L 19 AS 719/12 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 4 AS 1144/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 19 AS 719/12 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 17.04.2012 geändert. Der Antrag der Antragsteller auf Erlass einer Regelungsanordnung hinsichtlich der Gewährung von Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 19.03 bis 03.04.2012 wird abgelehnt. Im Übrigen wird die Beschwerde als unzulässig verworfen. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe:

I.

Der Antragsgegner wendet sich gegen die Verpflichtung zur Gewährung von Leistungen nach dem SGB II in Höhe von insgesamt 282,65 EUR für die Zeit vom 19.03. bis 31.03.2012 und in Höhe von 484,- EUR mtl. für die Zeit vom 01.04. bis 31.08.2012 im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes.

Die Antragstellerin zu 1) und der Antragsteller zu 2) sind verheiratet. Sie besitzen die rumänische Staatsangehörigkeit. Anfang 2009 reisten sie mit ihren Kindern in die Bundesrepublik Deutschland ein. Der Antragsteller zu 2) meldete am 05.02.2009 ein Gewerbe (Einzelhandel mit Textilien, Zeitungen, Büchern, Schuhen, Möbeln, elektrischen Geräten) zum 01.02.2009 an. Die Stadt E erteilte den Antragstellern im März 2009 eine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU mit der Auflage, dass sie zur Aufnahme einer unselbständigen, arbeitsgenehmigungspflichtigen Erwerbstätigkeit eine Arbeitserlaubnis EU und eine Arbeitsberechtigung-EU benötigten. Zum 01.05.2009 meldete der Antragsteller zu 2) sein Gewerbe ab. Am 01.04.2011 erteilte die Agentur für Arbeit in Hagen den Antragstellern eine unbefristete Arbeitsberechtigung-EU für eine berufliche Tätigkeit jeder Art.

Am 27.01.2012 beantragte die Antragstellerin zu 1) beim Antragsgegner die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Sie gab an, dass sie mit ihrem Ehemann bislang den Lebensunterhalt durch Ersparnisse sichergestellt habe, die nunmehr aufgebraucht seien. Durch Bescheid vom 24.02.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.03.2012 lehnte der Antragsgegner den Antrag unter Berufung auf § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ab. Hiergegen erhoben die Antragsteller Klage.

Seit dem 04.04.2012 übt die Antragstellerin zu 1) eine Beschäftigung als Haushaltshilfe gegen ein monatliches Arbeitsentgelt von 190,- EUR aus. Durch Bescheid vom 24.04.2012 bewilligte der Antragsgegner den Antragstellern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von 910,80 EUR mtl. für die Zeit vom 04.04. bis 30.04.2012 und in Höhe von 1.012,- EUR mtl. für die Zeit vom 01.05. bis 31.08.2012

Am 19.03.2012 haben die Antragsteller beantragt, den Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten, ihnen ab Antragseingang Leistungen nach dem SGB II in Höhe des Regelbedarfes und der Kosten der Unterkunft zu gewähren.

Durch Beschluss vom 17.04.2012 hat das Sozialgericht Dortmund den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 282,65 EUR für die Zeit vom 19.03. bis 31.03.2012 und in Höhe von 484,- EUR mtl. für die Zeit vom 01.04. bis 31.08.2012 zu gewähren. Im Übrigen hat es den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Es hat dem Antragsgegner 2/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten auferlegt. Auf die Gründe wird Bezug genommen.

Am 20.04.2012 hat der Antragsgegner Beschwerde eingelegt.

Er ist der Auffassung, dass die Antragsteller ihr Aufenthaltsrecht lediglich auf § 2 Abs. 2 Nr. 1 2. Alternative Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizüG/EU) stützen könnten. Da sich das Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergebe, seien die Antragsteller jedoch nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende ausgenommen. Zweifel an der Vereinbarkeit der Vorschrift mit dem Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union bestünden nicht. Im Rahmen des § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) seien die Gerichte auch grundsätzlich nicht berechtigt, formelle Gesetze als unwirksam zu behandeln. Dies gelte insbesondere, wenn ein Gericht lediglich Zweifel an der Vereinbarkeit der Norm mit höherrangigem Recht habe. Nur ausnahmsweise, wenn das Gericht von der Europarechtswidrigkeit einer innerstaatlichen Norm überzeugt sei und zudem die Durchsetzung der Ansprüche des Antragstellers endgültig versagt würde, habe Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) Vorrang vor Art. 20 Abs. 3 GG mit der Folge, dass ausnahmsweise eine einstweilige Anordnung ergehen könne. Dies setze jedoch eine ansonsten abschließende Prüfung der Sach- und Rechtslage auch im Eilverfahren voraus, für eine "Folgenabwägung" sei hingegen kein Raum.

Der Antragsgegner beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 17.04.2012 aufzuheben und den Antrag abzulehnen.

II.

Die Beschwerde ist hinsichtlich des Zeitraums vom 04.04. bis 31.08.2012 unzulässig (1). Im Übrigen ist die Beschwerde begründet (2).

1.

Die Beschwerde ist unzulässig, soweit sie sich gegen die im Beschluss vom 17.04.2012 ausgesprochene Verpflichtung zur Gewährung von Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 484,00 EUR mtl. für die Zeit vom 04.04. bis 31.08.2012 im Wege des einstweiligen Rechtschutzes richtet. Das Rechtsschutzbedürfnis des Antragsgegners ist insoweit durch den Erlass des Bewilligungsbescheides vom 24.04.2012 entfallen. Bei diesem Bescheid handelt es nicht um einen Ausführungsbescheid des Antragsgegners hinsichtlich der Verpflichtung aus dem Beschluss vom 17.04.2012. Vielmehr hat der Antragsgegner nach eigener Prüfung wegen einer Änderung der Sachlage - Aufnahme einer geringfügigen Erwerbstätigkeit durch die Antragstellerin zu 1) - den Antragstellern für die Zeit vom 04.04. bis 31.08.2012 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von 1.012,00 EUR mtl. vorläufig gewährt. Mithin ist eine Beschwer des Antragsgegners bezüglich des Zeitraums aufgrund eigenen Handelns nicht mehr erkennbar.

2.

Hinsichtlich des Zeitraums vom 19.03. bis 03.04.2012 ist die Beschwerde begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruches (d. h. eines materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird) sowie das Vorliegen des Anordnungsgrundes (d.h. der Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten) voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bzw. die besondere Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86 Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO -). Dabei ist für die Beurteilung der Sach- und Rechtsalge auf den Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung abzustellen.

Zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung ist im Hinblick darauf, dass der Antragsgegner den Antragstellern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit ab dem 04.04.2012 bewilligt hat, ein Anordnungsgrund für den Zeitraum vom 19.03 bis 03.04. 2012 nicht glaubhaft gemacht.

Die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II liegen zumindest bei der Antragstellerin zu 1) nach der im einstweiligen Rechtschutzverfahren möglichen Prüfungsdichte - wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt - vor. Ob die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II beim Antragsteller zu 2), insbesondere hinsichtlich seiner Erwerbsfähigkeit i.S.v. § 8 Abs. 1 SGB II gegeben sind, kann dahinstehen. Jedenfalls erfüllt er nach der im einstweiligen Rechtschutzverfahren möglichen Prüfungsdichte die Voraussetzungen für den Bezug von Sozialgeld nach § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II.

Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II greift jedoch nach dem Wortlaut des Gesetzes zu Ungunsten der Antragsteller ein, da sich das Aufenthaltsrecht der Antragssteller allein aus § 2 Abs.2 Nr.1 FreizüG/EU - Aufenthalt zum Zwecke der Arbeitsuche - ergibt. Bislang ist nicht geklärt, ob die Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II mit dem Gemeinschaftsrecht der Europäischen Gemeinschaft vereinbar ist und damit für EU-Bürger einschränkend auszulegen ist. Dies ist in Rechtsprechung und Kommentierung umstritten (vgl. LSG Berlin-Brandenburg Beschlüsse vom 29.02.0212 - L 20 AS 2347/11 B ER - und vom 03.04.2012 - L 5 AS 2157/11 B ER mit Zusammenfassung des Meinungstandes; siehe auch LSG NRW Beschluss vom 07.12.2011 - L 19 AS 1956/11 B ER LSG NRW Urteil vom 22.06.2010 - L 1 AS 36/08 -). Soweit der Senat in Entscheidungen im Fall von sog. EU-Neubürger davon ausgegangen ist, dass die Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit dem Europäischen Gemeinschaftsrecht vereinbar ist (vgl. zuletzt LSG NRW Beschluss vom 07.12.2011 - L 19 AS 1956/11 B ER m.w.N.), betraf dies Sachverhalte, in denen die Antragsteller nicht im Besitz einer Arbeitsgenehmigung-EU gewesen sind und damit nicht den gleichen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt wie deutsche Arbeitssuchende gehabt haben. Vorliegend besitzen die Antragsteller seit dem 16.03.2011 eine unbeschränkte und unbefristete Arbeitsgenehmigung-EU und haben damit den gleichen Zugang zum Arbeitsmarkt wie deutsche Arbeitnehmer.

Wegen der Komplexität der Sach- und Rechtslage hinsichtlich der Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II mit europäischem Gemeinschaftsrecht im Fall eine sog. EU-Neubürgers mit einer unbeschränkten und unbefristeten Arbeitsgenehmigung-EU erscheint eine abschließende Klärung der Sach- und Rechtslage, insbesondere auch im Hinblick auf die Dauer von Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV (vgl. hierzu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10 Aufl., § 86b Rn 13,39), im einstweiligen Rechtschutzverfahren betreffend die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht möglich. In einem solchen Fall ist aufgrund einer Folgenabwägung zu entscheiden (vgl. BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05). Die grundrechtlichen Belange der Antragsteller sind dabei umfassend in die Abwägung einzubeziehen. Die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende dienen der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens. Diese Sicherstellung ist eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, die aus dem Gebot zum Schutz der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot folgt (BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05).

Unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles - Sicherung des Lebensunterhalts durch die Gewährung von Leistungen ab dem 04.04.2012, Dauer des noch streitbefangenen Zeitraums von 14 Tagen und Höhe der streitigen Leistungen Regelbedarfe von insgesamt 331,05 EUR - überwiegt vorliegend das Interesse des Antragsgegners, keine finanziellen Aufwendungen an die Antragsteller bei ungeklärter Rechtslage aufbringen zu müssen, das Interesse der Antragsteller am Erhalt von Regelbedarfen nach § 20 SGB II für die Zeit vom 19.03. bis 03.04.2012 in Höhe von insgesamt 331,05 EUR. Den Antragstellern ist ein Abwarten der Entscheidung im Hauptsache über ihren Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 19.03 bis 03.04.2012 zumutbar. Es sind weder aus dem Akteninhalt noch aus dem Vortrag der Antragsteller Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass bei ihnen infolge einer Nichtgewährung des Regelbedarfs für 14 Tagen erhebliche Beeinträchtigungen eingetreten sind, die nachträglich nicht mehr ausgeglichen werden können. Mit der Gewährung der Leistungen nachdem SGB II für die Zeit ab dem 04.04.2012 ist das Existenzminimum der Antragsteller zunächst auch während des Hauptsacheverfahrens gedeckt, so dass sie nicht ausreisen müssen, sondern sich im Inland um die Durchsetzung ihrer Rechts bemühen können. Der Senat hat bei der Abwägung auch berücksichtigt, dass es sich bei der Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II um ein formales Gesetz handelt, an das der Antragsgegner bei der Ausführung der Bestimmungen des SGB II gebunden ist, und nach dessen Wortlaut der Leistungsausschluss eingreift (vgl. hierzu LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 29.02.2012 - L 20 AS 2347/11 B ER -, wonach eine einstweilige Anordnung die Überzeugung des Gerichts von der Europarechtswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II voraussetzt mit Zusammenfassung des Meinungstandes).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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