. der hierzu ergangene Überprüfungsbescheid vom 28.06.2010). Der Kläger hat die Klage zwar ohne nähere Darlegung des angefochtenen Zeitraumes begründet, beigefügt als Anlage war der Änderungsbescheid vom 26.08.2009. Im Widerspruchsbescheid vom 11.01.2010 hat der Beklagte jedoch ohne zeitliche Beschränkung über den Zeitraum ab 01.07.2009 beschieden, so dass hiervon sowohl Änderungs- als auch Bewilligungsbescheid erfasst gewesen sind, folglich der Zeitraum von Juli 2009 bis Februar 2010. Der Zeitraum vom 01.03. bis 31.08.2010 ist ebenfalls Streitgegenstand geworden. Dies folgt zwar nicht aus § 96 SGG, weil der angefochtene Zeitraum davon nicht betroffen ist und insoweit keine Ersetzung vorliegt, jedoch aus § 99 Abs. 1 SGG im Wege der Klageerweiterung. Der Beklagte hat der Einbeziehung des im Wege des Überprüfungsantrags beschiedenen Zeitraums nicht widersprochen und die Prozessvoraussetzungen liegen vor, insbesondere ist das Widerspruchsverfahren gemäß § 78 SGG durchgeführt worden. Die Einbeziehung war bei der selben Grundproblematik zur Vermeidung eines weiteren Rechtsstreits auch sachdienlich im Sinne des § 99 Abs. 1 SGG (vgl. auch Bundessozialgericht, Urteil vom 03.09.2009, Az. B 4 AS 37/08 R; Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage 2008, § 99 Rn. 2b).

Anspruchsgrundlage für die Gewährung eines ernährungsbedingten Mehrbedarfs ist § 21 Abs. 5 SGB II. Danach erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige, die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, einen Mehrbedarf in angemessener Höhe. Erforderlich ist danach die Feststellung einer Erkrankung, die Notwendigkeit einer kostenaufwändigen Ernährung und schließlich die Ursächlichkeit der Krankheit für den Mehraufwand (vgl. Münder in: LPK-SGB II, 3. Aufl. 2009, § 21 Rn. 25).

In Bezug auf einen Mehrbedarf wegen Hyperurikämie und wegen chronischer Pankreatitis fehlt es bereits an der Tatbestandsvoraussetzung der Erkrankung. Es ist nämlich nicht bewiesen, dass der Kläger überhaupt an diesen Erkrankungen leidet. Dies entnimmt die Kammer dem ausführlichen Gutachten von Frau Dr. I. Es handelt sich um die Feststellungen einer erfahrenen Sachverständigen, die in Kenntnis und unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Vorbefunde sowie nach Durchführung umfangreicher Untersuchungen zu ihren Bewertungen gekommen ist. Es sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass die Sachverständige Befunde nicht richtig erhoben oder bewertet hat. Eine Hyperurikämie ist nach den Ausführungen der Gutachterin ausgeschlossen. Diesbezügliche Laborwerte oder ärztliche Bescheinigungen gibt es nicht. Nach den Ausführungen der Gutachterin muss es sich um ein Missverständnis gehandelt haben. Dieser Ansicht ist auch die Kammer, zumal im ersten Antrag des Klägers die Diagnose einer chronischen Pankreatitis angegeben wurde. Es handelt sich daher offenbar um eine versehentliche Falschbezeichnung bei der Bewilligung des Mehrbedarfs. Der Kläger leidet aber auch nicht an einer chronischen Pankreatitis. Hierzu führt die Gutachterin aus, dass die diesbezüglichen aussagekräftigen Parameter, die Enzyme Lipase und Amalyse im sicheren Normbereich liegen. Auch die Hausärztin hat bis auf eine Ausnahme nur Werte im Normbereich feststellen können. Im Rahmen eines stationären Aufenthalts im Jahr 2003 ist lediglich eine akute Pankreatitis mit weiterem Verdacht auf beginnende Pankreatitis festgestellt worden. Die Enzymwerte waren jedoch bereits während des stationären Aufenthalts rückläufig, ein Zusammenhang mit dem seinerzeitigen Alkohol-Abusus wurde vermutet. Diesen Ausführungen entnimmt die Kammer, dass der Kläger nicht unter einer chronischen Pankreatitis leidet, zumal die übrigen Stoffwechselwerte wie Fette, Harnsäure sowie die Werte von Leber, Schilddrüse und Nieren allesamt nach den Feststellungen der Gutachterin im Normbereich liegen.

Gesichert ist nach den Feststellungen der Gutachterin allein die Diagnose Laktoseintoleranz. Ein Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung gemäß § 21 Abs. 5 SGB II kommt folglich nur wegen dieser Erkrankung in Betracht. Zur Bestimmung der Höhe des Mehrbedarfs für eine Erkrankung sind in der Regel die Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. zugrunde zu legen. Die Empfehlungen des Deutschen Vereins sind zwar weder als Rechtsnormen, noch als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen. Sie können aber nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts im Regelfall zur Konkretisierung des angemessenen Mehrbedarfs im Sinne des SGB II herangezogen werden (Urteile des Bundessozialgerichts vom 27. Februar 2008, Az. B 14/7b AS 64/06 R und Az. B 14/7b AS 32/06 R). Im Einzelfall ist sodann bei entsprechenden Anhaltspunkten zu prüfen, ob ein veränderter Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse oder individuelle Besonderheiten zu abweichenden Ergebnissen führen können (vgl. Münder in: LPK-SGB II, 3. Auflage 2009, § 21 Rn. 28).

In den Empfehlungen des Deutschen Vereins vom Oktober 2008 ist die Erkrankung Laktoseintoleranz nicht ausführlich aufgeführt. In solchen Fällen nicht ausdrücklich erwähnter Erkrankungen ist entsprechend der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 27. Februar 2008, Az. B 14/7b AS 64/06 R) die Höhe des Mehrbedarfs im Wege der Amtsermittlung im Einzelfall zu klären, vgl. auch Punkt III. 4 der Empfehlungen. Dem ist das Gericht durch Einholung des ernährungswissenschaftlichen Gutachtens nachgekommen. Die Gutachterin führt darin aus, dass der monatliche Mehrbedarf für Lebensmittel bei Laktoseintoleranz zwischen 10 und 20 Euro liegen kann. Unter Zugrundelegung der zuvor erhobenen individuellen Verzehrgewohnheiten des Klägers mit abwechslungsreicher, gesunder und relativ ausgewogener Kost und bei Annahme einer Mahlzeit pro Woche außer Haus, insbesondere also bei Beachtung des individuellen Milch-, Joghurt- und Käsekonsums des Klägers errechnet die Gutachterin folgende Mehrbedarfe: laktosefreie Milch 1,20 Euro pro Monat, Joghurt 2,80 Euro pro Monat, Frischkäse bzw. Quark 1,20 Euro pro Monat, Sahne 1,60 Euro pro Monat, Laktase-Tabletten bis 3,30 pro Monat. Diese Berechnungen hält die Kammer unter Beachtung des vom Kläger vorgelegten Speiseplans für nachvollziehbar und überzeugend. Insbesondere kann der Laktoseintoleranz in erster Linie durch das Vermeiden bestimmter Produkte begegnet werden. Unter Einrechnung einer Toleranz für den höheren Verbrauch solcher Produkte geht die Kammer danach davon aus, dass ein Mehrbedarf von insgesamt 20,00 Euro pro Monat jedenfalls ausreichend ist, und damit die obere Grenze des von der Gutachterin vorgeschlagenen Wertes.

Nicht zu folgen vermag die Kammer insbesondere der Auffassung des Klägers, bei der Erkrankung Laktoseintoleranz sei stets von einem Mehrbedarf in Höhe von 71,58 Euro auszugehen. Hierfür fehlt es zur Überzeugung der Kammer nicht nur an einem normativen Anknüpfungspunkt, auch den Empfehlungen des Deutschen Vereins und insbesondere der Rechtsprechung ist ein solcher feststehender Betrag nicht zu entnehmen. Dies gilt insbesondere für das vom Kläger angeführte Urteil des Bayerischen LSG vom 13.09.2007, Az. L 11 AS 258/06. Denn in dem dortigen Fall hatte der beklagte Leistungsträger bei einer gesicherten Laktoseintoleranz als Mehrbedarf pauschal und ohne Feststellungen zu den konkreten Mehraufwendungen einfach den höchsten vorgegebenen Betrag der Empfehlungen des Deutschen Vereins aus dem Jahr 1997 angenommen. Dies hat das Bayerische LSG nicht beanstandet, es hat lediglich die Höhe dieses Höchstbetrags fortgeschrieben. Das Bundessozialgericht hat die Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen. In der Sache haben damit weder das Bundessozialgericht, noch das Bayerische LSG eine allgemeine Vorgabe für den bei Laktoseintoleranz zu gewährenden Mehrbedarf gemacht. Mit dem konkreten Mehrbedarf bei dieser speziellen Erkrankung hat sich das Bayerische LSG im Gegenteil nicht ansatzweise auseinandergesetzt, weil es den höchsten Mehrbedarfssatz jedenfalls als ausreichend angesehen hat. Die Kammer hält eine Anwendung von Werten der seit 2008 nicht mehr aktuellen Empfehlungen des Deutschen Vereins außerdem für nicht begründbar. Die Kammer legt vielmehr die eindeutige (und im Übrigen nach der Entscheidung des Bayerischen LSG ergangene) Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zugrunde, wonach die Höhe des Mehrbedarfs grundsätzlich in jedem Einzelfall im Wege der Amtsermittlung zu klären ist (BSG, Urteil vom 27. Februar 2008, Az. B 14/7b AS 64/06 R).

Hiernach ergibt sich unter Beachtung der dem Kläger bereits bewillgten Mehrbedarfe in Höhe von monatlich 56,24 Euro (Juli 2009 bis Februar 2010) und 36,00 Euro (März 2010 bis August 2010), dass der Kläger keinen Anspruch auf Gewährung eines höheren Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung hat.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

Die Berufung ist nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG nicht zulässig, da die Berufungssumme von 750,00 Euro nicht erreicht wird. Der Kläger begehrt höhere Leistungen im Wert von (71,58 minus bereits bewilligter 56,24 / 8 Monate =) 122,72 Euro und (71,58 minus bereits bewilligter 36,00 / 6 Monate =) 213,48 Euro, insgesamt 336,20 Euro. Gründe, die Berufung nach § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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