S 21 AS 577/11

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Freiburg (BWB)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
21
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 21 AS 577/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Die Erhebung einer sozialgerichtlichen Untätigkeitsklage nach § 88 SGG kann wegen Verwirkung des Klagerechts rechtsmissbräuchlich und damit unzulässig sein, auch wenn der geltend gemachte Anspruch in der Sache besteht.
2. Im sozialgerichtlichen Verfahren sind auf die Verwirkung des Klagerechts die für die verwaltungsgerichtliche Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO entwickelten Grundsätze entsprechend anzuwenden.
3. Es reicht auch im Rahmen der sozialgerichtlichen Untätigkeitsklage nach § 88 SGG ein bloßer erheblicher Zeitablauf [hier: Klageerhebung 2 Jahre und 11 Monate nach der letzten Korrespondenz] nicht für die Verwirkung des Klagerechts aus. Es müssen vielmehr im Einzelfall besondere Umstände hinzutreten, die die späte Klageerhebung als widersprüchliches Verhalten des Klägers erscheinen lassen, und die Behörde musste im Vertrauen auf den Nichtgebrauch des Klagerechts entsprechende Dispositionen treffen, die es als unzumutbar erscheinen lassen, das als abgeschlossen betrachtete Verwaltungsverfahren wieder aufzunehmen und zum Abschluss zu bringen.
4. Es kann im Rahmen einer Kostenentscheidung nach § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG aber zu Lasten des Klägers berücksichtigt werden, dass er durch eine Klageerhebung nach jahrelangem "Schweigen" ohne Vorwarnung der Behörde ein unnötiges, vermeidbares Klageverfahren verursacht hat, etwa wenn die Untätigkeit der Behörde auf einem Irrtum ihrerseits beruhte und sie das Verfahren bereits für abgeschlossen hielt.
Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten für das Klageverfahren S 21 AS 577/11 dem Grunde nach zur Hälfte zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Klägerin erhielt am 21.10.2007 von der Beklagten eine Zahlungsaufforderung bezüglich einer Forderung der Arbeitsgemeinschaft F. nach § 50 SGB X. Die Beklagte war von der Arbeitsgemeinschaft F. mit der Einziehung dieser Forderung beauftragt worden. Da es sich um eine wiederholte Zahlungsaufforderung handelte, berechnete die Beklagte zusätzlich eine Mahngebühr in Höhe von 0,90 EUR. Die Klägerin legte dagegen am 14.12.2007 durch ihren Bevollmächtigten Widerspruch ein. Dem Widerspruch wurde mit Bescheid vom 28.1.2008 abgeholfen. Der Bevollmächtigte der Klägerin übersandte der Beklagten daraufhin am 31.1.2008 eine Kostennote und bat um Kostengrundentscheidung nach § 63 SGB X. Mit Schriftsatz vom 7.3.2008 erinnerte der Bevollmächtigte der Klägerin an den Erlass dieser Kostengrundentscheidung. In der Folgezeit fand in dieser Sache keine Korrespondenz zwischen den Beteiligten mehr statt.

Am 3.2.2011 erhob die Klägerin Untätigkeitsklage gegen die Beklagte. Die Beklagte erließ daraufhin am 14.4.2011 einen Widerspruchsbescheid, der eine Kostengrundentscheidung nach § 63 SGB X enthielt. Die Klägerin erklärte daraufhin ihre Klage in der Hauptsache für erledigt.

Vorliegend beantragt die Klägerin,

der Beklagten die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin für die Untätigkeitsklage aufzuerlegen.

Die Beklagte beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Die Beklagte trägt vor, sie sei zwar untätig im Sinne des § 88 SGG gewesen. Die Untätigkeitsklage sei dennoch unzulässig gewesen, da sie rechtsmissbräuchlich erhoben worden sei. Nach über drei Jahren, in denen die Klägerin die noch ausstehende Entscheidung nicht mehr angemahnt habe, habe die Beklagte nicht mehr mit einer Untätigkeitsklage rechnen müssen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Vortrag der Beteiligten im Kostenverfahren sowie auf die Gerichtsakte des Hauptsacheverfahrens und auf die zum Verfahren beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

II.

Nach § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG hat das Gericht auf Antrag durch Beschluss über den Umfang der Kostenerstattung zu entscheiden, wenn das Verfahren anders als durch Urteil beendet wird. In einem solchen Fall sind nach billigem Ermessen der bisherige Sach- und Streitstand und die Erfolgsaussichten des anhängig gewesenen Verfahrens zu berücksichtigen. Auch die Gründe für die Klageerhebung und für die Erledigung des Rechtsstreits sind zu berücksichtigen. Hierbei ist insbesondere auch von Bedeutung, ob der Rechtsstreit überhaupt erforderlich war, oder ob er bei sachgemäßem Verhalten der Beteiligten hätte vermieden werden können.

Diesen Grundsätzen entsprechend hat die Klägerin einen Anspruch gegen die Beklagte auf Erstattung ihrer notwendigen außergerichtlichen Kosten dem Grunde nach zur Hälfte.

Zunächst ist festzuhalten, dass die Untätigkeitsklage zulässig und begründet war, also Erfolg gehabt hätte, wenn das Gericht zum Zeitpunkt ihrer anderweitigen Erledigung durch Urteil über sie hätte entscheiden müssen.

Die Klage war - unstreitig - begründet, da die Beklagte bis zum 14.4.2011 ohne zureichenden Grund noch nicht über den Kostenantrag vom 31.1.2008 entschieden hatte. Sie hat keinen zureichenden Grund vorgetragen; ein solcher ist auch aus der Verwaltungsakte nicht ersichtlich.

Die Untätigkeitsklage war auch zulässig. Insbesondere war sie nicht unzulässig, weil die Klägerin ihr Klagerecht wegen des langen Zeitraums zwischen Antrag und Klageerhebung verwirkt hätte.

Die Erhebung einer Untätigkeitsklage nach § 88 SGG kann rechtsmissbräuchlich und damit unzulässig sein, auch wenn der geltend gemachte Anspruch in der Sache besteht (vgl. LSG Bremen, Beschluss vom 3.7.1996, Az. L 4 BR 39/95 - juris), wie hier der Anspruch der Klägerin auf Erteilung der Kostengrundentscheidung. Ein Unterfall des Rechtsmissbrauchs liegt vor, wenn Klage erhoben wird, obwohl das Klagerecht verwirkt ist. Die Voraussetzungen für die Verwirkung des Klagerechts im Fall der Untätigkeitsklage sind zwar im SGG nicht ausdrücklich geregelt. Für die Parallelvorschrift § 75 VwGO ist jedoch anerkannt, dass Verwirkung eintreten kann, wenn der Betroffene das Verwaltungs- oder Widerspruchsverfahren jahrelang nicht mehr betreibt bzw. die ursprünglich begehrte Entscheidung nicht mehr anmahnt (Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 9. Auflage 2008, § 88 Rn. 13; Brenner in: Sodann/Ziekow, Kommentar zur VwGO, 2. Auflage 2006, § 75 Rn. 81ff.; Rennert in Eyermann, Kommentar zur VwGO, 13. Auflage 2010, § 75 Rn. 21ff.; Kothe in: Redeker/v. Oertzen, Kommentar zur VwGO, 15. Auflage 2010, § 75 Rn. 14ff.; Kopp/Schenke, Kommentar zur VwGO, 16. Auflage 2009, § 76 Rn. 2).

Dieser Grundsatz gilt im Rahmen des § 88 SGG ebenso. Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens, die einer derartigen Zulässigkeitsbeschränkung entgegenstehen würden, sind nicht ersichtlich. Auch im sozialgerichtlichen Verfahren kann es also rechtsmissbräuchlich sein, nach erheblichem Zeitablauf ohne Vorwarnung noch Untätigkeitsklage zu erheben.

Im vorliegenden Fall wurde am 31.1.2008 der Erlass einer Kostengrundentscheidung beantragt und am 7.3.2008 daran erinnert. In der Folgezeit kam es in dieser Angelegenheit nicht mehr zur Korrespondenz zwischen den Beteiligten. Am 3.2.2011, also über drei Jahre nach der Antragstellung und zwei Jahre und elf Monate nach der letzten Korrespondenz, wurde direkt Untätigkeitsklage erhoben.

Allerdings reicht im Rahmen der verwaltungsgerichtlichen Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO nach einhelliger Meinung ein bloßer erheblicher Zeitablauf nicht aus, um zur Verwirkung zu führen (Rennert in Eyermann, Kommentar zur VwGO, 13. Auflage 2010, § 75 Rn. 22; Brenner in: Sodann/Ziekow, Kommentar zur VwGO, 2. Auflage 2006, § 75 Rn. 83; Kothe in: Redeker/v. Oertzen, Kommentar zur VwGO, 15. Auflage 2010, § 75 Rn. 15). Es müssen vielmehr im Einzelfall besondere Umstände hinzutreten, die die späte Klageerhebung als widersprüchliches Verhalten des Klägers erscheinen lassen (Rennert in Eyermann, Kommentar zur VwGO, 13. Auflage 2010, § 75 Rn. 22 m. w. N.; Sodann/Ziekow Rn. 83 m. w. N.; Kothe in: Redeker/v. Oertzen, Kommentar zur VwGO, 15. Auflage 2010, § 75 Rn. 15). Die Rechtsfigur der Verwirkung hat ihren Ursprung im Grundsatz von Treu und Glauben (Rennert in Eyermann, Kommentar zur VwGO, 13. Auflage 2010, § 75 Rn. 22). Sie tritt demnach nur ein, wenn der Kläger sich im Vorfeld so verhalten hat, dass der Beklagte darauf vertrauen durfte, dass es nicht mehr zur Klageerhebung kommen würde, und entsprechende Dispositionen getroffen hat, die es als unzumutbar erscheinen lassen, das als abgeschlossen betrachtete Verwaltungsverfahren wieder aufzunehmen und auch formell zum Abschluss zu bringen (Brenner in: Sodann/Ziekow, Kommentar zur VwGO, 2. Auflage 2006, § 75; Kothe in: Redeker/v. Oertzen, Kommentar zur VwGO, 15. Auflage 2010, § 75 Rn. 15). Erst wenn ein solcher Vertrauenstatbestand durch den Kläger geschaffen wurde und eine entsprechende Vertrauensbetätigung der Behörde vorliegt, ist von Verwirkung auszugehen.

Ob die Klägerin im vorliegenden Fall bereits durch ihr "Schweigen" über fast drei Jahre hinweg einen Vertrauenstatbestand dahingehend gesetzt hat, dass sie an einer Entscheidung über ihren Kostenantrag nicht mehr interessiert sei, muss bezweifelt werden. Denn die Klägerin hatte im vorliegenden Fall alles ihrerseits erforderliche getan, um die Voraussetzungen für die behördliche Entscheidung zu schaffen. Wenn in einer solchen Situation der Betroffene anschließend einfach schweigt, d. h. passiv auf die Entscheidung wartet, stellt dies im Vergleich zu seinem bisherigen Vorgehen kein widersprüchliches Verhalten dar, sondern logisches und folgerichtiges Verhalten. Es existiert weder eine Rechtspflicht noch eine Obliegenheit des Bürgers, in diesem Verfahrensstadium die Behörde regelmäßig an die noch ausstehende Entscheidung zu erinnern oder ihr gegenüber in regelmäßigen Abständen ausdrücklich zu erklären, dass man noch Interesse an der Entscheidung habe. Unterlässt der Betroffene derartige Äußerungen, kann man diesem Schweigen also nicht den Erklärungswert beimessen, dass er an der Angelegenheit kein Interesse mehr habe. Dementsprechend kann der Betroffene allein durch sein Schweigen keinen Vertrauenstatbestand für die Beklagte schaffen, dass er keine behördliche Entscheidung mehr erwarte.

Im vorliegenden Fall hat die Beklagte jedenfalls auch keine Dispositionen getroffen, die nicht mehr - oder nur mit unzumutbaren rechtlichen oder wirtschaftlichen Einbußen - rückgängig zu machen wären. Es fehlt daher nicht nur an einem Vertrauenstatbestand, sondern auch an einer entsprechenden Vertrauensbetätigung der Beklagten.

Die Untätigkeitsklage war also nicht wegen Verwirkung unzulässig.

Im Rahmen der Kostenentscheidung nach § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG kann jedoch auch berücksichtigt werden, ob die Klageerhebung - trotz Zulässigkeit und Begründetheit der Klage in der Hauptsache - überhaupt erforderlich war, oder ob er bei sachgemäßem Verhalten der Beteiligten hätte vermieden werden können.

Letzteres war vorliegend nach der Überzeugung des Gerichts der Fall. Unter dem Aspekt der Verursachung eines unnötigen Klageverfahrens ist es der Klägerin sehr wohl anzulasten, dass sie trotz fast drei Jahren Schweigens unmittelbar Untätigkeitsklage erhoben hat, ohne sich vorher nochmals direkt an die Beklagte zu wenden und die ausstehende Entscheidung anzumahnen. Grundsätzlich kann Untätigkeitsklage nach dem Ablauf der Fristen des § 88 SGG erhoben werden, ohne dass die Behörde vorab darauf hingewiesen und entsprechend "vorgewarnt" wurde. Im vorliegenden Fall kann aber der erhebliche Zeitablauf zwischen der letzten Korrespondenz und der Klageerhebung nicht außer Acht gelassen werden.

Die Gründe für die Untätigkeit der Beklagten im vorliegenden Verfahren gehen aus der Verwaltungsakte nicht eindeutig hervor. Es liegt die Annahme nahe, dass die Beklagte schlicht übersehen hatte, dass die Entscheidung noch ausstand, zumal zwischen der Klägerin und der Beklagten in diesem Zeitraum noch diverse andere Widerspruchsverfahren anhängig waren, was die Übersichtlichkeit des Gesamtvorgangs beeinträchtigte. Nach einem derart langen Zeitablauf musste es auch für die Klägerin nahe liegen, dass die Beklagte übersehen hatte, dass die Kostenentscheidung noch zu treffen war. In dieser Konstellation wäre es der Klägerin zuzumuten gewesen, zunächst noch einmal bei der Beklagten die ausstehende Entscheidung anzumahnen. Etwas anderes könnte allenfalls dann gelten, wenn der Antrag auf eilig benötigte oder existenzielle Leistungen gerichtet gewesen wäre, z. B. auf laufende Sozialleistungen, die die Klägerin für ihren Lebensunterhalt benötigt hätte. Ein Anspruch auf Kostenerstattung nach § 63 SGB X im Widerspruchsverfahren ist aber seiner Natur nach nicht in diesem Sinne eilig oder dringend. Im Ergebnis war daher zu erwarten, dass die Beklagte nach einer entsprechenden Anfrage der Klägerin auch dann die gewünschte Entscheidung zeitnah erlassen hätte, wenn das Gericht nicht eingeschaltet worden wäre.

Das jahrelange Schweigen der Klägerin mit anschließender sofortiger Klageerhebung führt im Ergebnis also nicht zur formellen Verwirkung des Klagerechts. Die Klägerin muss sich im Rahmen der Kostenentscheidung nach § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG aber vorwerfen lassen, ein unnötiges Gerichtsverfahren angestrengt zu haben, obwohl sie ihr Anliegen voraussichtlich auf einfacherem Weg ebenso hätte erreichen können.

Vor diesem Hintergrund erscheint eine lediglich hälftige Kostentragung durch die Beklagte angemessen.

Dieser Beschluss ist gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 3 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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