L 7 AS 107/11 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 26 AS 30/11 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 107/11 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Der Leistungsausschluss für Ausländer nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II gilt für Unionsbürger aufgrund des Gebots der Inländergleichbehandlung aus Art. 4 VO (EG) 883/2004 zumindest dann nicht, wenn sie Leistungen nach Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 erhalten oder erhalten haben.

2. Familienangehörige im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU einer freizügigkeitsberechtigten Person sind nicht die nichtehelichen Partner.

3. Erwerbsfähig nach § 8 Abs. 2 SGB II ist ein Unionsneubürger aus Rumänien oder Bulgarien bereits dann, wenn er allein aus Gründen der Nachrangigkeit einer Arbeitserlaubnis bedarf (sogenannter nachrangiger Arbeitsmarktzugang). Das ist anzunehmen, wenn die Arbeitserlaubnis nach § 284 Abs. 3 SGB III i.V.m. § 39 ABs. 2 bis 4 AufenthG erteilt werden kann. Das gilt auch für die Rechtslage vor dem 1. April 2011.
I. 1. Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 24. Januar 2011 abgeändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, vorläufig bis zu einer Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache, längstens bis zum 31. August 2011, den Antragstellern Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II ab dem 24. November 2010 zu zahlen.

2. Der Antragsgegner hat den Nachzahlungsbetrag für den Zeitraum vom 24. November 2010 bis 31. Juli 2011 in Höhe eines Vorschusses von mindestens 4.800,00 EUR bis zum 28. Juli 2011 an die Antragsteller auszuzahlen.

3. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

II. Der Antragsgegner hat den Antragstellern die Kosten beider Instanzen zu erstatten.

III. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe:

Die am 26. Februar 2011 bei dem Hessischen Landessozialgericht eingelegte Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main (SG) vom 24. Januar 2011, ihnen zugestellt am 27. Januar 2011, mit dem sinngemäßen Antrag,

den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 24. Januar 2011 aufzuheben und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, vorläufig bis zu einer Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache den Antragstellern Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II zu zahlen,

sowie Prozesskostenhilfe unter Beiordnung der Prozessbevollmächtigten für das Beschwerdeverfahren zu bewilligen,

hat im tenorierten Umfang Erfolg.

Dabei hat der Senat es im einstweiligen Rechtsschutz dahingestellt sein lassen, ob die Antragstellerin zu 1 oder der Antragsteller zu 2 allein oder gemeinsam das Sorgerecht für die Antragsteller zu 3 bis 7 ausüben. In jedem Fall liegt eine wirksame Vertretung der Kinder und Bevollmächtigung der Prozessbevollmächtigten vor, da beide Elternteile den Rechtsstreit gemeinsam auch für ihre Kinder führen.

Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen dem Grunde nach vor.

Ist einstweiliger Rechtsschutz weder durch die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen einen Verwaltungsakt noch die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes (§ 86b Abs. 1 SGG) zu gewährleisten, kann nach § 86b Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung – vorläufige Sicherung eines bestehenden Zustandes -). Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis statthaft, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung – vorläufige Regelung zur Nachteilsabwehr -). Bildet ein Leistungsbegehren des Antragstellers den Hintergrund für den begehrten einstweiligen Rechtsschutz, ist dieser grundsätzlich im Wege der Regelungsanordnung gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 SGG zu gewähren. Danach muss die einstweilige Anordnung erforderlich sein, um einen wesentlichen Nachteil für den Antragsteller abzuwenden. Ein solcher Nachteil ist nur anzunehmen, wenn einerseits dem Antragsteller gegenüber dem Antragsgegner ein materiell-rechtlicher Leistungsanspruch in der Hauptsache – möglicherweise - zusteht (Anordnungsanspruch) und es ihm andererseits nicht zuzumuten ist, die Entscheidung über den Anspruch in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund). Das Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache darf nicht mit wesentlichen Nachteilen verbunden sein; d.h. es muss eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert (Conradis in LPK–SGB II, 2. Aufl., Anhang Verfahren Rn. 117).

Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander. Vielmehr stehen beide in einer Wechselbeziehung zueinander, nach der die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Senat, 29.6.2005 – L 7 AS 1/05 ER - info also 2005, 169; Keller in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 9. Aufl., § 86b Rn. 27 und 29, 29a mwN.): Wäre eine Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Wäre eine Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- oder Rechtslage im einstweiligen Rechtsschutz nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher zuzumuten ist. Dabei sind grundrechtliche Belange des Antragstellers umfassend in der Abwägung zu berücksichtigen. Insbesondere bei Ansprüchen, die darauf gerichtet sind, als Ausfluss der grundrechtlich geschützten Menschenwürde das soziokulturelle Existenzminimum zu sichern (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip) ist ein nur möglicherweise bestehender Anordnungsanspruch, vor allem wenn er eine für die soziokulturelle Teilhabe unverzichtbare Leistungshöhe erreicht und für einen nicht nur kurzfristigen Zeitraum zu gewähren ist, in der Regel vorläufig zu befriedigen, wenn sich die Sach- oder Rechtslage im Eilverfahren nicht vollständig klären lässt (BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, 12.5.2005 – 1 BvR 569/05 - info also 2005, 166 unter Hinweis auf BVerfGE 82, 60 (80)). Denn im Rahmen der gebotenen Folgeabwägung hat dann regelmäßig das Interesse des Leistungsträgers ungerechtfertigte Leistungen zu vermeiden gegenüber der Sicherstellung des ausschließlich gegenwärtig für den Antragsteller verwirklichbaren soziokulturellen Existenzminimums zurückzutreten (Senat, 27.7.2005 – L 7 AS 18/05 ER).

Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (Meyer-Ladewig u.a., § 86b, 9. Aufl., Rn. 42). Deshalb sind auch Erkenntnisse, die erst im Laufe des Beschwerdeverfahrens zu Tage getreten sind, vom Senat zu berücksichtigen (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. etwa Beschluss vom 6. Januar 2006 - L 7 AS 87/05 ER).

Ein Anordnungsanspruch ist für die Antragsteller wahrscheinlich gegeben. Das bedarf im einstweiligen Rechtsschutz weiterer Ausführungen nur hinsichtlich der allein streitigen Frage, ob die Antragsteller zu 1 oder 2 einem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II oder § 8 Abs. 2 SGB II unterliegen sowie der Aufenthalt der Antragsteller rechtmäßig ist. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II greift hingegen schon deshalb nicht, weil die Antragsteller zu 1 und 2 für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts in Deutschland, der jedenfalls vor dem 24. August 2010 - und damit vor Antragstellung am 24. November 2010 - begründet ist, nicht geltend machen.

Gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II idF des Änderungsgesetzes vom 23.12.2007 (BGBl I 3254) - das Änderungsgesetz vom 24.3.2011 (BGBl I 453) - SGB II F. 2011 - hat mit Wirkung ab 1. April 2011 nur eine redaktionelle Änderung vorgesehen, indem Ausländerinnen ausdrücklich benannt sind - sind von Leistungen nach dem SGB II Ausländer ausgeschlossen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, und ihre Familienangehörigen.

Der Leistungsausschluss greift für den Antragsteller zu 2 schon deshalb nicht, weil er sich zur Überzeugung des Senats voraussichtlich auf das Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 2 FreizügG/EU berufen kann.

Das Aufenthaltsrecht setzt eine selbstständige Erwerbstätigkeit mit einer Niederlassung im Aufnahmestaat voraus, die eine mit Gewinnerzielungsabsicht verbundene Teilhabe am wirtschaftlichen Leben beinhaltet. Der Begriff der Niederlassung umfasst dabei nach der Rechtsprechung des EuGH eine feste Einrichtung in einem anderen Mitgliedsstaat, die auf unbestimmte Dauer auf eine wirtschaftliche Tätigkeit gerichtet ist (EuGH, 25.7.1991 - Rs C-221/89 - Factortame Ltd. ua).

Danach ist nach derzeitigem Ermittlungsstand davon auszugehen, dass der Antragsteller zu 2 eine solche Tätigkeit als Gebrauchtwarenhändler in einer Betriebsstätte in I-Stadt ausübt. An die geforderte feste Einrichtung sind keine hohen Anforderungen zu stellen. Ausreichend ist es, dass damit in stabiler und kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben im anderen Mitgliedsstaat teilgenommen werden kann (EuGH, 30.11.1995 - C-55/94 - Gebhard). Das sieht der Senat als wahrscheinlich gewahrt an, weil der Antragsteller zu 1 drei PKW-Stellplätze angemietet hat, die ihm dazu dienen, die Verkaufsobjekte regelmäßig auf Dauer zur Ansicht auszustellen. Entgegen der Auffassung des SG steht dem nicht entgegen, dass die niedrige Höhe des derzeitigen voraussichtlichen Gewinns das Aufenthaltsrecht wegen selbstständiger Tätigkeit nicht zu begründen vermöge. Von entscheidender Bedeutung ist hierfür, dass eine selbstständige Tätigkeit, die ansonsten die oben genannten Kriterien erfüllt, allenfalls aus diesem Blickwinkel ausgeschlossen ist, wenn sie in so geringem Umfang ausgeübt wird, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt (für Arbeitnehmerbegriff: BSG, 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R mwN; Scheuer/Weerth in Lenz-Borchardt, EU-Verträge, 5. Aufl., Art. 45 AEUV Rn. 8 mwN; Khan in Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV, 5. Aufl., Art. 45 AEUV Rn. 8; zur Übertragung auf selbstständige Tätigkeit: LSG Berlin-Brandenburg, 22.7.2010 - L 14 AS 763/10 B ER), ohne dass die begrenzte Höhe der Vergütung - bei selbstständiger Tätigkeit der erzielte Gewinn - eine entscheidende Bedeutung zukommt (vgl. für Arbeitnehmer: EuGH, 4.6.2009 - C-22/08 - Vatsouras, Koupatnantze mwN). Dafür liegen derzeit keine ausreichenden Anhaltspunkte vor. Im Zeitraum vom 1. März 2010 bis 28. Februar 2011 soll der Antragsteller nach Auskunft des Steuerberaters einen ungefähren Gewinn von durchschnittlich monatlich 187,48 EUR erzielt haben - dabei wird zu Ungunsten des Antragstellers davon ausgegangen, dass der Steuerberater in seiner Erklärung vom 15. März 2011 nur versehentlich den Nettogewinn vom 865,55 EUR als monatlich ausgewiesen hat, obwohl die Bruttoumsätze für zwei Monate eingestellt sind -. Werden weiter die Bruttoumsätze für April und Mai 2011 berücksichtigt, erhöht sich der durchschnittliche Gewinn sogar noch. Insoweit weist die Prozessbevollmächtigte der Antragsteller zu Recht darauf hin, dass das BSG sogar einen monatlichen Verdienst in Höhe von 100,00 EUR hat ausreichen lassen (BSG, 19.10.2010, aaO.). Weiter lassen die regelmäßigen Einnahmen erkennen, dass der Antragsteller zu 2 das Gewerbe dauerhaft betreibt.

Dem Hauptsacheverfahren sind abschließende Ermittlungen vorzubehalten, um letzte Zweifel an der Annahme einer selbstständigen Tätigkeit auszuschließen, die derzeit jedenfalls nicht genügen, um die Ausübung der selbstständigen Tätigkeit nicht als wahrscheinlich anzusehen.

Die Antragstellerin zu 1 kann sich hingegen nicht auf ein anderes Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU berufen, außer dem zur Arbeitssuche nach Abs. 2 Nr. 1 der Norm. Insbesondere steht ihr nicht das Aufenthaltsrecht als Familienangehörige des Antragstellers zu 2 nach § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 6 i.V.m. § 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU zu, weil der nichteheliche Partner in den europarechtlichen Begriff des Familienangehörigen nicht einbezogen ist (EuGH, 17.4.1986 - Rs 59/85 - Reed).

Das ist nach Auffassung des Senats jedoch unschädlich, weil für die Antragstellerin zu 1 bei europarechtskonformer Auslegung der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II nicht greifen darf.

Der Leistungsausschluss widerspricht dem europarechtlich eng ausgestalteten Gleichbehandlungsgebot aus Art. 4 i.V.m. 70 VO (EG) 883/2004 - VO - [vgl. zur VO (EWG) 1408/71: Bay. LSG, 12.3.2008 - L 7 B 1104/07 AS ER], die am 1. Mai 2010 in Kraft getreten ist (das erwägend: SG Berlin, 24.5.2011 - S 149 AS 17644/09).

Das Gleichbehandlungsgebot aus Art. 4 VO untersagt jegliche auf die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedsstaates der EU gestützte Diskriminierung einer in den Geltungsbereich der VO fallenden Person in der sozialen Sicherheit als Ausfluss des primärrechtlich in Art. 21 AEUV verankerten Diskriminierungsverbotes unter EU-Bürgern (Eichenhofer in Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 5. Aufl., Art. 4 VO (EG) Nr. 883/2004 Rn. 1). Es gebietet, die sozialrechtlich geschuldete Leistung einem Angehörigen eines anderen Mitgliedsstaates unter denselben Voraussetzungen zu gewähren wie dem Staatsangehörigen des zuständigen Staates (Eichenhofer, a.a.O., Art. 4 VO (EG) Nr. 883/2004 Rn. 4 mwN). Einbezogen in das Gleichbehandlungsgebot sind nach Art. 3 Abs. 3 VO i.V.m. Anlage X Buchst. b zu Art. 70 VO ausdrücklich die deutschen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Eine Beschränkung des Gleichbehandlungsgebotes ist nur insoweit vorgesehen, als die Art. 70 VO unterliegenden besonderen beitragsunabhängigen Leistungen nicht in einen anderen Mitgliedsstaat exportiert werden dürfen (Art. 70 Abs. 4 VO). Der teilweise Geltungsausschluss nach Art. 70 Abs. 3 VO umfasst nicht das Gleichbehandlungsgebot aus Art. 4 VO.

Die Antragstellerin zu 2 unterliegt dem persönlichen Geltungsbereich der VO nach Art. 2 Abs. 1 VO. Das gilt selbst bei einer engen Auslegung, nach der hierfür zu fordern ist, dass die betreffende Person konkret-individuell den Rechtsvorschriften im Sinne des Art. 2 Abs. 1 VO unterliegt oder unterlegen hat. Aus der Legaldefinition in Art. 1 Buchst. l S. 1 VO ersichtlich sind Rechtsvorschriften für jeden Mitgliedsstaat die Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durchführungsvorschriften in Bezug auf die in Art. 3 Abs. 1 VO genannten Zweige der sozialen Sicherheit. Umfasst sind danach insbesondere Familienleistungen (Buchst. j), für die in Art. 1 Buchst. z bestimmt ist, dass alle Geld- oder Sachleistungen erfasst sind, die Familienlasten ausgleichen, mit Ausnahme von Unterhaltsvorschüssen und besondere Geburts- und Adoptionsbeihilfen nach Anhang I. Einbezogen ist damit auch das Elterngeld nach dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz - BEEG - [für Erziehungsgeld nach BErzGG: EuGH, 12.9.1996 C 254/94 - und 10.10.1996 - C-312/94; so auch: Richtlinien BMFSFJ/204 (5.5.2010) Ziff. 2.2]. Soweit der EuGH das hingegen für die Erziehungsbeihilfe nach luxemburgischen Recht für die Definition nach Art. 1 Buchst. u Ziff. ii VO (EWG) Nr. 1408/71 verneint hat (EuGH, 31.5.2001 - C-43/99 - Leclere/Deaconescu), hat das seinen Grund allein darin, dass nach altem Recht eine Leistung nur als Familienleistung anzusehen gewesen ist, wenn die regelmäßige Geldleistung ausschließlich nach Maßgabe der Zahl und ggf. des Alters von Familienangehörigen gewährt wird. Eine solche Einschränkung ist in Art. 1 Buchst. z VO nicht mehr vorgesehen.

Sind damit Leistungen nach dem BEEG eingeschlossen, unterliegt die Antragstellerin zu 1 dem persönlichen Anwendungsbereich der VO, weil sie mit Bescheid des Hessischen Amtes für Versorgung und Soziales Frankfurt vom 6. Mai 2010 Elterngeld nach dem BEEG für den Zeitraum vom 19. Februar 2010 bis 18. Februar 2011 erhalten hat.

Dahingestellt bleiben kann, ob die Antragsteller im Rahmen des Leistungsausschlusses für Ausländer nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II oder bereits für die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II iVm § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I) einen rechtmäßigen Aufenthalt begründen müssen. Denn für die Antragsteller zu 1 bis 6 ergibt sich das bereits aus ihrer Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU (vgl. BSG, 19.10.2010, aaO). Unschädlich ist es, dass für den Antragsteller zu 7 eine solche Bescheinigung nicht vorliegt. Die Bescheinigung hat nur deklaratorische Wirkung für das sich unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht ergebende Freizügigkeitsrecht, welches nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU i.V.m. § 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU zusteht und solange vermutet wird, bis die Ausländerbehörde nach § 5 Abs. 5 FreizügG/EU den Verlust des Rechtes feststellt (BSG, 19.10.2010, aaO).

Der Antragsteller zu 1 ist auch als erwerbsfähig im Sinne des § 8 Abs. 2 SGB II anzusehen. Die anderslautende Auffassung des Antragsgegners ist jedenfalls für den Zeitraum ab 1. April 2011 offensichtlich rechtswidrig. Dieser Umstand sollte zu einer Änderung seiner Verwaltungsvorschriften führen.

§ 8 Abs. 2 SGB II F. 2011 bestimmt ausdrücklich, dass im Sinne des Absatzes 1 (des § 8 SGB II) Ausländerinnen und Ausländer nur erwerbstätig sein können, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte (Satz 1). Die rechtliche Möglichkeit eine Beschäftigung vorbehaltlich einer Zustimmung nach § 39 AufenthG aufzunehmen, ist ausreichend (Satz 2). Hierzu weist die Gesetzesbegründung darauf hin, dass mit der Änderung die bisher gängige Praxis aufgegriffen werden solle und der angefügte Satz 2 für die Rechtsanwender verdeutliche, dass ein nachrangiger Arbeitsmarktzugang ausreichend sei (BT-Drucks 17/3404 S. 152, zu Nr. 12 Buchst. c).

Doch auch für den vorliegenden Zeitraum ergibt sich nichts anderes, wie auch die vorbenannte Gesetzesbegründung nahelegt. Denn soweit zuvor bestimmt gewesen ist, Ausländer könnten nur erwerbstätig sein, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte (§ 8 Abs. 2 SGB II aF), sollte bereits danach ein nachrangiger Arbeitsmarktzugang genügen (so auch: Hinweise der BA, Stand August 2006, Ziff. 8.15; zum Streitstand: Blüggel in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl., § 8 Rn. 63 ff. mwN). Nach Auffassung des Senats haben das bereits die Gesetzesbegründungen bei Einführung des SGB II hinreichend zum Ausdruck gebracht (BT-Drucks 15/1516 S. 52 und BT-Drucks 15/1749 S. 31, zu Art. 1 § 8 Abs. 3 - Entwurf -). Schon der Hinweis in BT-Drucks 15/1516 lässt es ausreichen, dass ein Zugang zum Arbeitsmarkt besteht oder zulässig wäre, wenn keine geeigneten inländischen Arbeitskräfte verfügbar sind. Klarstellend verdeutlicht die Begründung der Beschlussempfehlung in BT-Drucks 15/1749, dass Ausländer mit unbeschränktem als auch nachrangigem Arbeitsmarktzugang einbezogen sein sollen. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, damit verbliebe für die Regelung kein sinnvoller Anwendungsbereich (Blüggel, a.a.O., Rn. 66). Denn ausgeschlossen bleiben danach die Ausländer, denen der Zugang zum Arbeitsmarkt nicht nur deshalb verschlossen sein kann, weil vorrangig deutsche Arbeitnehmer der Zugang zu gewähren ist.

Aufgrund seiner selbstständigen Tätigkeit mit gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland unterliegt der Antragsteller zu 1 als rumänischer Unionsneubürger nicht der Zugangsbeschränkung nach § 284 Abs. 4 i.V.m. Abs 1 SGB III idF des Änderungsgesetzes vom 7.12.2006 (BGBl I 2814) für Beschäftigungen ohne qualifizierte Berufsausbildung (Bartz in Mutschler u.a., SGB III, 3. Aufl., § 284 Rn. 99; Due in Niesel/Brand, SGB III, 5. Aufl, § 284 Rn. 41). Er unterliegt allein den Beschränkungen nach § 284 Abs. 3 i.V.m. § 39 Abs. 2 -4 AufenthG, die jedenfalls einen nachrangigen Zugang zum Arbeitsmarkt begründen (vgl. Bartz, aaO, Due, aaO).

Offen bleiben kann somit, ob die Erwerbsfähigkeitsvoraussetzung nach § 8 Abs. 2 SGB II für einen selbstständig tätigen Unionsbürger im Sinne des § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 2 FreizügG/EU überhaupt greift.

Für die weiteren Antragsteller kann hingegen dahingestellt bleiben, ob sie nach § 8 Abs. 2 SGB II nicht erwerbsfähig sind, weil sie dann jedenfalls gemäß 7 Abs. 2 S. 1 SGB II als Mitglied der Bedarfsgemeinschaft des Antragstellers zu 2 einen Anspruch auf Sozialgeld nach § 28 S. 1 SGB II aF bzw. § 19 S. 2 SGB II F. 2011 hätten.

Besteht demnach dem Grunde nach mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Anordnungsanspruch für die Antragsteller, hat wegen der bestehenden Existenzgefährdung für die Antragsteller, das Erstattungsrisiko des Antragsgegners bei der gebotenen Folgenabwägung zurückzustehen.

Ist grundsätzlich einstweiliger Rechtsschutz erst ab dem Zeitpunkt zu gewähren, zu dem der Antrag bei Gericht eingegangen ist, gilt das nicht, wenn die unterbliebene Leistung in der Vergangenheit einen fortwirkenden Nachteil für die Antragsteller begründet (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. Beschlüsse v. 17.09.2010 - L 7 AS 314/10 B ER und v. 11.02.2008 - L 7 AS 19/08 B ER mwN und einhellige Meinung, z.B. Keller in Meyer/Ladewig/Keller/Leitherer, 9. Aufl., 2008, § 86 b Rn. 35a mwN). Ein solcher Nachteil ist darin zu sehen, dass die Antragsteller aus den vorläufig auszuzahlenden Grundsicherungsleistungen die Mietschulden in jedem Fall müssen begleichen können, um rechtzeitig die Räumung ihrer Unterkunft aufgrund der anhängigen Räumungsklage nach § 569 Abs. 3 Nr. 2 BGB abwenden zu können. Ist derzeit der sich ergebende Auszahlungsbetrag nicht hinreichend zu beziffern, ist das ohne Überzahlungsrisiko für den Antragsgegner nur sicherzustellen, wenn sich die Nachzahlung auf den gesamten Anspruchszeitraum erstreckt, ohne noch im einstweiligen Rechtsschutz eine Berechnung des Auszahlungsanspruchs vornehmen zu müssen.

Unter Berücksichtigung des Einkommens allein aus der selbstständigen Tätigkeit, dem Kindergeld und ggf. Elterngeld ist deswegen weiter angeordnet, in jedem Fall kurzfristig bis 28. Juli 2011 vor Berechnung der Zahlungsansprüche im Einzelnen einen Vorschuss in Höhe von 4.800,00 EUR auszuzahlen, damit seit März 2011 aufgelaufene Mietschulden vor Ablauf der Mieterschonfrist nach § 569 Ábs. 3 Nr. 2 BGB befriedigt werden können.

Die einstweilige Anordnung ist im Übrigen entsprechend § 130 Abs. 1 SGG nur dem Grunde nach verfügt.

Die einstweilige Anordnung ist auf den Folgemonat der Bekanntgabe der Entscheidung beschränkt, soweit das Hauptsacheverfahren nicht vorher erledigt sein wird, weil im einstweiligen Rechtsschutz nur eine gegenwärtige dringliche Notlage beseitigt werden soll (Krodel, NZS 2007, 20 (21); enger, nur laufender Monat: Grieger, ZFSH/SGB 2004, 579 (585) mwN zum Meinungsstand). Der Antragsgegner ist aber gehalten, über den Zeitraum hinaus bis zu einer Erledigung des Hauptsacheverfahrens im ersten Rechtszug der einstweiligen Anordnung Folge zu leisten, solange eine wesentliche Änderung der Tatsachen- oder Rechtslage nicht eintritt, um weitere Folgeverfahren zu vermeiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf dem Ausgang des Rechtsstreits entsprechend § 193 Abs. 1 S. 1 SGG. Der Zuvielforderung der Antragsteller kommt keine kostenrelevante Bedeutung zu, weil sie sich allein auf die Dauer der einstweiligen Anordnung erstreckt.

Erhalten die Antragsteller mit Zustellung dieses Beschlusses einen rechtskräftigen Kostenerstattungsanspruch gegenüber dem Antragsgegner, ist der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unzulässig geworden.

Dieser Beschluss kann nicht mit einer weiteren Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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