L 18 AS 613/11 NZB

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 102 AS 21257/10
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 613/11 NZB
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Zum Verfahren wird B D, C Platz , B, beigeladen. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Berufung in dem Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Februar 2011 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

Die Nichtzulassungsbeschwerde (NZB) der Klägerin ist nicht begründet und war daher zurückzuweisen.

Den Ehemann der Klägerin hat der Senat nach § 75 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) antragsgemäß beigeladen, weil seine berechtigten Interessen durch die Entscheidung berührt werden. Die Voraussetzungen einer notwendigen Beiladung gemäß § 75 Abs. 2 SGG liegen indes nicht vor. Der Beigeladene ist zwar in seinen wirtschaftlichen Interessen betroffen, da sein Einkommen und sein Bedarf im Rahmen der Prüfung, ob die Klägerin hilfebedürftig ist, berücksichtigt wird. Denn der Beigeladene, der nach den Feststellungen des Sozialgerichts (SG) zusammen mit der Klägerin in einer gemeinsamen Wohnung wohnt, bildet mit ihr eine Bedarfsgemeinschaft (§ 7 Abs. 3 Nr 3a Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende - SGB II -). Dem steht nicht entgegen, dass er als Bezieher einer Rente wegen Alters im streitigen Zeitraum selbst keine Leistungen nach dem SGB II erhalten konnte (vgl § 7 Abs 4 SGB II). Voraussetzung einer notwendigen Beiladung ist jedoch nach der allein in Betracht kommenden ersten Alternative des § 75 Abs. 2 SGG, dass der Dritte an dem streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt ist, dass die Entscheidung auch ihm gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Hiervon ist auszugehen, wenn durch die Entscheidung über das streitige Rechtsverhältnis zugleich in die Rechtssphäre des Dritten unmittelbar eingegriffen wird (stRspr, ua BSGE 70, 240, 242 = SozR 3-5533 Allg Nr 1 mwN). Dies ist bei der nur wirtschaftlichen Betroffenheit des Beigeladenen nicht der Fall (vgl BSG, Urteil vom 23. November 2006 – B 11b AS 1/06 R = SozR 4-4200 § 20 Nr 3).

Das Rechtsmittel der Berufung, das nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG in der ab 1. April 2008 geltenden Fassung des Gesetzes zur Änderung des SGG und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26. März 2008 (BGBl. I S. 444) ausgeschlossen ist, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes, der sich auf 90,- EUR beläuft (= erstinstanzlich geltend gemachte weitere Leistungen für die Zeit vom 2. März 2010 bis 30. September 2010), 750,- EUR nicht übersteigt, ist nicht nach § 144 Abs. 2 SGG zuzulassen. Denn die in den Nrn. 1 bis 3 dieser Vorschrift normierten Zulassungsvoraussetzungen liegen nicht vor.

Der Rechtssache kommt schon deshalb keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zu, weil sie eine bisher nicht geklärte Rechtsfrage, deren Klärung im allgemeinen Interesse liegt, nicht aufwirft. Die Entscheidung, ob der Klägerin im streitigen Zeitraum (2. März 2010 bis 30. September 2010) höhere Regelleistungen (vgl zur Abtrennbarkeit der Leistung für Unterkunft und Heizung: Bundessozialgericht – BSG -, Urteil vom 07. November 2006 - B 7b AS 08/06 R, juris = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, jeweils RdNr 19; nach der ständigen Rechtsprechung des BSG handelt es sich bei einem Mehrbedarf nach § 21 Abs. 5 SGB II nicht um einen eigenständigen, von der Höhe der Regelleistung abtrennbaren Streitgegenstand, sondern um einen Rechnungsposten bei der Ermittlung des Regelleistungsbedarfs: vgl nur Urteil vom 03. März 2009 – B 4 AS 50/07 R = SozR 4-4200 § 21 Nr 5; Urteil vom 02. Juli 2009 – B 14 AS 54/08 R = SozR 4-1500 § 71 Nr 2; Urteil vom 18. Februar 2010 – B 4 AS 29/09 R = SozR 4-1100 Art 1 Nr 7 ) unter Berücksichtigung eines ernährungsbedingten Mehrbedarfs des Beigeladenen nach § 21 Abs. 5 SGB II (in der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung; im Folgenden ohne Zusatz bezeichnet) zustehen, wirft keine allgemein bedeutsamen Fragen auf, die von der aktuellen höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht beantwortet sind. Nach dieser Rechtsprechung ist zur Beurteilung des Anspruchs aus § 21 Abs. 5 SGB II festzustellen, ob eine oder mehrere Krankheiten vorliegen, ob sie eine bestimmte Kostform erfordern und in welchem Umfang ggf zusätzliche Kosten anfallen (zum unbestimmten Rechtsbegriff der "angemessenen Höhe" BSG, Urteil vom 27. Februar 2008 – B 14/7b AS 64/06 R = SozR 4-4200 § 21 Nr 2, jeweils RdNr 24, 29). Danach darf, solange keine Besonderheiten des Einzelfalls vorliegen, zur Bewertung der Erforderlichkeit und des Umfangs auf die "Empfehlungen für die Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe" (im Folgenden: Empfehlungen) des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge eV (DV) zurückgegriffen werden (vgl BSG aaO; BSG, Urteil vom 27. Februar 2008 – B 14/7b AS 32/06 = SozR 4-4200 § 20 Nr 6, jeweils RdNr 39 des Urteilsumdrucks: individuelle Ermittlungen, wenn "sonstige Gesichtspunkte vorgetragen (sind), die ein mechanisches Abstellen auf die Empfehlungen nicht möglich machen"). Auf die Empfehlungen kann zumindest iS einer in der Verwaltungspraxis etablierten generellen Orientierungshilfe zurückgegriffen werden, die im Normalfall eine gleichmäßige und schnelle Bearbeitung geltend gemachter Mehrbedarfe im Bereich der Krankenkost erlaubt (vgl BSG aaO). Damit sind in der Rechtsprechung die zur Beurteilung des vorliegenden Sachverhalts erforderlichen, die gesetzliche Regelung konkretisierenden Begriffsklärungen erfolgt. Dass dies nur zu den alten, bis zum 30. September 2008 maßgebend gewesenen und nicht zu den neuen Empfehlungen (abrufbar unter www.deutscher-verein.de) entschieden ist, ist nicht von Belang, denn dass insoweit die in einem qualitativ gleichwertigen Verfahren erhobenen neuen, den Fortschritt der Wissenschaft berücksichtigenden Empfehlungen an die Stelle eines überholten Sachstandes getreten sind, ist selbstverständlich (vgl schon Landessozialgericht – LSG - Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. Dezember 2009 – L 10 AS 1717/09 NZB – juris; Beschluss vom 3. Mai 2011 – L 10 AS 345/11 NZB – juris).

Die Rechtsache erlangt grundsätzliche Bedeutung auch nicht im Hinblick auf die in der Rechtsprechung bisher nicht geklärte und vom SG offen gelassene Frage, ob die neuen Empfehlungen antizipierte Sachverständigengutachten darstellen (dies bejahend: Bayrisches LSG, Urteil vom 23. April 2009 – L 11 AS 124/08 –; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 09. März 2009 – L 8 AS 68/08 - und LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 03. Februar 2009 – L 9 B 339/08 AS – alle juris), was zur Folge hätte, dass deren generelle Richtigkeit auch durch ein Einzelfallgutachten nicht widerlegt werden könnte (vgl BSG, Urteil vom 18. September 2003 - B 9 SB 3/02 R = SozR 4-3250 § 69 Nr 2). Denn unabhängig von der rechtlichen Qualifizierung der neuen Empfehlungen hat sich der DV darin von einer pauschalen Betrachtungsweise distanziert und auf die "Besonderheit des Einzelfalls" abgestellt. Im Übrigen ist diese Frage hier auch nicht klärungsfähig, weil deren Bejahung allenfalls zu Ungunsten der Klägerin fruchtbar gemacht werden könnte. Denn eine Qualifizierung der Empfehlungen als antizipierte Sachverständigengutachten hätte zur Folge, dass deren Richtigkeit auch durch ein Einzelfallgutachten nicht widerlegt werden könnte (vgl BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 2). Gerade die Nichteinholung eines solchen Gutachtens rügt die Klägerin aber.

Eine Abweichung von einer Entscheidung eines der in § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG aufgeführten Gerichte liegt ebenfalls nicht vor. Die Klägerin hat keinen abstrakten Rechtssatz des BSG oder eines der anderen in § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte aufgezeigt, von dem das SG im hiesigen Verfahren durch einen zum selben Gegenstand gemachten abstrakten Rechtssatz abgewichen wäre. Die Klägerin rügt insoweit ausdrücklich, das SG sei von dem folgenden Rechtssatz des BSG in dem Urteil vom 27. Februar 2008 (- B 14/7b AS 32/06 R -) abgewichen:. Es ist nicht ersichtlich, dass das SG von diesem Rechtssatz durch einen zum selben Gegenstand gemachten abstrakten Rechtssatz, den die Klägerin im Übrigen auch nicht aufgezeigt hat, abgewichen wäre. Das SG hat vielmehr die Rechtsprechung des BSG zu § 21 Abs. 5 SGB II ausdrücklich zitiert und dabei ausgehend von dieser Rechtsprechung eingehend erläutert, dass nach dem Vorbringen der Klägerin und dem festgestellten Sachverhalt keine "Besonderheiten" vorliegen würden, die das Gericht zu einer weitergehenden medizinischen Sachaufklärung hätten drängen müssen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Beigeladene, der seinerzeit noch als Kläger am Verfahren beteiligt war, auch bei entsprechenden Sachverhaltsermittlungen des SG nicht zureichend mitgewirkt (vgl § 103 Satz 1 Halbsatz 2 SGG) hat. Eine Abweichung iSv § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG liegt im Übrigen nicht schon dann vor, wenn das Urteil des SG möglicherweise nicht den Kriterien entspricht, die das BSG oder ein anderes der in § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte aufgestellt haben, oder wenn es Vorgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Einzelfall mangels im Ergebnis unzutreffender Subsumtion nicht oder falsch übernimmt. Es bedarf vielmehr eines fallübergreifenden abstrakten Rechtssatzes, der mit einem abstrakten Rechtssatz eines der in § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte nicht übereinstimmt und diesem somit im Grundsätzlichen widerspricht. Einen solchen Rechtssatz hat das SG ersichtlich nicht aufgestellt. Ebenso wenig begründet eine etwaige Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall eine Divergenz iSv § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG (vgl zum Ganzen etwa BSG, Beschluss vom 19. November 2009 – B 13 RS 61/09 B – juris – mwN, BSG, Beschluss vom 16. Juli 2009 – B 4 AS 37/09 B – juris - mwN).

Schließlich hat die Klägerin mit ihrer NZB auch keinen Verfahrensmangel bezeichnet, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (vgl. § 144 Abs. 2 Nr 3 SGG). Die von der Klägerin erhobene Rüge mangelnder Sachaufklärung, insbesondere im Hinblick auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens, zielt auf eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht nach § 103 SGG ab. Eine hierauf gestützte Rüge eines wesentlichen Verfahrensmangels iSv § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG kann dabei nur dann zur Zulassung der Berufung führen, wenn die Entscheidung auf ihm beruhen kann, also die Möglichkeit besteht, dass der Verfahrensmangel die Entscheidung beeinflusst hat. Abzustellen ist dabei auf die Rechtsauffassung des SG (vgl Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, § 144 Rn 32a, 34, 35 mwN). Vorliegend ist nicht ersichtlich, dass das SG sich aus seiner rechtlichen Sicht zu weiteren Ermittlungen oder gar der Einholung eines Sachverständigengutachtens hätte gedrängt sehen müssen. Es hat vielmehr den aus seiner Sicht entscheidungserheblichen Sachverhalt - sowohl was das Vorliegen der einzelnen Erkrankungen des Beigeladenen als auch des hieraus resultierenden Mehrbedarfs betrifft – soweit als geklärt angesehen, dass eine Abweichung von den Empfehlungen nicht erfolgen musste. Dass das SG die Klägerin nicht auf die prozessuale Möglichkeit hingewiesen hat, ggf die gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes nach § 109 Abs. 1 SGG zu beantragen, stellt keinen Verfahrensmangel dar. Denn eine derartige Hinweispflicht des Gerichts besteht grundsätzlich nicht (vgl BSG SozR § 109 SGG Nrn 8, 12). Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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