S 9 SO 5262/08

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Freiburg (BWB)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
9
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 9 SO 5262/08
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zur Vermeidung einer Grundrechtsverletzung (hier: Art. 6 Abs. 1 GG) kann die "unabweisbar gebotene Hilfe" i. S. v. § 23 Abs. 5 SGB XII im Einzelfall in ungekürzten Sozialhilfeleistungen bestehen.
1. Der Bescheid der Beklagten vom 07.07.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 18.09.2008 und des angenommenen Teilanerkenntnisses vom 25.07.2008 wird abgeändert.

2. Die Beklagte wird verurteilt, der Leistungsempfängerin vom 01.01.2008 bis zum 20.11.2010 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII und Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem 7. Kapitel des SGB XII in Form von Pflegegeld gemäß § 64 Abs. 2 SGB XII in gesetzlicher Höhe zu gewähren und an die Tochter der Leistungsempfängerin unter Anrechnung bereits vorläufig gezahlter Leistungen auszuzahlen.

3. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Leistungsempfängerin und der Klägerin zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des Zwölften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB XII) für die verstorbene Mutter der Klägerin (nachfolgend Leistungsempfängerin (LE)).

Die LE, geboren am und verstorben am, war iranische Staatsangehörige und nach einem amtsärztlichen Gutachten vom 3.5.2007 schwerpflegebedürftig i. S. v. § 64 Abs. 2 SGB XII (entspricht Pflegestufe II der gesetzlichen Pflegeversicherung). Bis zum 31.12.2007 lebte die LE mit ihrer Tochter, dem Schwiegersohn und einer volljährigen Enkelin in T/Sachsen. Diese Angehörigen besaßen Aufenthaltserlaubnisse gem. § 23a des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) ohne Beschränkung der Wohnsitznahme, die LE verfügte über eine am 12.6.2007 vom Landkreis D erteilte Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 3 AufenthG mit der Nebenbestimmung "Wohnsitznahme im Freistaat Sachsen". Sie bezog von diesem Landkreis als örtlich zuständigem Sozialhilfeträger Pflegegeld nach dem SGB XII. Zum 1.1.2008 zog die Familie nach F um. Der Landkreis D stellte infolgedessen mit Bescheid vom 25.1.2008 die Zahlung des Pflegegeldes ein und forderte den für Januar bereits ausgezahlten Betrag zurück.

Am 30.1.2008 beantragte die LE bei der Beklagten Leistungen der Grundsicherung nach dem 4. Kapitel des SGB XII sowie im weiteren Verlauf Leistungen der Hilfe zur Pflege, was von der Beklagten mit Bescheid vom 7.7.2008 mit der Begründung abgelehnt wurde, dass sich die LE entgegen der Bestimmung in ihrer Aufenthaltserlaubnis in F aufhalte. Nach § 23 Abs. 5 SGB XII dürfe in Teilen des Bundesgebietes, in denen sich Ausländer einer ausländerrechtlichen räumlichen Beschränkung zuwider aufhalten, nur die nach den Umständen unabweisbar gebotene Leistung erbracht werden. Tochter und Schwiegersohn der LE hatte die zuständige Arbeitsgemeinschaft F bereits mit Bescheid vom 7.2.2008 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bewilligt.

Gegen den Ablehnungsbescheid vom 7.7.2008 erhob die LE durch ihren Bevollmächtigten mit Schreiben vom 30.7.2008 Widerspruch. Am 1.8.2008 beantragte sie zudem den Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht Freiburg. Sie brachte unter Vorlage eines ärztlichen Attests insbesondere vor, sie sei auf die Pflege durch ihre Angehörigen angewiesen und könne nicht nach Sachsen zurückkehren. Die Familie sei nach F gezogen, bevor die Aufhebung der Wohnsitzauflage der Antragstellerin habe bewirkt werden können, da die Enkelin der LE hier eine Ausbildungsstelle angetreten habe. Wegen der bereits beantragten Aufhebung der Wohnsitzauflage sei eine Untätigkeitsklage zum Verwaltungsgericht anhängig, außerdem sei gegen die Wohnsitzauflage Widerspruch erhoben worden; wegen der aufschiebenden Wirkung gem. § 80 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) entfalte sie derzeit keine Wirkung. Die LE könne sich außerdem als subsidiär Schutzberechtigte auf Art. 32 der EU-Qualifikationsrichtlinie berufen. Die Beklagte bot demgegenüber lediglich an, die Fahrtkosten zur Rückkehr der LE nach Sachsen zu übernehmen. Mit Beschluss vom 14.8.2008, Az. S 9 SO 3836/08 ER, verpflichtete das Gericht die Beklagte im Wege der einstweiligen Anordnung zur vorläufigen Gewährung von Grundsicherungsleistungen und Pflegegeld an die LE vom 1.8.2008 bis zur bestands- oder rechtskräftigen Entscheidung über ihren Widerspruch, längstens jedoch bis zum 31.1.2009. Diesem Beschluss hat die Beklagte entsprochen und zur Vermeidung eines weiteren Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes vorläufige Leistungen bis zum Tod der LE erbracht.

Das Gericht begründete seinen Beschluss insbesondere damit, dass § 23 Abs. 5 Satz 1 SGB XII verfassungskonform ausgelegt nicht angewendet werden dürfe, wenn hierdurch eine verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigte Beeinträchtigung des Grundrechts aus Art. 6 Abs. 1 GG - Schutz der Ehe und Familie - drohen würde. Dies sei bei der LE wohl der Fall, da ihr privates Interesse an dem Umzug mit ihrer sie pflegenden Familie nach Freiburg grundrechtlich geschützt sei und auch bei der gebotenen Abwägung mit dem von § 23 Abs. 5 Satz 1 SGB XII intendierten öffentlichen Interesse an einer möglichst gleichmäßigen Belastung der Sozialhilfeträger überwiegen dürfte. Hierfür spreche insbesondere die Möglichkeit der Pflege der LE durch ihre Tochter sowie das nachvollziehbare Motiv der Familie für den Umzug (Aufnahme einer Ausbildung durch den Enkel).

In der Folge verweigerte die Beklagte durch ihr Amt für öffentliche Ordnung gegenüber dem Landratsamt D die Zustimmung zur Änderung der Wohnsitzauflage der LE (Schreiben vom 20.8.2008). Sie vertrat dort die Auffassung, eine angemessene medizinische Behandlung der LE außerhalb der Familie sei in Sachsen ebensogut wie in F möglich. Eine andere Entscheidung komme nur in Betracht, wenn der Lebensunterhalt der LE weiterhin vom Land Sachsen, jedenfalls aber ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel der Beklagten gewährleistet würde.

Mit Widerspruchsbescheid vom 18.9.2008 wies die Beklagte den Widerspruch der LE gegen den Bescheid vom 7.7.2008 zurück. Sie wiederholte die Begründung des Ausgangsbescheides und führte ergänzend aus, die LE könne sachlich adäquat außerhalb der Familie in Sachsen gepflegt werden; sie habe nicht darauf vertrauen dürfen, dass die ihr bekannte Wohnsitzauflage aufgehoben werden würde. Gründe, weshalb sie nicht mit ihrer Familie nach Sachsen zurückkehren könnte, seien nicht ersichtlich.

Am 22.10.2008 erhob die LE durch ihren Bevollmächtigten die vorliegende Klage zum Sozialgericht Freiburg.

Unter dem 16.6.2010 stimmte die Beklagte als Beigeladene im Rechtsstreit der LE vor dem Verwaltungsgericht Leipzig wegen der Wohnsitzauflage dem Wohnsitzwechsel "insbesondere aufgrund des instabilen Gesundheitszustands" der LE zu. Das Verwaltungsgericht stellte das dortige Verfahren mit Beschluss vom 23.6.2010 ein (Az. 3 K 896/08).

Die LE verfolgte im vorliegenden Klageverfahren ihr Begehren aus dem Widerspruchsverfahren mit der dort sowie im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vorgebrachten Begründung weiter.

Die Beklagte erklärte in der öffentlichen Sitzung vom 25.7.2011 ein Teilanerkenntnis, wonach der Bescheid vom 7.7.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 18.9.2008 abgeändert wird und die Beklagte der LE Leistungen der Grundsicherung im Alter bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII sowie Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem 7. Kapitel des SGB XII in gesetzlicher Höhe für die Zeit vom 16.6.2010 bis zum 20.11.2010 gewährt. Der Bevollmächtigte der Klägerin nahm dieses Teilanerkenntnis an und erklärte den Rechtsstreit insoweit für erledigt.

Die Klägerin beantragt nunmehr,

den Bescheid der Beklagten vom 7.7.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheid vom 18.9.2008 und des angenommenen Teilanerkenntnisses vom 25.7.2011 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, der Leistungsempfängerin für die Zeit vom 1.1.2008 bis zum 20.11.2010 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII sowie Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem 7. Kapitel des SGB XII in Form von Pflegegeld gemäß § 64 Abs. 2 SGB XII in gesetzlicher Höhe zu gewähren und diese Leistungen an die Tochter der Leistungsempfängerin als deren Rechtsnachfolgerin unter Anrechnung bereits vorläufig erbrachter Leistungen auszuzahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung, soweit nicht durch das Teilanerkenntnis abgeändert, für zutreffend.

Die den verfahrensgegenständlichen Antrag der LE betreffende Verwaltungsakte der Beklagten (Az.: XXX) lag vor. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Verfahrens sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die genannte Verwaltungsakte sowie die Akten des Gerichts, Az.: S 9 SO 3836/08 ER und S 9 SO 5262/08, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist form- und fristgerecht erhoben. Sie ist auch im Übrigen zulässig und als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gem. § 54 Abs. 4 SGG statthaft.

Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin hat als Rechtsnachfolgerin der LE Anspruch auf die im Tenor genannten Leistungen der Sozialhilfe. Die diesen Anspruch ablehnende Entscheidung der Beklagten war rechtswidrig und verletzte die Klägerin und die LE in ihren Rechten. Der angefochtene Bescheid war daher insoweit abzuändern und die Beklagte zur Erbringung der beantragten Leistungen zu verurteilen.

Die Anspruchsvoraussetzungen für Leistungen der Grundsicherung nach dem 4. Kapitel des SGB XII sowie Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem 7. Kapitel des SGB XII wurden von der LE in dem noch verfahrensgegenständlichen Zeitraum offensichtlich und zwischen den Beteiligten unstreitig erfüllt. Die Beklagte kann ihre diesbezüglich ablehnende Entscheidung auch nicht auf § 23 Abs. 5 SGB XII stützen.

Nach Satz 1 dieser Vorschrift darf in den Teilen des Bundesgebiets, in denen sich Ausländer einer ausländerrechtlichen räumlichen Beschränkung zuwider aufhalten, der für den tatsächlichen Aufenthaltsort zuständige Träger der Sozialhilfe nur die nach den Umständen unabweisbar gebotene Leistung erbringen. Das Gleiche gilt nach Satz 2 a. a. O. (hier nicht einschlägig) für Ausländer, die einen räumlich nicht beschränkten Aufenthaltstitel nach den §§ 23, 23a, 24 Abs. 1 oder § 25 Abs. 3 bis 5 AufenthG besitzen, wenn sie sich außerhalb des Landes aufhalten, in dem der Aufenthaltstitel erstmals erteilt worden ist. Nach Satz 3 a. a. O. schließlich findet Satz 2 keine Anwendung, wenn der Ausländer im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings genießt oder der Wechsel in ein anderes Land zur Wahrnehmung der Rechte zum Schutz der Ehe und Familie nach Artikel 6 des Grundgesetzes (GG) oder aus vergleichbar wichtigen Gründen gerechtfertigt ist. Zweck von § 23 Abs. 5 SGB XII ist nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 15/420, 122) die gleichmäßige Verteilung der Lasten für sozialhilfebedürftige Ausländer unter den Ländern und Gemeinden. Unabweisbar geboten sind im Regelfall lediglich Leistungen für die Kosten der (Rück-)Reise an den ausländerrechtlich erlaubten Aufenthaltsort (Birk, in: LPK-SGB XII, 8. A. 2008, § 23 Rnr. 32).

Zwar hat sich die LE im verfahrensgegenständlichen Zeitraum einer ausländerrechtlichen räumlichen Beschränkung zuwider (Wohnsitzauflage für den Freistaat Sachsen) im örtlichen Zuständigkeitsbereich der Beklagten aufgehalten; der Tatbestand des § 23 Abs. 5 Satz 1 SGB XII war somit erfüllt. Gleichwohl waren die Ablehnung der beantragten Grundsicherungsleistungen und Leistungen der Hilfe zur Pflege trotz Anspruchs dem Grunde nach sowie das Angebot der Übernahme von Reisekosten im Falle der LE nicht gerechtfertigt. § 23 Abs. 5 Satz 1 SGB XII ist nämlich nicht ohne Rücksicht auf hiervon möglicherweise ausgehende Beeinträchtigungen von Grundrechten auszulegen.

In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Vorgängervorschrift § 120 Abs. 5 Bundessozialhilfegesetz (BSHG), die § 23 Abs. 5 Sätze 1 und 2 SGB XII vergleichbar war, aber eine Satz 3 a. a. O. entsprechende Regelung noch nicht enthielt, war anerkannt, dass eine Beschränkung der Leistungen auf die Rückreisekosten (gleich, ob nach Satz 1 oder Satz 2 der Vorschrift) in zwei Fällen wegen andernfalls drohenden Verstoßes gegen höherrangiges Recht nicht zulässig war: Einmal bei Personen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (grundlegend BVerwG-Urt. v. 18.5.2000, Az.: 5 C 29/98, (juris)), zum anderen, wenn der auch in Abwägung mit dem Gesetzeszweck des § 120 Abs. 5 BSHG nach Art. 6 Abs. 1 GG schutzwürdige Wunsch nach Herstellung der ehelichen oder familiären Lebensgemeinschaft Grund für die Wahl des Aufenthaltsorts ist (vgl. etwa OVG Niedersachsen, Beschl. v. 16.6.2000, Az.: 4 M 1928/00 = FEVS 52, 82; VG Aachen, Beschl. v. 18.11.1999, Az.: 2 L 1166/99 = InfAuslR 2000, 85; OVG Berlin, Beschl. v. 30.5.1997, Az. 6 S 14.97, (juris)). Dogmatisch wurde dies teils mit einer Nichtanwendbarkeit von § 120 Abs. 5 BSHG kraft Verfassungsrechts begründet (BVerwG, OVG Niedersachsen, VG Aachen, alle a. a O.). Zutreffender scheint es der Kammer, den unbestimmten Rechtsbegriff des "unabweisbar Gebotenen" in derartigen Fällen verfassungskonform so auszulegen, dass im Einzelfall die Reisekosten übersteigende Leistungen bis hin zu vollumfänglichen Sozialhilfeleistungen (bei grundrechtlich begründeter, dauerhafter Unzumutbarkeit der Rückkehr) "unabweisbar geboten" sein können (OVG Berlin, a. a. O.).

Diese Rechtsprechung ist nach Überzeugung der Kammer in Anbetracht der unveränderten grundrechtlichen Rahmenbedingungen einerseits, der im wesentlichen inhaltsgleichen Übernahme von § 120 Abs. 5 BSHG in § 23 Abs. 5 Sätze 1 und 2 SGB XII auf diese zu übertragen. Zwar enthält § 23 Abs. 5 Satz 3 SGB XII nunmehr eine ausdrückliche gesetzliche Regelung, durch die die Anwendung des § 23 Abs. 5 Satz 2 SGB XII (nicht aber die des hier einschlägigen Satz 1 der Vorschrift) nach Maßgabe der Rechtsprechung zu § 120 Abs. 5 BSHG eingeschränkt wird. Es wäre jedoch verfehlt, hieraus den Schluss zu ziehen, § 23 Abs. 5 Satz 1 SGB XII könne ohne Rücksicht auf mögliche Beeinträchtigungen insbesondere des Grundrechts aus Art. 6 GG angewandt werden. Denn es stand nicht in der Macht des Gesetzgebers, auf einfachgesetzliche Weise die unmittelbar aus der Verfassung begründeten Ausnahmen von der Leistungseinschränkung für Ausländer auf nur einen der hiervon betroffenen zwei Tatbestände zu beschränken. Auch würde es an einer sachlichen Rechtfertigung fehlen, die aus grundgesetzlichen Gründen vor einer Leistungseinschränkung geschützten Ausländer schlechter zu stellen als die aus völkerrechtlichen Aspekten privilegierten (so wohl im Ergebnis auch Birk a. a. O. und Hohm; in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 17. A. 2006, Rnr. 37, die insoweit auf eine Differenzierung zwischen § 23 Abs. 1 und Abs. 2 SGB XII verzichten). Daher muss entweder § 23 Abs. 5 Satz 3 SGB XII verfassungskonform entsprechend angewendet werden, wenn der Tatbestand des § 23 Abs. 5 Satz 1 erfüllt ist oder - dies hält das erkennende Gericht für die sachgerechte Lösung - der Umfang des "unabweisbar Gebotenen" nach den Umständen des Einzelfalles verfassungskonform bestimmt werden.

Im Falle der LE führt diese Prüfung und insbesondere die Abwägung ihre grundrechtlich geschützten Belange mit dem Gesetzeszweck von § 23 Abs. 5 Satz 1 SGB XII zu dem Ergebnis, dass ihr im verfahrensgegenständlichen Zeitraum die ihm Tenor genannten Leistungen als unabweisbar geboten zu erbringen waren.

Dabei verkennt das Gericht nicht, dass der Familie der LE im Zeitpunkt ihres Umzugs nach F die für die LE geltende Wohnsitzauflage bekannt war und diese nicht mit deren alsbaldiger Aufhebung rechnen konnten. Der Familie kann dennoch nicht vorgehalten werden, sie hätte vor einem Wohnsitzwechsel die Aufhebung der Wohnsitzauflage abwarten müssen. Denn vergleichbare Umstände sind in den Fällen des § 23 Abs. 5 Satz 1 SGB XII stets gegeben, da andernfalls schon der Tatbestand dieser Norm überhaupt nicht erfüllt wäre. Auch ist zu bedenken, dass die Wohnsitzauflage ausschließlich für die LE, nicht aber für die übrigen Haushaltsangehörigen galt. Deren Umzug nach F war daher - wenn auch nicht durch das Grundrecht auf Freizügigkeit aus Art. 11 Abs. 1 GG (da ein so genanntes Deutschengrundrecht) - so doch zumindest durch deren allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) grundrechtlich geschützt. Dies gilt für die Enkelin der LE, die zum Zweck des Beginns einer Ausbildung nach F verzog, in besonderem Maße. Von ihr konnte auch im Interesse der gesellschaftlich erwünschten Integration von Zuwanderern insbesondere der jüngeren Generation keinesfalls erwartet werden, dass sie den ausbildungsbedingten Umzug unterlässt und dadurch die Aussicht auf eine alsbaldige Eingliederung ins Erwerbsleben gefährdet.

Weiter kann der Klägerin nicht entgegengehalten werden, zumindest sie und ggf. auch ihr Ehemann hätten zur Sicherstellung der Pflege der LE mit dem Umzug nach F bis zur Aufhebung der Wohnsitzauflage abwarten müssen. Denn sie waren hierzu weder aus ausländer- noch sonstigen rechtlichen Gründen verpflichtet und ihr Wunsch, die familiäre Haushaltsgemeinschaft auch mit der Enkelin aufrechtzuerhalten, ist nicht nur in Anbetracht der Umstände (Ausbildungsbeginn der Enkelin am neuen Wohnort, Erwerbslosigkeit der Eltern am alten Wohnort, besondere Bedeutung der familiären Bindungen bei einer Flüchtlingsfamilie aus einem anderen Kulturkreis) in besonderem Maße verständlich, sondern auch von Art. 6 Abs. 1 GG geschützt. Der Schutzbereich dieses Grundrechts umfasst insbesondere auch die Gestaltung des Verhältnisses zwischen Eltern und ihren volljährigen Kindern (BVerfG, Urt. v. 5.2.1981, Az. 2 BvR 646/80 = BVerfGE 57, 170). Die Klägerin und ggf. ihr Ehemann hatten aus den genannten Gründen auch keine Obliegenheit, mit der LE und ohne ihre Tochter nach Sachsen zurückzukehren und dort unter Erfüllung der Wohnsitzauflage die Pflege sicherzustellen, zumal der Ehemann der Klägerin in F - anders als zuvor in T - eine zur Deckung des Lebensunterhalts zumindest beitragende geringfügige Beschäftigung gefunden hatte.

Die LE konnte entgegen der Auffassung der Beklagten schließlich nicht darauf verwiesen werden, alleine den Wohnsitz in Sachsen beizubehalten und ihren Pflegebedarf außerfamiliär durch professionelle Pflegedienste oder ein Pflegeheim zu decken. Die LE war im Zeitpunkt des Umzugs hochbetagt und bis zu ihrem Lebensende zunehmend schwerpflegebedürftig, mit den hiesigen kulturellen und sozialen Gegebenheiten als Migrantin aus dem Iran naturgemäß weniger vertraut als seit jeher in Deutschland lebende Personen in gleicher Situation und sie beherrschte die deutsche Sprache nicht. Die LE war daher in besonderem Maße auf die Pflege und Hilfe gerade ihrer Tochter angewiesen. Diese konnte sie aber in Sachsen aufgrund des Umzugs der Klägerin samt Ehemann und Sohn nach F nicht mehr erhalten.

Die Abwägung zwischen dem von § 23 Abs. 5 Satz 1 SGB XII verfolgten öffentlichen Interesse, zum Zwecke der möglichst gleichmäßigen Belastung der Sozialhilfeträger eine diese gefährdende Binnenwanderung sozialhilfebedürftiger Ausländer möglichst zu vermeiden, und dem Interesse der LE, bei ihrer Tochter zu wohnen um Pflege und Hilfe von ihr zu erhalten, fällt nach den Umständen des Einzelfalls zugunsten des Letzteren aus. Die Gewährung von Grundsicherungsleistungen und Hilfe zur Pflege durch die Beklagte waren unabweisbar geboten. Dies folgt einfachgesetzlich daraus, dass eine andere Auslegung dieses unbestimmten Rechtsbegriffes den sozialhilferechtlichen Geboten widersprechen würde, dem Hilfeempfänger ein der Würde des Menschen entsprechendes Leben zu ermöglichen (§ 1 Satz 1 SGB XII), bei den Leistungen die besonderen Verhältnisse in der Familie zu berücksichtigen und die Kräfte der Familie zur Selbsthilfe anzuregen sowie den Zusammenhalt der Familie zu festigen (§ 16 SGB XII, familiengerechte Leistungen) sowie den Bedarf des Hilfebedürftigen an Pflege möglichst in Form häuslicher Pflege durch nahestehende Personen zu ermöglichen (§ 63 Satz 1 SGB XII). Allein dieses Ergebnis wird schließlich unter den konkreten Umständen des Einzelfalls dem aus Art. 6 Abs. 1 GG folgenden Gebot gerecht, keine Rechtspflichten zu begründen, durch welche gezielt die Gewährung von Hilfe innerhalb der Familie beeinträchtigt würde (BVerfG, Beschl. v. 18.3.1970, Az. 1 BvR 498/66 = BVerfGE 28, 104, 112 f.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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