S 20 SO 97/11 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SO 97/11 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 07.06.2011 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 20.04.2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.05.2011 und gegen den Bescheid vom 10.05.2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.05.2011 wird angeordnet. Der Antragsgegner trägt die Kosten des für ihn gerichtskostenfreien Verfahrens. Der Streitwert wird endgültig auf 1.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe:

I.

Der Antragsteller (Ast.) begehrt einstweiligen Rechtsschutz gegen Vollstreckungsmaßnahmen des Antragsgegners (Ag.).

Der Ast. ist der Ehemann der Beigeladenen, die eine Tochter des am 00.00.0000 geborenen, inzwischen verstorbenen K. E. ist. Dieser erhielt vom Ag. seit dem 01.11.2009 Hilfe zum Lebensunterhalt sowie Hilfe zur Pflege in einer stationären Einrichtung nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) in Höhe von monatlich ca. 1.000,00 EUR. Durch bestandskräftigen Bescheid vom 06.11.2009 zeigte der Ag. der Beigeladenen die Überleitung eines (möglicherweise bestehenden) Unterhaltsanspruches ihres Vaters gegen sie an und ersuchte sie, Auskünfte über ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse zu erteilen, u.a. durch Vorlage von Einkommensbescheinigungen der letzten zwölf Monate, des letzten Einkommensteuerbescheides und weiterer Beweisurkunden. Diesem Auskunftsersuchen kam die Beigeladene nicht nach. Der Ag. erhob in diesem Zusammenhang eine Stufenklage gegen die Beigeladene auf Auskunft und ggf. Zahlung beim Amtsgericht E. (23 F 188/10). Nach einer am 16.05.2011 durchgeführten Beweisaufnahme durch Vernehmung der Beigeladenen und drei Zeuginnen wies das Amtsgericht E. durch Beschluss vom 06.06.2011 die Anträge des Ag. ab mit der Begründung, er habe weder einen Anspruch auf Erteilung von Auskunft noch auf Zahlung von Unterhalt für Herrn K. E. gegen die Beigeladene.

Im Vorfeld dieser amtsgerichtlichen Entscheidung hatte der Ag. durch Bescheid vom 10.06.2010 und Widerspruchsbescheid vom 28.07.2010 den Ast. unter Hinweis auf § 117 Abs. 1 SGB XII zur Erteilung von Auskünften über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse zur Klärung der Unterhaltsfähigkeit seiner Ehefrau aufgefordert und die sofortige Vollziehung unter Hinweis auf das überwiegende öffentliche Interesse angeordnet. Da der Ast. dem Auskunftsersuchen nicht innerhalb der gesetzten Frist nachgekommen war, hatte der Ag. durch Bescheid vom 25.06.2010 und Widerspruchsbescheid vom 27.07.2010 eine Nachfrist von einer Woche gesetzt und für den Fall, dass dem Ersuchen nicht fristgerecht oder nicht ausreichend nachgekommen werde, ein Zwangsgeld von 250,00 EUR angedroht. Den dagegen gerichteten Antrag des Ast. auf Aussetzung des Verfahrens bis zum Abschluss des Familiengerichtsverfahrens hatte der Ag. durch Bescheid vom 19.07.2010 und Widerspruchsbescheid vom 22.07.2010 abgelehnt. Die gegen diese Bescheide erhobene Klage des Ast. hatte das Sozialgericht durch rechtskräftiges Urteil vom 01.03.2011 (S 20 SO 110/10 – nicht zuletzt im Hinblick auf den noch gänzlich offenen Ausgang des familiengerichtlichen Verfahrens – abgewiesen.

Als der Ast. daraufhin zwar Einkommensunterlagen vorlegte, nach Einschätzung des Ag. jedoch nicht fristgerecht und nicht in ausreichendem Umfang, setzte der Ag. durch Bescheid vom 20.04.2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.05.2011 das angedrohte Zwangsgeld von 250,00 EUR fest und drohte für den Fall, dass der Ast. der Ordnungsverfügung vom 25.06.2010 nicht innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe dieses Bescheides nachkomme, ein weiteres Zwangsgeld in Höhe von 500,00 EUR an. Nach fruchtlosem Ablauf der Frist setzte der Ag. durch weiteren Bescheid vom 10.05.2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.05.2011 auch das angedrohte Zwangsgeld von 500,00 EUR fest und drohte für den Fall, dass der Ordnungsverfügung vom 25.06.2010 nicht innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe dieses Bescheides nachgekommen werde, ein weiteres Zwangsgeld in Höhe von 750,00 EUR an.

Entsprechend den (unrichtigen) Rechtsbehelfsbelehrungen in den beiden Widerspruchsbescheiden hat der Ast. am 07.06.2011 Klage beim Verwaltungsgericht erhoben und zugleich um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Er weist zum einen daraufhin, dass er im Nachgang des sozialgerichtlichen Verfahrens Auskunft erteilt habe; zum anderen verweist er auf den zwischenzeitlich ergangenen Beschluss des Amtsgerichts E. vom 06.06.2011. Unter Abwägung der beiderseitigen Interessen sei es weder erforderlich noch geboten, weiter Zwangsgelder anzudrohen, festzusetzen und daraus zu vollstrecken. Spätestens durch die Überleitungsanzeige sei der Ag. ausreichend gesichert. Im familiengerichtlichen Verfahren habe sich eindrucksvoll herausgestellt, dass Unterhaltsansprüche gegenüber der Beigeladenen nicht bestünden und bestanden hätten, deshalb auch nicht auf den Ag. hätten übergeleitet werden können. Die weitere Festsetzung von Zwangsgeldern, die Vollstreckung derselben und die Nichtaussetzung der sofortigen Vollziehung sei rechtsmissbräuchlich, willkürlich und unverhältnismäßig; der Ag. verstoße durch das weitere Festhalten auch gegen das Schikaneverbot.

Der Antragsteller beantragt schriftsätzlich,

die aufschiebende Wirkung der Klage vom 07.06.2011 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 20.04.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.05.2011 und gegen den Bescheid vom 10.05.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.05.2011 anzuordnen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Er vermag der Ansicht des Ast., die Beweisaufnahme im Verfahren gegen die Beigeladene habe klar ergeben, dass sich deren inzwischen verstorbener Vater an seinen Töchtern und seiner Enkelin sexuell vergangen habe, nicht zu folgen. Die Zeugenaussagen seien nicht so unzweifelhaft, wie es der Ast. sehe. Der zweifelsfreie Beweis der vorgebrachten Beschuldigungen sei auch im Beweistermin nicht gelungen. Seine – des Ag. – Prüfung der Begründung des Beschlusses des Amtsgerichts E. habe ergeben, dass ernsthafte Zweifel bestehen, dass bei der Beschlussfindung alle Umstände richtig bewertet worden seien bzw. überhaupt Eingang in die Entscheidungsfindung gefunden hätten. Er werde gegen den Beschluss des Amtsgerichts E. vom 06.06.2011 Beschwerde einlegen.

Das Verwaltungsgericht hat die Streitsache zuständigkeitshalber an das Sozialgericht verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen den Ast. betreffende Verwaltungsakte des Ag. sowie der Gerichtsakte S 20 SO 110/10 (SG Aachen), die bei der Entscheidung vorgelegen haben, Bezug genommen.

II.

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist zulässig.

Es besteht ein Rechtsschutzbedürfnis für den beim Gericht gestellten Antrag, weil der Ag. bereits im Vorverfahren die zugleich mit den Widersprüchen gegen die Bescheide vom 20.04. und 10.05.2011 gestellten Anträge des Ast. auf Aussetzung der sofortigen Vollziehung in den Widerspruchsbescheiden vom 06.05. und 27.05. 2011 abgelehnt hat (vgl. § 86a Abs. 3 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG).

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist auch gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG begründet.

Nach § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Die aufschiebende Wirkung ist Ausprägung des Grundsatzes der Garantie des effizienten Rechtschutzes, der sich aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz ableitet; sie ist ein fundamentaler Grundsatz des öffentlich-rechtlichen Verfahrens. Denn durch die aufschiebende Wirkung soll verhindert werden, dass vollendete Tatsachen geschaffen werden, bevor die Gerichte die Rechtmäßigkeit überprüfen konnten (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 9. Auflage, § 86a Rn. 4 unter Hinweis auf BVerfGE 35, 263, 274). Der Grundsatz der aufschiebenden Wirkung gilt jedoch nicht ausnahmslos. Nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit kann es in Ausnahmefällen gerechtfertigt sein, den Anspruch auf aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs einstweilen zurückzustellen. Voraussetzung hierfür ist jedoch ein besonderes Interesse. Es muss über das Interesse hinausgehen, dass den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 25.01.1996 – 2 BvR 22718/95).

Soweit der Ag. in den Bescheiden vom 20.04 und 10.05.2011 jeweils darauf hingewiesen hat, dass Rechtsbehelfe gegen diese Bescheide des Verwaltungszwangs gem. § 8 des Ausführungsgesetzes zur Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) keine aufschiebende Wirkung hätten, verkennt er, dass im vorliegenden Verfahren nicht die VwGO, sondern das SGG einschlägig ist. Der Gesetzgeber des SGG hat die Ausnahmen, in denen die aufschiebende Wirkung entfällt, in § 86a Abs. 2 SGG enumerativ geregelt. Die Fallvarianten der Nrn. 1 bis 4 des § 86a Abs. 2 SGG liegen ersichtlich nicht vor. Der Ag. hat aber von der Möglichkeit des § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG Gebrauch gemacht. Danach kann in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten ist und die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, die sofortige Vollziehung mit schriftlicher Begründung des besonderes Interesses an der sofortigen Vollziehung anordnen. Der Ag. hat in den Bescheiden vom 20.04. und 10.05.2011 jeweils die sofortige Vollziehung angeordnet, indem er den Ast. aufgefordert hat, die festgesetzte Zwangsgeldbeträge "sofort nach Zustellung dieser Verfügung" zu überweisen, anderenfalls die Beitreibung im Verwaltungszwangsverfahren erfolge; in den beiden Widerspruchsbescheiden vom 26.05. und 27.05.2011 hat er ausdrücklich an der sofortigen Vollziehung festgehalten, in dem er die dagegen gerichteten Anträge abgelehnt hat.

Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen.

Dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist bereits deshalb stattzugeben, weil die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Zwangsgeldbescheide durch den Ag. nicht den gesetzlichen Vorgaben entspricht. Anders als in den früheren Bescheiden, die Gegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens S 20 SO 110/10 waren, fehlt es in den hier streitbefangenen Bescheiden vom 20.04 und 10.05.2011 und den dazu ergangenen Widerspruchsbescheiden bereits im Ansatz an der von § 86a Abs. 2 Satz 5 SGG geforderten schriftlichen Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung. Der Grund dafür liegt möglicherweise darin, dass der Ag. – rechtsirrig – von einer gemäß § 8 des Ausführungsgesetzes zur VwGO bestehenden aufschiebenden Wirkung ausging. Um einer Anordnung nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG zu genügen, ist eine Begründung erforderlich, aus der hervorgeht, warum in diesem besonderen Einzelfall ausnahmsweise von der grundsätzlichen Wertentscheidung des Gesetzgebers zu Gunsten der aufschiebenden Wirkung von Rechtsbehelfen gegen den betreffenden Bescheid abgewichen wird (LSG NRW, Beschluss vom 27.09.2010 – L 6 AS 777/10 B ER; Beschluss vom 11.01.2006 – L 1 B 18/05 AS ER – m.w.N.). Bei der Prüfung nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG wird die Begründung der Vollziehbarkeitsanordnung daraufhin untersucht, ob sie eine auf den konkreten Einzelfall abstellende Darstellung des besonderen öffentlichen Interesses bzw. Drittinteresses an der sofortigen Vollziehung beinhaltet und Gründe nennt, die in der Sache geeignet sind, die Anordnung zu tragen (LSG NRW, Beschluss vom 27.09.2010 – L 6 AS 777/10 B ER). An einer diesen Vorgaben genügenden Begründung fehlt es in allen angefochtenen Bescheiden. Wenn es aber bereits an einer ausreichenden Begründung der Vollzugsanordnung fehlt, bedarf es keiner (summarischen) Prüfung der Rechtsmäßigkeit des Bescheides mehr (LSG NRW a.a.O.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.01.2008 – L 10 B 2195/07 AS ER).

Im Übrigen dürfte es nach der vom 06.06.2011 verkündeten Entscheidung des Familiengerichts E. auch an einem dringenden Vollzugsinteresse des Ag. fehlen. Es ist nicht nur, wie der Ag. in der Antragserwiderung dargestellt hat, die Ansicht des Ast., sondern auch und insbesondere die des Amtsgerichts E., dass die Beweisaufnahme vom 16.05.2011 ergeben hat, dass "keine Zweifel" bestehen, dass es 1986 zu einer Vergewaltigung einer der vernommenen Zeuginnen, einer Tochter der Beigeladenen, durch deren Vater, den Großvater der Zeugin, gekommen ist. Dieser hat damit – so das Amtsgericht – seinen Unterhaltsanspruch und damit auch den Auskunftsanspruch und die weiteren geltend gemachten Ansprüche vollständig verwirkt. Ausweislich des sich in der Verwaltungsakte des Ag. befindlichen Protokolls des Beweistermins vom 16.05.2011 hat das Amtsgericht die Beigeladene und drei Zeuginnen ausführlich angehört; die Sitzungsniederschrift umfasst acht Seiten. Mit dem Inhalt der Aussagen der Beigeladenen und der drei Zeuginnen hat sich das Amtsgericht im Beschluss vom 06.06.2011 ebenfalls ausführlich auseinandergesetzt. Bei dieser Sach- und Rechtslage bedarf es für die Begründung eines aktuell noch bestehenden dringenden Interesses des Ag. am (sofortigen) Vollzug der Zwangsgeldbescheide und insbesondere auch weiterer Zwangsmaßnahmen, die der Ag. in der Antragserwiderung für die Zeit ab dem 01.08.2011 angekündigt hat, mehr als nur des Hinweises, dass der Ag. der Ansicht des Ast. hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme im Familiengerichtsverfahren nicht folgen könne und die Zeugenaussagen nicht so unzweifelhaft gewesen seien, wie es der Ast. sehe.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 1, 161 Abs. 1, 162 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertentscheidung folgt aus § 197a Abs.1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 39 Abs.1, 52 Abs. 1, 53 Abs. 3 Nr. 4 Gerichtskostengesetz (GKG). In den angefochtenen Bescheiden wurden Zwangsgelder von insgesamt 750,00 EUR festgesetzt; zugleich wurden weitere Zwangsgelder von insgesamt 1.250,00 EUR angedroht; daraus errechnet sich ein Gesamtbetrag von 2.000,00 EUR. Da es sich vorwiegend (nur) um ein Verfahren des vorläufigen Rechtschutzes handelt, ist als Streitwert die Hälfte dieses Betrages angemessen.
Rechtskraft
Aus
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