L 5 AS 87/08

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 15 AS 756/07
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 5 AS 87/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 13. Oktober 2008 sowie der Bescheid vom 11. Januar 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. März 2007 sowie der Bescheid vom 14. März 2007 in Gestalt des Änderungsbescheides vom 24. April 2008 und des Widerspruchsbescheides vom 31. Juli 2008 werden aufgehoben. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen die Aufhebung der Bewilligung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und die entsprechende Rückforderung.

Der Ehemann der 1960 geborenen Klägerin beantragte am 4. Oktober 2004 Leistungen nach dem SGB II für sich und die Klägerin. Er gab an, die Klägerin habe Einkommen aus nichtselbstständiger Tätigkeit, und reichte hierzu eine Verdienstbescheinigung für den Monat September 2004 ein, nach der die Klägerin 525,52 EUR verdiente.

Die Klägerin verdiente im November 2004 tatsächlich 1.140,59 EUR und im Dezember dieses Jahres 986,72 EUR; das Gehalt wurde zum Ende des Monats auf das Konto ihres Ehemannes bei der H. gezahlt. Diesen gegenüber dem ursprünglichen Antrag erheblich höheren Verdienst teilten weder der Ehemann der Klägerin noch diese selbst dem Beklagten mit.

Am 8. Dezember 2004 erging gegenüber der Klägerin und ihrem Ehemann ein Bescheid zur Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II i.H.v. 610,69 EUR für die Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 2005. Für die Klägerin wurde dabei ein monatliches Erwerbseinkommen in Höhe von 484,52 EUR abzüglich der Freibeträge, damit in Höhe von insgesamt 351,39 EUR angerechnet. Wegen der Berechnung der Leistung im Einzelnen wird auf den Bescheid Bezug genommen.

Die Klägerin verdiente in dieser Zeit tatsächlich 983,61 EUR monatlich.

Bei den späteren Fortzahlungsanträgen vom 3. Mai 2005, 12. Dezember 2005, 29. Juni 2006, 14. November 2006 sowie 12. Dezember 2006 erklärte der Ehemann der Klägerin jeweils, es hätten sich keine Änderungen ergeben. Entsprechend wurde das Einkommen, das in der ursprünglich eingereichten Verdienstbescheinigung ausgewiesen war, weiterhin den Folgebewilligungen zugrunde gelegt. Die Bewilligungsbescheide waren jeweils an den Ehemann der Klägerin als Vertreter der Bedarfsgemeinschaft adressiert, die Auszahlung der Leistungen erfolgte auf sein Konto bei der H ...

Tatsächlich verdiente die Klägerin durchgängig mehr als es die nach wie vor zugrunde gelegte Verdienstabrechnung aus dem Monat September 2004 auswies. Wegen der Verdienste im Einzelnen wird auf die in der Verwaltungs- bzw. Prozessakte enthaltenen Verdienstbescheinigungen Bezug genommen. Das Gehalt wurde seit November 2005 auf ein eigenes Konto der Klägerin bei der S.-Bank ausgezahlt, bis dahin auf das H.-Konto des Ehemannes der Klägerin.

Der höhere Verdienst fiel dem Beklagten erst auf, als er anlässlich des Fortzahlungsantrags vom 14. November 2006 erstmals einen Arbeitsvertrag der Klägerin anforderte und die Klägerin ihren Arbeitsvertrag sowie Verdienstbescheinigungen anlässlich eines persönlichen Gesprächs einreichte.

Mit Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 11. Januar 2007, dessen Absendung sich nicht aus den Akten ergibt, hob der Beklagte die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen vom 1. Januar 2005 bis zum 31. Dezember 2006 gegenüber der Klägerin teilweise auf, da sie einen höheren Verdienst erzielt habe als bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes II berücksichtigt worden sei. Die Aufhebung wurde auf § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) gestützt, da die Klägerin grob fahrlässig ihrer Verpflichtung nicht nachgekommen sei, sämtliche Veränderungen mitzuteilen. Gemäß § 50 SGB X wurde ein Erstattungsbetrag i.H.v. 9.252,16 EUR geltend gemacht.

Ausweislich eines Aktenvermerks vom 19. Februar 2007 erklärte die Klägerin bei einer persönlichen Vorsprache unter Zuhilfenahme eines Dolmetschers gegenüber dem Beklagten, sie habe gar nicht gewusst, dass sie Arbeitslosengeld beziehe; sie arbeite doch und könne ihren Lebensunterhalt allein bestreiten.

Außerdem legte sie am 22. Februar 2007 Widerspruch ein und erklärte, sie habe den Bescheid erst bekommen, als ihr Ehemann aus dem Urlaub zurückgekehrt sei – am 3. Februar 2007; sie selbst habe keinen Briefkastenschlüssel.

Mit Widerspruchsbescheid vom 12. März 2007 wurde der Widerspruch als unzulässig, weil verfristet, verworfen. Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand seien nicht ersichtlich. Selbst wenn die Klägerin erst am 3. Februar 2007 Kenntnis von dem Bescheid erlangt habe, hätte sie noch fristgerecht Widerspruch einlegen können. Der Widerspruch werde als Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X gewertet und dem zuständigen Jobcenter zugeleitet.

Dieser Überprüfungsantrag wurde mit Bescheid vom 14. März 2007 inhaltlich abgelehnt, da der ursprüngliche Bescheid rechtmäßig gewesen sei. Hiergegen legte die Klägerin ohne weitere Begründung am 2. April 2007 Widerspruch ein.

Zudem hat sie am 3. April 2007 Klage erhoben.

Am 24. April 2007 wurde gegenüber der Klägerin ein Teilabhilfebescheid erlassen, der zum Gegenstand des Widerspruchsverfahrens gegen den ablehnenden Überprüfungsbescheid nach § 44 SGB X gemacht wurde. Die Erstattungsforderung wurde auf die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft aufgeteilt. Nach diesem Bescheid wurden die Bewilligungsbescheide vom 8. Dezember 2004, vom 10. Mai 2005, vom 19. Dezember 2005 sowie vom 6. Juni 2006 über die Bewilligung von Leistungen vom 1. Januar 2005 bis zum 31. Dezember 2006 i.H.v. 4.626,09 EUR aufgehoben; davon entfielen 1.623,66 EUR auf die Regelleistung und 3.002,43 EUR auf die Kosten der Unterkunft. Die Aufhebung wurde auf § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB X gestützt, da die Klägerin Einkommen erzielt habe, das zur Minderung des Anspruchs geführt habe. Der Betrag wurde gemäß § 50 SGB X zurückgefordert.

Mit weiterem Bescheid vom 24. April 2007 wurden gegenüber dem Ehemann der Klägerin in gleicher Höhe Leistungen gemäß § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB X zurückgefordert.

Mit Schreiben vom 27. Juli 2007 erläuterte der Beklagte die Aufhebungs- und Rückforderungssumme im Einzelnen. Auf das Schreiben wird verwiesen.

Am 31. Juli 2008 erging ein Widerspruchsbescheid gegenüber der Klägerin, mit dem der Widerspruch in Bezug auf den Überprüfungsbescheid zurückgewiesen wurde, soweit ihm nicht abgeholfen worden war. Die Aufhebung wurde teils auf § 45 SGB X, teils auf § 48 SGB X gestützt. Der Klägerin sei die grobe Fahrlässigkeit des Ehemannes als ihres Stellvertreters nach § 38 SGB II, § 166 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zuzurechnen; außerdem habe sie selbst gewusst, dass die Bedarfsgemeinschaft Leistungen der Beklagten erhalte, da allein aus ihrem Einkommen der Lebensunterhalt nicht zu bestreiten gewesen sei. Zur Berechnung im Einzelnen wurde auf das Schreiben des Beklagten an die Klägerin vom 27. Juli 2007 Bezug genommen.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht am 13. Oktober 2008 hat die Klägerin erklärt, dass ihr Ehemann bereits drei oder vier Jahre arbeitslos sei. Dass er auch für sie Leistungen bezogen habe, habe sie nicht gewusst. Sie selbst habe zunächst vier Stunden täglich gearbeitet. In dieser Zeit sei ihr Gehalt auf das Konto ihres Ehemannes geflossen. Sie habe lediglich ein Taschengeld von 50,- EUR monatlich von ihm erhalten. Später habe sie ein Konto bei der S.-Bank eröffnet und ihr Gehalt dahin geleitet. Ihr Ehemann habe hierauf keinen Zugriff; sie bezahle aber die Miete für die Wohnung.

Der Ehemann der Klägerin hat in seiner Vernehmung als Zeuge vor dem Sozialgericht erklärt, dass er sich nicht weiter um den Aufhebungsbescheid gekümmert habe. Was die Haushaltsführung angehe, so kaufe er üblicherweise ein. Beide Eheleute hätten weitgehend getrennte Kassen. Er habe keinen Zugriff auf das Konto seiner Frau, umgekehrt sei es genauso. Die Verdienstbescheinigung, die er 2004 eingereicht habe, habe er von seiner Frau bekommen. Es sei ihm nicht aufgefallen, dass sich zwar das Einkommen seiner Frau erhöht habe, der bewilligte Betrag aber gleich geblieben sei. Das sei ihm so durchgerutscht. Er schaue generell nur auf die Summe, die auf der ersten Seite stehe; die vielen Tabellen verstehe er nicht recht.

Mit Urteil vom 13. Oktober 2008 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Gegenstand des Rechtsstreits sei nicht nur der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 11. Januar 2007, sondern zudem der im § 44 SGB X-Verfahren ergangene Bescheid vom 24. April 2007, jeweils in Gestalt des entsprechenden Widerspruchsbescheides. Die Aufhebung der Leistungsbewilligung sei nach § 45 SGB X rechtmäßig; schutzwürdiges Vertrauen der Klägerin stehe dem nicht entgegen. Denn ihr Ehemann habe es grob fahrlässig übersehen, dass die Klägerin deutlich mehr verdient habe als in der mit Antragstellung vorgelegten Verdienstbescheinigung ausgewiesen. Auch hätte er bei Durchsicht der Leistungsbescheide erkennen müssen, dass das für die Klägerin zugrunde gelegte Nettoeinkommen deutlich geringer war als ihr tatsächlicher Verdienst. Schließlich hätte der Ehemann bei Stellung der Fortzahlungsanträge prüfen müssen, ob der Verdienst der Klägerin sich geändert hätte. Das hätte sich schon wegen der Urlaubs- und Weihnachtsgeldzahlungen aufgedrängt. Die grobe Fahrlässigkeit ihres Ehemannes müsse die Klägerin sich zurechnen lassen. Sie habe jedenfalls gewusst, dass die Bedarfsgemeinschaft Leistungen bezogen habe, und sich insoweit von ihrem Mann vertreten lassen. Selbst nach Entdecken der Überzahlung habe sie sich weiterhin nicht selbst um die laufenden Leistungsangelegenheiten gekümmert, sondern dies weiterhin ihm überlassen.

Gegen das am 28. Oktober 2008 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 13. November 2008 Berufung eingelegt. Sie habe nicht erkennen können, dass ihr Mann auch für sie Leistungen bezogen habe. Es entspreche ihrer Herkunft, dass sie sich keine Erfahrung im Umgang mit Behörden angeeignet habe. Dass der Haushalt insgesamt mehr finanzielle Mittel umgesetzt habe als ihr bloßes Einkommen, habe sie auf den Leistungsbezug ihres Ehemannes zurückführen dürfen. Auch sei die Rückforderung nicht gerechtfertigt, weil die Leistungen auf das Konto des Ehemannes gegangen seien und sie davon nichts gewusst habe.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 13. Oktober 2008 und den Bescheid vom 11. Januar 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. März 2007 sowie den Bescheid vom 14. März 2007 in Gestalt des Änderungsbescheides vom 24. April 2008 sowie des Widerspruchsbescheides vom 31. Juli 2008 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte tritt der Berufung entgegen und macht insbesondere geltend, dass die Klägerin, wenn sie ihrem Ehemann alles überlassen habe, sich umso mehr sein Handeln zurechnen lassen müsse.

In der mündlichen Verhandlung am 20. Oktober 2011 hat die Klägerin erklärt, sie sei von ihrem Ehemann geschieden. Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Prozessakte und der Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung des Senats gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung hat Erfolg.

I.

Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist die Rechtmäßigkeit der teilweisen Aufhebung der Leistungen an die Klägerin im Zeitraum vom 1. Januar 2005 bis 31. Dezember 2006 sowie die entsprechende Rückforderung. Insoweit geht es um den Bescheid vom 11. Januar 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. März 2007; Bestandskraft ist insoweit nicht eingetreten, der Widerspruch der Klägerin war wegen des fehlenden Absendevermerks auf dem Ausgangsbescheid nicht verfristet. Die in dem auf der irrtümlichen Annahme der Verfristung beruhenden Verfahren nach § 44 SGB X ergangenen Bescheide sind, da sie den streitigen Zeitraum betreffen, ebenfalls Gegenstand des Klagverfahrens.

II.

Die Berufung ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG) erhoben.

III.

Die Berufung ist auch begründet. Das angefochtene Urteil des Sozialgerichts vom 13. Oktober 2008 ist fehlerhaft; der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 11. Januar 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. März 2007 sowie der Teilabhilfebescheid vom 24. April 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Juli 2007 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten.

1. Eine Rücknahme der Leistungsbewilligung konnte nur nach Maßgabe des § 45 SGB X ergehen. Denn es lagen mit den Bewilligungsbescheiden begünstigende Bescheide vor –aufgrund der Vertretungsvermutung des § 38 SGB II mit Bekanntgabe an den Ehemann der Klägerin wirksam geworden –, die infolge der Anrechnung zu geringen Einkommens der Klägerin von Anfang an rechtswidrig waren. Dass der Beklagte die Aufhebung teilweise auf § 48 SGB X gestützt hat, ist unschädlich, da gem. § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 3 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) auch im Rahmen von § 45 SGB X kein Ermessen des Beklagten besteht.

2. Formell sind die Bescheide nicht zu beanstanden. Zwar fehlte es offenbar an einer Anhörung vor Erlass des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides vom 11. Januar 2007; das ist aber im Rahmen des Widerspruchsverfahrens und des Verfahrens nach § 44 SGB X geheilt worden.

Auch sind die angefochtenen Bescheide hinreichend bestimmt. Soweit der Bescheid vom 11. Januar 2007 inhaltlich auch den Ehemann der Klägerin betraf, da es an einer Individualisierung der Aufhebungs- und Rückforderungsentscheidung fehlte, ist das keine Frage der Bestimmtheit, sondern der materiellen Rechtmäßigkeit des Bescheides (vgl. Udsching/Link, SGb 2007 S. 513 ff., 516). Der Bestimmtheitsgrundsatz (§ 33 Abs. 1 SGB X) verlangt, dass ein Verwaltungsakt so eindeutig formuliert ist, dass sich ohne Rückfrage für den Adressaten ergibt, was die Behörde regelt bzw. was von ihm verlangt wird. Ob eine danach hinreichend bestimmte Verfügung vorliegt, ist durch Auslegung zu ermitteln, deren Maßstab die Sicht eines verständigen Empfängers ist (vgl. Engelmann, in: v. Wulffen, SGB X, 7. Aufl. 2010, § 33 Rn. 3 m.w.N.). Ein Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid muss mithin den Zeitraum und das Ausmaß der Rücknahme oder Aufhebung nicht bloß durch Benennung eines nach Anfang und Ende bezeichneten Zeitraumes und eines insgesamt zu Unrecht gewährten Geldbetrages bestimmen, sondern auch die jeweils betroffenen Bewilligungsbescheide nach ihrem Datum bezeichnen. Ob zudem auch sämtliche Änderungsbescheide zu benennen und weiterhin – ggfs. monatsbezogen – anzugeben ist, für welchen (Teil-)Zeitraum die Bewilligungsbescheide in jeweils welcher Höhe zurückgenommen oder aufgehoben werden (so etwa LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 10.8.2011 – L 15 AS 1036/09 m.w.N.), oder ob dies stattdessen eine Frage der hinreichenden – und gem. § 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB X nachholbaren – Begründung (§ 35 Abs. 1 SGB X) ist, kann hier offengelassen werden. Denn der Beklagte hat allen Voraussetzungen mit den im § 44 SGB X-Verfahren ergangenen Bescheiden genügt: Der Bescheid vom 24. April 2007 nennt die betroffenen Bewilligungsbescheide sowie den Zeitraum der Teilaufhebung; der Widerspruchsbescheid vom 31. Juli 2008 nimmt mit der Bezugnahme auf das Schreiben des Beklagten vom 27. Juli 2007 die monatsbezogene Berechnung der Aufhebungs- und Rückforderungssumme auf.

3. Die angefochtenen Bescheide sind jedoch materiell rechtswidrig. Nach § 45 SGB X darf ein rechtswidriger, begünstigender Verwaltungsakt nur zurückgenommen werden, wenn das öffentliche Interesse an der Rücknahme ein schutzwürdiges Interesse des Betroffenen an der Aufrechterhaltung der Verfügung überwiegt; dieser Grundsatz kommt insbesondere in den Bestimmungen des Abs. 2 der Vorschrift zum Ausdruck (vgl. Schütze, in: v. Wulffen, SGB X, 7. Aufl. 2010, § 45 Rn. 2). Eine direkte Anwendbarkeit des § 45 Abs. 2 SGB X scheidet zwar aus, da die Klägerin mangels Kenntnis von der Bewilligung kein Vertrauen in deren Fortbestand entwickeln konnte. Es gilt hier jedoch umso mehr, dass es den Betroffenen unzumutbar hart treffen würde, wenn eine Leistungsbewilligung, von der er keine Kenntnis hatte, aufgehoben und die entsprechenden Leistungen, die ihm nicht zugeflossen sind, zurückgefordert würden. Insofern überwiegt sein schutzwürdiges Interesse an der Aufrechterhaltung der Bewilligung nach der Wertung des § 45 Abs. 2 Sätze 1 und 2 SGB X. Anders wäre es nur zu beurteilen, wenn einer der Vertrauensschutz ausschließenden Gründe des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X vorliegen würde. Das ist aber nicht der Fall.

Ein Ausschluss des Vertrauensschutzes nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X dürfte allein in Bezug auf den Ehemann der Klägerin durchgreifen. Dieser hat nämlich zumindest grob fahrlässig falsche Angaben über das Einkommen der Klägerin gemacht, indem er die Gehaltsabrechnung von September 2004 vorlegte und sich durchgehend weiterhin darauf bezog, obwohl diese Gehaltsbescheinigung schon bei Leistungsbezug nicht der Wahrheit entsprach. Grobe Fahrlässigkeit liegt nach dem Gesetz vor, wenn die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt wurde. Das ist der Fall, wenn der Betroffene einfachste und naheliegende Überlegungen außer Acht lässt, also nach seinem individuellen Verständnishorizont augenfällige Fehler übersieht (zu allem Schütze, a.a.O., Rn. 54 ff. m.w.N.). Nach diesem Maßstab ist dem Ehemann der Klägerin wohl der Vorwurf zu machen, dass er dem Beklagten nicht die Änderungen der Einkünfte der Klägerin meldete, obwohl ihm, da die Einkünfte auf sein Konto liefen, offenkundig sein musste, dass die einmal gemachte Angabe falsch war. Auch nach Umstellen der Gehaltszahlungen auf das Konto der Klägerin ist dem Ehemann der Klägerin wohl weiterhin grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen, weil er sich anlässlich der Fortzahlungsanträge nach ihrem Einkommen – wenn er es nicht kannte – hätte erkundigen müssen.

Das kann aber letztlich dahinstehen, weil jedenfalls der Klägerin ein Verschulden ihres Ehemannes nicht zugerechnet werden kann. Sie trifft kein eigenes Verschulden, da sie zu keinem Zeitpunkt an der Antragstellung beteiligt oder ihr diese bekannt war.

Eine Zurechnung des Verschuldens nach allgemeinen Regeln (§§ 166, 278 BGB) unter volljährigen Mitgliedern einer Bedarfsgemeinschaft kann jedenfalls nicht über § 38 SGB II begründet werden. Denn § 38 SGB II ist kein Fall gesetzlicher Vertretung, sondern normiert lediglich die Vermutung des Vorhandenseins einer Vollmacht. Diese Vermutung erfasst nur die Antragstellung und die Entgegennahme der Leistungen; weitergehende Wirkungen entfaltet § 38 SGB II nicht (zuletzt BSG, Urt. v. 7.7.2011 – B 14 AS 144/10 R; SG Cottbus, Gerichtsbescheid v. 14.4.2009 – S 14 AS 2197/08; A.Loose, in: Hohm, SGB II, § 38 Rn. 32, Stand Juni 2009; Link, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, § 38 Rn. 19; Udsching/Link, a.a.O., S. 517).

Eine Verschuldenszurechnung unter volljährigen Mitgliedern einer Bedarfsgemeinschaft kommt vielmehr nur in den Fällen einer rechtsgeschäftlich erteilten Vollmacht oder – was hier ausscheidet – einer gesetzlichen Vertretung in Betracht (LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O.; A.Loose, a.a.O., Rn. 31., Udsching/Link, a.a.O.). Die rechtsgeschäftlich erteilte Vollmacht kann ausdrücklich erteilt werden, aber auch konkludent in Form einer sog. Duldungsvollmacht. Das setzt allerdings voraus, dass das vertretene Mitglied der Bedarfsgemeinschaft Kenntnis vom Verhalten des Vertreters hat und dies stillschweigend duldet (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O.; Link, a.a.O.; A.Loose, a.a.O., Rn. 31; vgl. auch Schoch, in: LPK-SGB II, 4. Aufl. 2011, § 38 Rn. 18; M.Mayer, in: Oestreicher, SGB II, § 38 Rn. 15, Stand Juni 2011; G.Wagner, in: jurisPK-SGB II, 2. Aufl. 2007, § 38 Rn. 24). Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, bleibt dem Leistungserbringer nur der Weg, direkt gegen den als Vertreter Handelnden vorzugehen.

Eine Vollmacht für den Ehemann der Klägerin, in ihrem Namen Leistungen zu beantragen, liegt hier nicht vor, so dass eine Zurechnung des Verschuldens allein aufgrund einer Duldungsvollmacht in Betracht kommt. Es ist aber nicht nachgewiesen, dass die Klägerin es willentlich hat geschehen lassen, dass ihr Ehemann für sie bei der Beantragung von Leistungen wie ein Vertreter auftrat. Denn sie hat durchgehend und auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat glaubhaft bekundet, dass sie nicht gewusst habe, dass er auch für sie Leistungen bezogen habe. Das erscheint auch nachvollziehbar, da die Klägerin ausreichendes Einkommen erzielte, um ihren Lebensunterhalt zu decken. Es kann ihr auch nicht vorgehalten werden, dass sie von dem Leistungsbezug ihres Mannes gewusst habe. Denn dass sie über die rechtliche Konstruktion der Bedarfsgemeinschaft auch selbst zur Leistungsbezieherin wurde, konnte sie nach ihren Erkenntnismöglichkeiten nicht wissen (vgl. den ähnlich liegenden Fall des LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O.).

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang in der Hauptsache.

Die Revision ist nicht nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, weil Revisionsgründe nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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