L 7 AS 52/11 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 19 AS 761/10 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 52/11 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
I. Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 23. Dezember 2010 abgeändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller für den Zeitraum vom 3. Mai 2010 bis 31. Oktober 2010 vorläufig, bis zur Erledigung in der Hauptsache, einen ernährungsbedingten Mehraufwand in Höhe von monatlich 20 % des Regelbedarfs sowie Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von 390,64 Euro für Mai 2010, 624,94 Euro monatlich für die Monate Juni bis August 2010 sowie 147,41 Euro für September 2010 zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

II. Der Antragsgegner trägt 3/4 der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers beider Instanzen.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Der 1953 geborene Antragsteller beantragte am 2. November 2009 die Weiterbewilligung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II einschließlich eines ernährungsbedingten Mehrbedarfs. Er legte eine ärztliche Bescheinigung vom 7. Dezember 2009 über eine "Maldigestion-Malabsorption" mit gestörter Nährstoffaufnahme und -Verwertung vor. Seit November 2007 betrieb er unter der Firma C. einen Internet-Handel, aus dem nach Angaben des Antragstellers keine Gewinne entstanden.

Am 11. Januar 2010 stellte er beim Sozialgericht Frankfurt am Main einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. In einem Erörterungstermin am 2. März 2010 schlossen die Beteiligten zur Beendigung des Eilverfahrens (Aktenzeichen S 19 AS 58/10 ER) einen Vergleich. Der Antragsgegner verpflichtete sich, dem Antragsteller für die Zeit vom 11. Januar 2010 bis zum 30. April 2010 Leistungen in gesetzlicher Höhe zu gewähren unter Berücksichtigung eines Erwerbseinkommens von 400 Euro. Gegen den ausführenden Bescheid vom 15. März 2010 legte der Kläger Widerspruch ein, weil der Bescheid falsch sei und den Vergleich nicht erfülle.

Unter Hinweis auf die Folgen einer fehlenden Mitwirkung forderte der Antragsgegner den Antragsteller mit Schreiben vom 15. März 2010 zur Vorlage verschiedener Unterlagen auf, z.B. der vollständigen Betriebskostenabrechnung des Jahres 2008, der Jahresabrechnung der D. und eine Bestätigung des Shareholders der C. darüber, ob und in welcher Höhe der Antragsteller Zahlungen, z.B. Umsatzprovisionen erhalten hat.

Am 30. April 2010 stellte der Antragsteller erneut einen Antrag auf Weiterbewilligung der Leistungen nach dem SGB II einschließlich eines Mehrbedarfes für kostenaufwändige Ernährung. Er hat am 3. Mai 2010 um gerichtlichen Eilrechtsschutz bei dem Sozialgericht Frankfurt am Main ersucht. Das Gericht hat den zu dem abgeschlossene Eilverfahren S 19 AS 58/10 ER übersandten Schriftsatz als neues Eilverfahren registriert. Der Antragsteller hat insbesondere geltend gemacht, der Antragsgegner habe entgegen der Vereinbarungen im Vergleich einen ernährungsbedingten Mehrbedarf nicht berücksichtigt. Den Anstellungsvertrag bei der C. habe er aufgehoben und die Geschäftsanteile übertragen bekommen. Seitdem sei er als Selbstständiger anzusehen.

Mit Bescheid vom 19. Mai 2010 hat der Antragsgegner den Antrag vom 7. Mai 2009 auf Krankenkostzulage nach § 21 Abs. 5 SGB II unter Berufung auf eine Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes der Agentur für Arbeit abgelehnt. Hiergegen hat der Antragsteller Widerspruch eingelegt und eine weitere ärztliche Bescheinigung von Dr. E. vom 2. Juli 2010 zu den Akten gereicht.

Mit Schreiben vom 5. Mai 2010 und 31. Mai 2010 hat der Antragsgegner den Antragsteller mit Hinweis auf die Rechtsfolgen einer unterbliebenen Mitwirkung erneut zur Vorlage weiterer Unterlagen aufgefordert. Daraufhin hat der Antragsteller u.a. mit Schreiben vom 21. Juli 2010 weitere Unterlagen vorgelegt, insb. die Eröffnungsbilanz der C. zum 19. November 2007, die Bilanz zum 31. Dezember 2007 und die Gewinn- und Verlustrechnung des Geschäftsjahres 2007.

Mit Bescheid vom 9. August 2010 hat der Antragsgegner die vom Antragsteller beantragten Leistungen ab 1. Mai 2010 ganz versagt, weil der Antragsteller u.a. die vollständige Betriebskostenabrechnung 2008/2009 und die Gewinnermittlungen der C. Ltd. für den Zeitraum von November 2009 bis April 2010 nicht vorgelegt habe. Diese seien für die Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen zwingend notwendig und trotz Belehrung über die Rechtsfolgen nicht vollständig vorgelegt worden. Bei dieser Entscheidung sei Ermessen ausgeübt und insbesondere die Pflicht der Behörde zu wirtschaftlichem Handeln berücksichtigt worden. Hiergegen hat der Antragsteller mit Schriftsatz vom 27. August 2010 Widerspruch eingelegt unter Einreichung der Betriebskostenabrechnung vom 6. Mai 2010 und einer korrigierten Anlage EKS vom 27. August 2010, wonach er den Internethandel im Mai 2010 beendet hat. Er hat eine Ebay-Auktionsliste vorgelegt, wonach in den Monaten Februar und März 2010 von sieben stattgefundenen Ebay-Auktionen sechs mit Verlust abgeschnitten haben und auch insgesamt kein Gewinn erzielt worden ist. Seine Geschäftsführertätigkeit bei der C. hat der Antragsteller mit Schreiben vom 25. August 2010 rückwirkend zum 25. Mai 2010 gekündigt. Er werde daher im Zeitraum Mai bis Oktober 2010 keine Einnahmen aus selbständiger Tätigkeit erzielen. Die C. hat das Gewerbe inzwischen abgemeldet.

Die Wohnung des Antragstellers ist zum 7. September 2010 zwangsgeräumt worden. Er ist sodann einer Notunterkunft im F-Weg in A-Stadt zugewiesen worden; wobei unklar ist, ob der Antragsteller diese tatsächlich bewohnt. Am 29. Oktober 2010 hat der Antragsteller einen Antrag auf Weiterbewilligung von Leistungen nach dem SGB II ab 1. November 2010 gestellt. Diesbezüglich ist ein weiterer Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt (Aktenzeichen S 19 AS 1740/10 ER beim Sozialgericht Frankfurt am Main bzw. L 7 AS 53/11 B ER).

Das Sozialgericht Frankfurt am Main hat den Antragsgegner mit Beschluss vom 23. Dezember 2010 verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit vom 11. Januar 2010 bis zum 30. April 2010 im Wege der vorläufigen Bewilligung weitere 118,76 Euro zu zahlen sowie für die Zeit vom 1. Mai 2010 bis zum 31. Oktober 2010 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 359,00 Euro. Den weiteren Antrag auf Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung für den Zeitraum vom 1. Juni 2009 bis 31. Oktober 2010, Unterkunftskosten und ein Darlehen für den nicht gezahlten Zeitraum vom 1. Dezember 2009 bis 10. Januar 2010 hat das Sozialgericht abgelehnt.

Die Nachzahlung in Höhe von 110,97 Euro ergebe sich, weil der Antragsgegner zu Unrecht Teilbeträge aus der Regelleistung an die G. GmbH und die Regionaldirektion Hessen statt an den Antragsteller ausgezahlt habe. Die Auszahlung eines weiteren Teilbetrages von 7,79 Euro an die Bundesagentur für Arbeit sei rechtswidrig erfolgt, da die Aufrechnung nicht gegen Ansprüche auf Geldleistungen habe erfolgen können, die nicht pfändbar sind. Der Antragsteller habe glaubhaft gemacht, im Zeitraum vom 1. Mai 2010 bis zum 31. Oktober 2010 die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 SGB II zu erfüllen, insbesondere hilfebedürftig gewesen zu sein. Er habe jedenfalls seit dem 1. Mai 2010 über kein Einkommen aus selbstständiger oder unselbstständiger Tätigkeit (mehr) verfügt. Die vom Antragsteller begehrten Unterkunftskosten hat das Sozialgericht abgelehnt. Der Anordnungsanspruch sei zwar grundsätzlich zu bejahen, wegen des mit der Räumung am 7. September 2010 verbundenen Verlustes der bisherigen Wohnung fehle es jedoch an der notwendigen Eilbedürftigkeit der begehrten gerichtlichen Entscheidung. Die aktuelle Wohnungslosigkeit könne durch eine Nachzahlung der Mietkosten nicht mehr beseitigt werden kann. Ein zusätzlicher Mehrbedarf in Höhe von 20 % der Regelleistung könne im gerichtlichen Eilverfahren nicht gewährt werden. Die Erfolgsaussichten des Widerspruchs gegen die Ablehnungsentscheidung vom 19. Mai 2010 seien derzeit nicht abschließend zu beurteilen.

Gegen den ihm am 29. Dezember 2010 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 31. Januar 2011 Beschwerde eingelegt. Er habe inzwischen mehrfach bei dem Antragsgegner vorgesprochen und alle angeforderten Unterlagen vorgelegt. Die Erkrankung "Sprue" die im ärztlichen Attest des Dr. E. bestätigt werde, sei in den Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge ausdrücklich erwähnt und ein Mehrbedarf von 20 % der Regelleistung empfohlen. Die Versagung der Unterkunftskosten wegen mangelnder Eilbedürftigkeit sei fehlerhaft, da seine ehemalige Vermieterin beabsichtige, den Zahlungsrückstand der Schufa zu melden, bei der sie bereits eine Anfrage vorgenommen habe. Der nach Rechtskraft des Zahlungsanspruchs negative Schufa-Eintrag habe weitreichende Folgen für ihn.

Er beantragt (sinngemäß),
den Antragsgegner zu verpflichten, ihm vorläufig und hilfsweise darlehensweise

1. den Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung für den Zeitraum vom 1. Juni 2009 bis 31. Oktober 2010 in Höhe von 20% des Regelsatzes,
2. die monatlichen Kosten der Unterkunft und Heizung für den Zeitraum vom 1. Mai 2010 bis 7. September 2010 und
3. ein Darlehen für den nicht gezahlten Zeitraum vom 1. Dezember 2009 bis 10. Januar 2010 zu gewähren sowie ein weiteres Darlehen, um die Kosten der Zwangsräumung vom 7. September 2010 zu begleichen.

Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 23. Dezember 2010 zurückzuweisen.

Hinsichtlich vergangener Zeiträume komme eine Leistungsgewährung im Eilverfahren nicht in Betracht. Zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung sei bereits eine Zwangsräumung des Antragstellers erfolgt, so dass rückständige Mietzahlungen im gerichtlichen Eilverfahren nicht zu zahlen seien. Auch für die Gewährung des ernährungsbedingten Mehrbedarfs bestehe keine dringende Notlage, welche die Gewährung für den Zeitraum vor Januar 2011 erforderlich mache.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller mit Bescheid vom 16. Mai 2011 für den Zeitraum vom 1. Februar 2011 bis 31. Juli 2011 vorläufig Leistungen in Höhe des Regelbedarfs und einen Mehrbedarf für kostenaufwendige Ernährung in Höhe von 20 % des Regelbedarfs gewährt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakten des Antragsgegners Bezug genommen, die bei der Entscheidung vorgelegen haben.

II.

Die gemäß §§ 172, 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Beschwerde ist hinsichtlich der Kosten für Unterkunft und Heizung für den Zeitraum vom 3. Mai 2010 bis 7. September 2010 und hinsichtlich des ernährungsbedingten Mehraufwands in Höhe von 20 % der Regelleistung für den Zeitraum vom 3. Mai 2010 bis 31. Oktober 2010 begründet. Leistungen für die Zeit vor Nachsuchen um gerichtlichen Eilrechtsschutz und die beantragten Darlehen waren abzulehnen.

Eine Regelungsanordnung im Sinne der Verpflichtung zur vorläufigen Leistung kann auch bei Ablehnung von Leistungen nach dem SGB II wegen mangelnder Mitwirkung nach § 66 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - SGB I ergehen, da bei Leistungen zum Lebensunterhalt nur so effektiver Rechtsschutz gewährt werden kann. Mit seinem gegen den Bescheid vom 9. August 2010 eingelegten Widerspruch wendet der Antragsteller sich gegen die Versagung der Leistungen nach den §§ 60, 66 SGB I. Mit diesem Bescheid hat der Antragsgegner die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit ab 1. Mai 2010 versagt. Es handelt sich um ein Anfechtungsbegehren des Antragstellers für das in einem Klageverfahren allein die isolierte Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. SGG; vgl. BSG SozR 1200 § 66 Nr. 13; SozR 4-1200 § 66 Nr. 1; BSG, Urteil vom 1. Juli 2009 - B 4 AS 78/08 R) die zulässige Klageart ist.

Der Widerspruch gegen den Versagungsbescheid hat nach inzwischen einhelliger Auffassung nach § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG aufschiebende Wirkung, weil keiner der Ausnahmefälle des § 86a Abs. 2 SGG gegeben ist. Nach § 39 Nr. 1 SGB II (in der ab 1. Januar 2009 geltenden Fassung des Gesetzes zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente vom 21. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2917)) haben Widerspruch und Anfechtungsklage lediglich gegen Verwaltungsakte, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufheben, zurücknehmen, widerrufen oder herabsetzen oder Leistungen zur Eingliederung in Arbeit oder Pflichten des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen bei der Eingliederung in Arbeit regeln, keine aufschiebende Wirkung. Die vollständige Versagung von Leistungen nach § 66 SGB I wird von den in § 39 Nr. 1 SGB II hinsichtlich einer Leistungsverweigerung abschließend aufgeführten Fallvarianten nach dem eindeutigen Wortlaut der Norm nicht erfasst (Hessisches LSG, Beschluss v. 22.06.2011, L 7 AS 700/10 B ER; LSG Saarland, v. 02.05.2011, L 9 AS 9/11 B ER; LSG Baden-Württemberg, v. 08.04.2010, L 7 AS 304/10 ER-B; Groth in GK-SGB II, § 39 Rdnr. 25; Hengelhaupt in Hauck/Noftz, SGB II, K § 39 Rdnr. 75). Denn die Leistungsversagung nach § 66 SGB I ist gerade nicht auf die Kassation einer früheren Leistungsbewilligung oder auf eine Leistungsherabsetzung gerichtet.

Das Gebot des effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Satz1 GG macht es in diesem Fall erforderlich, eine einstweilige Anordnung gem. § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG zu erlassen (Hessisches LSG v. 22.06.2011, L 7 AS 700/10 B ER; für Sozialhilfe: Hess. LSG v. 22.12.2008, L 7 SO 80/08 B ER; SGB II: LSG Saarland, v. 02.05.2011, L 9 AS 9/11 B ER; LSG Baden-Württemberg, v. 08.04.2010, L 7 AS 304/10 ER-B u. v. 02.07.2004, L 13 RJ 2467/04 ER-B). Denn allein mit dem Erlass einer einstweiligen Anordnung ist für den Antragsteller die Möglichkeit eröffnet, vor einer Entscheidung in der Hauptsache über die Anfechtungsklage gegen den Versagungsbescheid auch hinsichtlich des dahinter stehenden Leistungsbegehrens selbst einstweiligen Rechtsschutz zu erreichen.

Nach § 86b Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung – vorläufige Sicherung eines bestehenden Zustandes -). Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis statthaft, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung – vorläufige Regelung zur Nachteilsabwehr -). Bildet ein Leistungsbegehren des Antragstellers den Hintergrund für den begehrten einstweiligen Rechtsschutz, ist dieser grundsätzlich im Wege der Regelungsanordnung gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 SGG zu gewähren. Danach muss die einstweilige Anordnung erforderlich sein, um einen wesentlichen Nachteil für den Antragsteller abzuwenden. Ein solcher Nachteil ist nur anzunehmen, wenn einerseits dem Antragsteller gegenüber dem Antragsgegner ein materiell-rechtlicher Leistungsanspruch in der Hauptsache möglicherweise - zusteht (Anordnungsanspruch) und es ihm andererseits nicht zuzumuten ist, die Entscheidung über den Anspruch in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund). Das Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache darf nicht mit wesentlichen Nachteilen verbunden sein; d.h. es muss eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert (Conradis in LPK–SGB II, 2. Aufl., Anhang Verfahren Rn. 117).

Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander. Vielmehr stehen beide in einer Wechselbeziehung zueinander, nach der die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Senat, 29.6.2005 - L 7 AS 1/05 ER - info also 2005, 169; Keller in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 9. Aufl., § 86b Rn. 27 und 29, 29a mwN.): Wäre eine Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Wäre eine Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- oder Rechtslage im einstweiligen Rechtsschutz nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher zuzumuten ist. Dabei sind grundrechtliche Belange des Antragstellers umfassend in der Abwägung zu berücksichtigen.

Dem Antragsteller steht für die Zeit ab Nachsuchen um gerichtlichen Eilrechtsschutz am 3. Mai 2010 bis zum Ende des Bewilligungszeitraums am 31. Oktober 2010 sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund hinsichtlich der Kosten für Unterkunft und Heizung und des ernährungsbedingten Mehrbedarfs zu.

Dem steht nicht der Versagungsbescheid vom 9. August 2010 entgegen. Dies folgt bereits daraus, dass dem Widerspruch hiergegen nach § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG aufschiebende Wirkung zukommt. Zudem hat der Antragsgegner zu beachten, dass die Versagung oder Entziehung von Leistungen nach § 66 SGB I grundsätzlich nur für die Zukunft erfolgen darf (BSG v. 26.05.1983 10 RKg 13783, v. 28.02.1990, 10 RKg 17/89) und nicht, wie im Bescheid vom 9. August 2010 geschehen, auch für die Vergangenheit. Der Antragsgegner hat schließlich alle Mitwirkungshandlungen des Antragstellers zu berücksichtigen, die dieser bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides vornimmt (Mrozynski, SGB I, 4. Aufl. 2010, § 67 Rn. 7). Er darf die Leistungen nach § 66 SGB I nur versagen, wenn die geforderten Mitwirkungshandlungen bis zum Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung, d.h. dem Erlass des Widerspruchsbescheides, nicht erbracht sind und soweit die Leistungsvoraussetzungen wegen der fehlenden Mitwirkung nicht nachgewiesen sind.

Für den genannten Zeitraum ist davon auszugehen, dass der Antragsteller die Anspruchsvoraussetzungen der §§ 7, 9 SGB II erfüllt. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Antragsteller im maßgeblichen Zeitraum seinen Lebensunterhalt zumindest teilweise aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern konnte oder die erforderliche Hilfe von Anderen erhielt. Dementsprechend ist ein Anordnungsanspruch -wie auch vom Sozialgericht ausgeführt- im maßgeblichen Zeitraum ausreichend dargelegt. Hierfür sprechen die vom Antragsteller vorgelegten Unterlagen, fehlende Anhaltspunkte für Einkommen, die Kontopfändung bei der C. am 8. März 2010 und die Räumung der Wohnung des Antragstellers zum 7. September 2010. Der Antragsgegner hat dementsprechend die Zahlungen ab Februar 2011 wieder aufgenommen und begründet die Leistungsablehnung für den Zeitraum vom 1. Mai 2010 bis 31. Oktober 2010 nicht mit Einkommen des Antragstellers bzw. einer mangelnden Hilfebedürftigkeit, sondern mit einer fehlenden Eilbedürftigkeit zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Hinsichtlich der Höhe der Unterkunftskosten ist zu berücksichtigen, dass dem Antragsteller nach § 22 SGB II nur ein Anspruch auf die tatsächlich entstandenen Unterkunftskosten zusteht. Der ehemalige Vermieter des Antragstellers hat das Guthaben aus der Betriebskostenabrechnung laut Mitteilung vom 24. August 2010 in Höhe von 241,09 Euro mit der Mietforderung für den Monat Mai 2010 verrechnet, so dass noch eine Restmiete in Höhe von 390,64 Euro für Mai 2010 besteht. Für den Monat September waren die Unterkunftskosten anteilig bis zur Räumung am 7. September zu berücksichtigen.

Dem Antragsteller war auch der begehrte, ernährungsbedingte Mehrbedarf, für die Zeit vom 3. Mai 2010 bis 8. August 2010 zuzusprechen. Gemäß § 21 Abs. 5 SGB II erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige, die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, einen Mehrbedarf in angemessener Höhe. Der Antragsteller leidet nach den vorgelegten ärztlichen Attesten an einer "Sprue". Diese stellt eine sog. verzehrende Erkrankung dar, für die grundsätzlich ein krankheitsbedingter Mehrbedarf für kostenaufwändigere Ernährung besteht. Dies folgt aus den Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe (Dritte Auflage, Stand Oktober 2008; www.deutscher-verein.de/05-empfehlungen/empfehlungen08), die nach den Gesetzesmaterialien (BT-Dr. 15/1516, 57) hinsichtlich der Art der Erkrankung und der Höhe der Krankenkostzulage herangezogen werden sollen. Unabhängig von der in der Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 15.04.2008 - B 14/11b AS 3/07 R; LSG NRW, Urteil vom 22.07.2007 - L 19 AS 41/08; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 03.02.2009 - L 9 B 339/08 AS; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 19.12.2008 - L 8 B 386/08 AS) noch ungeklärten Frage der Rechtsqualität dieser Empfehlungen, etwa als antizipiertes Sachverständigengutachten, enthalten diese jedenfalls Erfahrungssätze für die dort typisierten Regelfälle. Da die beim Antragsteller diagnostizierte Erkrankung explizit in den Empfehlungen des Deutschen Vereins aufgelistet ist, ist ein Anordnungsanspruch für einen ernährungsbedingten Mehrbedarf von 20 % des Regelbedarfs anzunehmen. Der Antragsgegner hat nach zwischenzeitlicher Befürwortung des ärztlichen Dienstes dem Antragsteller für die Zeit ab 1. Februar 2011 vorläufig einen ernährungsbedingten Mehraufwand in Höhe von 20 % des Regelbedarfs gewährt. Eine Änderung im Gesundheitszustand des Antragstellers ist nicht ersichtlich, so dass der Bedarf auch für den zurückliegenden Zeitraum anzuerkennen ist.

Steht dem Antragsteller für den Zeitraum ab Eingang des Antrages auf gerichtlichen Eilrechtsschutz ein Anordnungsanspruch zu, sind an den Anordnungsgrund nur noch geringe Anforderungen zu stellen. Für die Eilbedürftigkeit reicht in diesem Fall aus, dass die gegenüber dem Antragsteller im maßgeblichen Zeitraum angefallenen Mietschulden voraussichtlich zu einem Schufa-Eintrag führen und damit die Möglichkeit des Antragstellers bei der Anmietung einer neuen Wohnung, einer Kontoeröffnung o.ä. erheblich erschweren würden. Der Antragsteller hat dies durch Vorlage der Schufa-Selbstauskunft und der Schufa-Anfrage seines ehemaligen Vermieters ausreichend dargelegt. Zu beachten ist zudem, dass im Falle des Vorliegens eines Anordnungsanspruchs in der Regel auch ein Anordnungsgrund anzunehmen ist, da die Folgenabwägung im Rahmen der Prüfung des Anordnungsgrundes zu Gunsten der Antragsteller ausfällt. Die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II dienen (vgl. etwa Beschlüsse des Senats v. 5.2.2007, L 7 AS 241/06 ER und v. 29.06.2005, L 7 AS 1/05 ER) der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens, mithin der Erfüllung einer verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates, die aus dem Gebot zum Schutz der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot folgt (vgl. BVerwG Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - unter Hinweis auf BVerwGE 82, 60, 80). Diese Grundsätze sind auch auf den Mehrbedarfszuschlag nach § 21 Abs. 5 SGB II anzuwenden. Dieser deckt einen medizinisch notwendigen tatsächlichen Bedarf ab und gehört daher ebenfalls zum verfassungsrechtlich geschützten Existenzminimum (Hess. LSG v. 5.2.2007, L 7 AS 241/06 ER). Wenn der Antragsgegner den Anordnungsanspruch verneint, weil er eine besondere Eilbedürftigkeit für die Zeit vor der gerichtlichen (Eil-) Entscheidung nicht annimmt, übersieht er, dass Leistungen für die Vergangenheit grundsätzlich nur solche sind, die die Zeit vor Eingang des Eilantrages bei Gericht betreffen. Für den Zeitraum ab Nachsuchen um gerichtlichen Eilrechtsschutz sind in aller Regel Leistungen zu gewähren, wenn ein Anordnungsanspruch vorliegt.

Nicht begründet ist die Beschwerde dagegen, soweit der Antragsteller Leistungen für die Zeit vor dem 3. Mai 2010 geltend macht. Dies betrifft den ernährungsbedingten Mehrbedarf für Zeitraum v. 1. Juni 2009 bis 2. Mai 2010 und das vom Antragsteller beantragte Darlehen für fehlende Leistungen in der Vergangenheit. Dies ergibt sich für die Zeit vor Nachsuchen um gerichtlichen Rechtsschutz daraus, dass eine rückwirkende vorläufige Regelungsanordnung regelmäßig nicht in Frage kommt, sofern keine Besonderheiten geltend gemacht werden (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. Beschlüsse v. 17. September 2010, L 7 AS 314/10 B ER und v. 11.02.2008, L 7 AS 19/08 B ER m.w.N und einhellige Meinung, z.B. Keller in Meyer/Ladewig/Keller/Leitherer, 9. Aufl. 2008, § 86 b Rn 35a m.w.N ...). Eine aktuelle Notlage liegt hinsichtlich der vergangenen Zeiträume nicht vor. Hinsichtlich der begehrten Darlehen ist zudem zu beachten, dass der Antragsteller insoweit keinen Antrag bei dem Antragsgegner gestellt hat, ein solcher hat aber dem Eilantrag bei Gericht grundsätzlich vorzugehen. Über ein Darlehen wegen der Kosten der Zwangsräumung hat auch das Sozialgericht Frankfurt am Main noch nicht entschieden, da der Antrag erstmals im Beschwerdeverfahren gestellt worden ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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