L 5 AS 1097/11 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 63 AS 13351/11 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 5 AS 1097/11 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Die Regelung des § 22 Abs. 8 Satz 2 SGB II, der bei Erfüllung der tat-bestandlichen Voraussetzungen vorsieht, dass die Schuldenübernah-me erfolgen „soll“, also nur in atypischen Fällen versagt werden darf, ist bei einer drohenden oder erfolgten Unterbrechung der Stromversor-gung nicht anwendbar. Ein Fall der drohenden Wohnungslosigkeit im Sinne der genannten Vorschrift liegt nicht vor, da das Mietverhältnis durch die Unterbrechung der Stromversorgung nicht beeinträchtigt wird.

In Fällen, in denen gesundheitliche Auswirkungen einer Stromsperre behauptet werden, gehört es zur Selbsthilfepflicht, dass sich der Hilfe-suchende bei dem Stromversorger unter Bezugnahme auf § 19 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Grundver-sorgung von Haushaltskunden und die Ersatzversorgung mit Elektrizität aus dem Niederspannungsnetz (Stromgrundversorgungsverordnung) vom 26. Oktober 2006 (BGBl. I S. 2391, 2395) um eine Aufhebung der Stromsperre bemüht, und zwar notfalls auch unter Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes bei dem zuständigen Zivilgericht (ebenso Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 2. Mai 2011, L 6 AS 241/10 B ER).
Die Beschwerden der Antragstellerin gegen die Ablehnung ihrer Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz und auf Prozesskostenhilfe durch den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 30. Mai 2011 werden zurückgewiesen. Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt. Die Kosten der Beschwerdeverfahren werden nicht erstattet.

Gründe:

Die am 10. Juni 2011 eingegangenen Beschwerden der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 30. Mai 2011, mit dem ihre auf die vorläufige Übernahme von Stromversorgungsschulden in Höhe von 1.687,34 EUR und auf die Gewährung von Prozesskostenhilfe gerichteten Begehren abgelehnt worden sind, haben keinen Erfolg.

Die zulässigen Beschwerden sind unbegründet. Hinsichtlich des Antrages auf vorläufigen Rechtsschutz hat die Antragstellerin, die laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bezieht und deren Stromversorgung wegen der bestehenden Stromschulden bereits seit dem 12. Mai 2011 gesperrt ist, einen Anordnungsanspruch mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit nicht glaubhaft gemacht (§§ 86b Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG], 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung [ZPO]).

Die Voraussetzungen der als Anspruchsgrundlage in Betracht kommenden §§ 7 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 1 Satz 1, 22 Abs. 8 des Zweiten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB II) in der seit dem 1. Januar 2011 geltenden Fassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches des Sozialgesetzbuches vom 24. März 2011 (BGBl. I S. 453, 466) sind nicht erfüllt. Nach § 22 Abs. 8 SGB II können auch Schulden übernommen werden, sofern Arbeitslosengeld II für den Bedarf für Unterkunft und Heizung erbracht wird und soweit die Schuldenübernahme zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt ist. Sie sollen übernommen werden, wenn dies gerechtfertigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht. Vermögen nach § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB II ist vorrangig einzusetzen. Geldleistungen sollen als Darlehen erbracht werden.

Die Regelung des § 22 Abs. 8 Satz 2 SGB II, der bei Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen vorsieht, dass die Schuldenübernahme erfolgen "soll", also nur in atypischen Fällen versagt werden darf, ist im vorliegenden Verfahren nicht anwendbar. Ein Fall der drohenden Wohnungslosigkeit im Sinne der genannten Vorschrift liegt nicht vor, da das Mietverhältnis durch die Unterbrechung der Stromversorgung nicht beeinträchtigt wird. Vielmehr liegt darin eine mit der Sicherung der Unterkunft vergleichbare Notlage im Sinne des § 22 Abs. 8 Satz 1 SGB II (vgl. Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 27. Dezember 2010, L 3 AS 557/10 B ER; Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21. Juli 2009, L 34 AS 1090/09 B ER; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28.05.2009, L 7 AS 546/09 B ER, Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12.12.2008, L 7 B 384/08 AS). Es kann offen bleiben, ob die begehrte Schuldenübernahme bereits daran scheitert, dass sie nicht gerechtfertigt ist. Jedenfalls ist das durch § 22 Abs. 8 Satz 1 SGB II eröffnete Ermessen nicht dahingehend auf Null reduziert, dass eine Schuldenübernahme vorgenommen werden muss. Die Antragstellerin muss sich entgegenhalten lassen, dass sie ihre Lage zumin-dest mitverschuldet und nicht alle Selbsthilfemöglichkeiten ausgeschöpft hat (vgl. Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 2. Mai 2011, L 6 AS 241/10 B ER; Lan-dessozialgericht Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 27. Dezember 2010, L 3 AS 557/10 B ER; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 4. September 2009, L 13 AS 252/09 B ER). Sie hat ausweislich des vorliegenden Kontoauszuges des Stromversorgers vom 12. Mai 2011 in der Zeit von September 2009 bis einschließlich November 2010 ihre Stromabschläge nur unregelmäßig und seither überhaupt nicht mehr bezahlt. Bereits im April 2010 nahm der Stromversorger einen erfolglosen Sperrversuch wegen ausgebliebener Abschläge vor. Mit Rechnung vom 30. Dezember 2010 forderte er eine Nachzahlung in Höhe von 1.224,13 EUR, die darauf beruhte, dass in der Zeit vom 15. Dezember 2009 bis zum 15. Dezember 2010 in dem Haushalt der Antragstellerin, der sich in dieser Zeit durchgehend aus drei Personen zusammensetzte, 5.607 Kilowattstunden Strom verbraucht worden waren. Diese Rechnung hat die Antragstellerin lediglich zum Anlass genommen, beim Antragsgegner mit Schreiben vom 10. Februar 2011 ein entsprechendes Darlehen zu beantragen. Erst im Verlaufe des erstinstanzlichen Verfahrens hat sie sich – auf eine entsprechende Nachfrage des Sozialgerichts – erfolglos um eine Ratenzahlungsvereinbarung und um einen Wechsel des
Stromanbieters bemüht. Es bestehen bis zum heutigen Tage keine Anhaltspunkte dafür, dass sie – auch ohne entsprechende Vereinbarung – von selbst Ratenzahlungen aufgenommen hat. Es spricht auch nichts dafür, dass die Antragstellerin krankheitsbedingt nicht dazu in der Lage ist, die Zahlung der Stromabschläge zu regeln. Zwar leidet sie nach den vorliegenden Attesten des sie behandelnden Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. K vom 24. Mai 2011 und vom 7. Juli 2011 an einer mit Antidepressiva behandelten chronifizierten mittelschweren Depression. Nach einem Gutachten des Ärztlichen Dienstes der Bundesagentur für Arbeit vom 20. Oktober 2010 besteht jedoch trotz der dort attestierten Einschränkung der psychischen Belastbarkeit weiter-hin eine Einsatzfähigkeit im Umfang von mindestens sechs Stunden täglich, wobei das psychische Leistungsvermögen keineswegs aufgehoben ist. Soweit sich die Antragstellerin auch insoweit auf das bereits erwähnte Attest vom 7. Juli 2011 stützt, als daraus hervorgeht, dass wegen der fehlenden Stromversorgung eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu erwarten sei, führt auch das nicht zu einer Ermessenreduzierung auf Null. Abgesehen davon, dass die Auswirkungen der möglichen Verschlechterung unklar sind, gehört es in Fällen wie dem vorliegenden, in denen gesundheitliche Auswirkungen einer Stromsperre behauptet werden, auch zur Selbsthilfepflicht, dass sich der Hilfesuchende bei dem Stromversorger unter Bezug-nahme auf § 19 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Grundversorgung von Haushaltskunden und die Ersatzversorgung mit Elektrizität aus dem Niederspannungsnetz (Stromgrundversorgungsverordnung) vom 26. Oktober 2006 (BGBl. I S. 2391, 2395) um eine Aufhebung der Stromsperre bemüht, und zwar notfalls auch unter Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes bei dem zuständigen Zivilgericht (Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 2. Mai 2011, L 6 AS 241/10 B ER), was die Antragstellerin jedoch bisher unterlassen hat. Nach der genannten Vorschrift gilt die aus der Nichterfüllung von Zahlungsverpflichtungen folgende Berechtigung zur Unterbrechung der Stromversorgung dann nicht, wenn die Folgen der Unterbrechung außer Verhältnis zur Schwere der Zuwiderhandlung stehen oder der Kunde darlegt, dass hinreichende Aussicht besteht, dass er seinen Verpflichtungen nachkommt. Vor diesem Hintergrund kann offen bleiben, ob sich die Antragstellerin bei ihren inzwischen aus der Wohnung ausgezogenen volljährigen Töchtern und bei ihrem gegenwärtigen Mitbewohner, die die Schulden durch ihren Stromverbrauch mitverursacht haben, ausreichend um eine Beteiligung an deren Begleichung bemüht hat.

Aus den vorstehenden Gründen ist auch die Beschwerde gegen die sozialgerichtliche Versagung der Prozesskostenhilfe gemäß § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 114 Satz 1 ZPO wegen fehlender hinreichender Erfolgsaussicht zurückzuweisen und der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren abzulehnen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG sowie auf § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO.

Dieser Beschluss kann gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden.
Rechtskraft
Aus
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