S 11 AS 7433/10

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
SG Magdeburg (SAN)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
11.
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 11 AS 7433/10
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die freiwillige Tilgung einer außerehelichen Unterhaltsverpflichtung kann in der Bedarfsgemeinschaft nicht vom Einkommen des Ehegatten abgesetzt werden.
Bemerkung
Berufung unter L 5 AS 236/12
Die Klage wird abgewiesen. Die Prozessbeteiligen haben sich Kosten nicht zu erstatten. Die Berufung und die Sprungrevision werden zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger macht im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens einen Anspruch auf höhere Leistungen der Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) geltend, den er in der mündlichen Verhandlung auf den Zeitraum vom 1. März 2009 bis 31. Mai 2009 beschränkt hat.

Der 1961 geborene Kläger ist verheiratet und hat gemeinsam mit seiner Ehefrau einen im Jahr 2002 geborenen Sohn und eine im Jahr 2007 geborene Tochter. Außerdem hat er einen 1993 geborenen, außerehelichen Sohn, der bei seiner Mutter und nicht bei dem Kläger lebt. Aufgrund eines amtsgerichtlichen Vergleichs war der Kläger in dem streitigen Zeitraum verpflichtet, an diesen Sohn Unterhaltsleistungen in Höhe von ... EUR monatlich zu zahlen.

Nach dem Bezug von Arbeitslosengeld I beantragte der Kläger bei der Beklagten am 17. Februar 2009 für sich, seine Ehefrau und die gemeinsamen Kinder die Gewährung von Grundsicherungsleistungen. Die Ehefrau des Klägers stand zu diesem Zeitpunkt in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis und bezog einen monatlichen Bruttolohn von ... EUR (Netto ... EUR).

Mit Bescheid vom 26. Februar 2009 bewilligte die Beklagte dem Kläger und seiner mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Familie (Ehefrau und die beiden Kinder) für den Zeitraum vom 1. März 2009 bis 31. Juli 2009 Leistungen der Grundsicherung in Höhe von ... EUR monatlich. Darin enthalten war ein Betrag von ... EUR als befristeter Zuschlag an den Kläger gemäß § 24 SGB II. Bei der Berechnung der Leistungen berücksichtigte die Beklagte neben dem Kindergeld ein bereinigtes Einkommen der Ehefrau in Höhe von ... EUR. Den im Antrag aufgeführte Unterhaltsbetrag von ... EUR hatte die Beklagte hiervon nicht abgesetzt.

Ab dem 15. Juni 2009 arbeitete der Kläger wieder und erzielte im Monat Juni einen Nettoverdienst von ... EUR.

Am 28. Dezember 2009 beantragte der Prozessbevollmächtigte für den Kläger die "Überprüfung gemäß § 44 SGB X für alle bereits bestandskräftigen Bewilligungsbescheide" und begründete den Antrag mit der verfassungsgerichtlich noch zu klärenden Grundsatzfrage zur Höhe der Regelleistungen. Mit Bescheid vom 26. Januar 2010 lehnte die Beklagte es ab, den Bescheid für den Bewilligungsabschnitt ab 1. März 2009 zurückzunehmen und die Leistungshöhe neu zu regeln, da es hierfür keine rechtliche Grundlage gebe. Auf den dagegen am 21. Februar 2010 eingelegten Widerspruch forderte die Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 28. April 2010 unter Fristsetzung bis zum 5. Mai 2010 auf, den Widerspruch zu begründen bzw. darzulegen, weshalb der ursprüngliche, zur Überprüfung gestellte Bescheid rechtswidrig sei. Der Kläger äußerte sich nicht, so dass die Beklagte den Widerspruch nach Ablauf der Frist mit Widerspruchsbescheid vom 7. Mai 2010 zurückwies und zur Begründung ausführte, der Kläger habe nichts vorgetragen, was die Annahme der Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 26. Februar 2009 rechtfertige. In der Rechtsbehelfsbelehrung wies sie auf die Klagemöglichkeit eines jeden von dem Widerspruchsbescheid Betroffenen hin.

Gegen den ihm am 10. Mai 2010 übersandten Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 19. Mai 2010 Klage erhoben und – soweit er sie in der mündlichen Verhandlung nicht beschränkt hat – zur Begründung vorgetragen, die Beklagte habe es bei der Berechnung des Leistungsanspruchs versäumt, seine im Leistungsantrag angegebene und titulierte monatliche Unterhaltsverpflichtung gegenüber seinem ältesten Sohn in Höhe von ... EUR von dem Einkommen seiner Ehefrau abzusetzen. Der Abzug seiner Unterhaltsverpflichtung von dem Einkommen seiner Ehefrau sei nach der Rechtsprechung des Landessozialgericht ... im Beschluss vom 27. Januar 2009 (L 32 AS 3/09 B ER) zulässig.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 26. Januar 2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 7. Mai 2010 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 26. Februar 2009 für den Zeitraum vom 1. März 2009 bis 31. Mai 2009 zurückzunehmen und unter Berücksichtigung des Abzugs der monatlichen Unterhaltszahlung von ... EUR bei dem Einkommen seiner Ehefrau für denselben Zeitraum höhere ALG-II-Leistungen zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie trägt vor, ein leistungswirksamer Abzug der Unterhaltsverpflichtung komme nicht in Betracht, weil der Kläger als Unterhaltsverpflichteter kein eigenes Einkommen bezogen habe, von dem der Unterhaltsbetrag habe abgesetzt werden können. Der Betrag dürfe auch nicht bei dem Einkommen der Ehefrau berücksichtigt werden, da diese dem außerehelichen Sohn des Klägers gegenüber nicht unterhaltspflichtig sei. Der vom Kläger angeführten Entscheidung des Landessozialgericht ... komme keine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zu, weil sie im Widerspruch zur Dienstanweisung der Bundesagentur für Arbeit stehe.

Der Kläger hat eine Kopie des Verhandlungsprotokolls der Sitzung vor dem Amtsgericht O. vom 26. Mai 2004 eingereicht, wonach er sich unter Nr. 3 des dort geschlossenen Vergleiches verpflichtet hatte, an seinen Sohn ab Juli 2005 einen Unterhaltsbetrag in Höhe von 32 % des Regelbetrages nach § 2 der Regelbetragsverordnung der dritten Altersstufe ohne Anrechnung des staatlichen Kindergeldes zu zahlen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

Die Klage beschränkt sich auf das in der mündlichen Verhandlung eingeschränkte Begehren des - anwaltlich vertretenen - Klägers, da nur er, nicht aber die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft (Ehefrau und die gemeinsamen Kinder) Klage erhoben hat. Eine auf die gesamte Bedarfsgemeinschaft ausdehnende Auslegung der Klage ist seit Ablauf der Übergangsfrist am 30. Juni 2007 nicht zulässig (vgl. Eicher/Spellbrink, SGB II, § 40 Rn 116 m. w. N.).

Die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage des Klägers ist zulässig, aber nicht begründet. Der Bescheid vom 26. Januar 2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 7. Mai 2010 war nicht aufzuheben, weil der Kläger keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Rücknahme des Bescheides vom 26. Februar 2009 hat.

Wegen des Antrags des Klägers vom 28. Dezember 2009 dient § 40 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) in der bis zum 31. März 2011 geltenden Ursprungsfassung des Gesetzes vom 24.12.2003 (BGBl. I S. 2954) in Verbindung mit § 44 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) als Rechtsgrundlage für die Überprüfung seines Leistungsanspruchs für den Zeitraum vom 1. März 2009 bis 31. Mai 2009. Danach ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Beruht das Überprüfungsbegehren auf einem Antrag des Betroffenen, sind Leistungen rückwirkend für längstens vier Jahre ab Beginn des Jahres, in dem der Antrag gestellt wurde, nachträglich zu erbringen (§ 44 Abs. 4 SGB X).

Der Bescheid vom 26. Februar 2009 ist auch unter Berücksichtigung der vom Kläger vorgetragenen Klagebegründung nicht rechtswidrig. Zwischen den Beteiligten sind die Berechtigung des Klägers sowie die Voraussetzungen der Leistungsgewährung nach §§ 7, 19 ff. SGB II, insbesondere die Hilfebedürftigkeit nach § 9 SGB II, dem Grunde nach nicht streitig. Das Gericht hat die Anspruchsvoraussetzungen überprüft und keine Anhaltspunkte für eine unrichtige Anwendung des Rechts zum Nachteil des Klägers gesehen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Vorbringen des Klägers zur Höhe des Anspruchs auf ALG II, wonach die Beklagte zu Unrecht den durch amtsgerichtlichen Vergleich titulierten Unterhaltsbetrag von ... EUR, den er monatlich an seinen ersten Sohn zahlt, ohne das dieser Mitglied seiner Bedarfsgemeinschaft ist, nicht bei der Ermittlung des zu berücksichtigenden Einkommens seiner Ehefrau abgezogen habe. Dies ist nicht zu beanstanden.

Gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 2 SGB II liegt Hilfebedürftigkeit insoweit nicht vor, als der Bedarf aus dem eigenen zu berücksichtigenden Einkommen des Berechtigten gedeckt werden kann. In einer Bedarfsgemeinschaft ist gemäß § 9 Abs. 2 SGB II auch das zu berücksichtigende Einkommen des Ehepartners zur Bedarfsdeckung heranzuziehen. Gemäß § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 SGB II sind von dem Einkommen des Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft, das für die Anspruchsberechtigung zu berücksichtigen ist, Aufwendungen zur Erfüllung gesetzlicher Unterhaltsverpflichtungen bis zu dem in einem Unterhaltstitel oder in einer notarielle beurkundeten Unterhaltsvereinbarung festgelegten Betrag abzusetzen. Die Kammer ist zu dem Ergebnis gelangt, dass diese Vorschrift keine Anwendung findet, wenn - wie in dem Fall des Klägers - der Einkommensbezieher nicht zugleich der Unterhaltsverpflichtete ist. Insoweit teilt die Kammer nicht die vom Landessozialgericht ... im Beschluss vom 27. Januar 2009 (L 32 AS 3/09 B ER, www.sozialgerichtsbarkeit.de/Entscheidungen) vertretene abweichende Auffassung, wonach es sich bei einem titulierten Unterhaltsanspruch um einen erhöhten Bedarf handele, der zur eigenen Existenzsicherung hinzutrete. Die in einer solchen Konstellation vorliegende titulierte Unterhaltsverpflichtung gehört nicht zum Bedarf des Hilfebedürftigen bzw. der Bedarfsgemeinschaft, den es nach § 19 ff. SGB II durch Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts, Mehrbedarfe und Kosten der Unterkunft und Heizung zu decken gilt (vgl. auch Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 11. Dezember 2006 – L 13 AS 2/06 ER, www.sozialgerichtsbarkeit.de/Entscheidungen). Zur Erfüllung eines solchen Unterhaltsanspruchs stehen die Leistungen nach dem SGB II nicht zur Verfügung. Vielmehr ist der titulierte Unterhalt von dem Verpflichteten zu zahlen, wenn er z. B. wegen des Bezuges von Einkommen leistungsfähig ist. Allein dies ist der Grund dafür, den Unterhaltsbetrag von dem Einkommen abzusetzen. Ist der Verpflichtete z. B. wegen eigener Hilfebedürftigkeit nicht (mehr) leistungsfähig, hat er vorrangig die Möglichkeit, sich gegen seine Unterhaltsverpflichtung zu wenden, indem er bei dem Familiengericht die Abänderung des Unterhaltstitels beantragt (§ 323 ZPO i. d. bis zum 31. August 2009 geltenden Fassung, § 239 FamFG).

Vor diesem Hintergrund ist § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 SGB II nach Sinn und Zweck eng auszulegen, zumal bereits der Wortlaut die abzugsfähigen Unterhaltsbeträge allein auf die titulierten gesetzlichen Unterhaltsverpflichtungen beschränkt und den Abzug von freiwilligen Unterhaltszahlungen ausschließt (Mecke in Eicher/Spellbrink, SGB II, § 11 Rn 128). Damit ist auch die freiwillige Tilgung der Unterhaltsverpflichtung eines Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft aus dem Einkommen eines anderen Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft ausgeschlossen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem vom Landessozialgericht ...angeführten Gesichtspunkt des gegenseitigen Tragens von Verantwortung und füreinander Einstehens innerhalb der Ehe (§ 1353 Abs. 1 Satz 2 BGB) und der Bedarfsgemeinschaft (vgl. § 7 Abs. 3 Nr. 3 und Abs. 3a SGB II). Die Ehegatten stehen nur insoweit füreinander ein, als sie sich gegenseitig Unterhalt schulden (§§ 1360, 1360a BGB). Sie sind nicht verpflichtet, den Unterhalt des außerehelichen Kindes des anderen Ehegatten zu tragen. Auch die familienrechtliche Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten nach § 1603 BGB führt zu keinem andern Ergebnis. Ist der Unterhaltsverpflichtete wegen geringen Einkommens eigentlich nicht leistungsfähig, wird seine Pflicht, aus dem eigenen Einkommen Unterhalt an das außereheliche Kind zu leisten, dennoch erweitert, wenn sein eigener angemessener Unterhalt wegen des Einkommens des nichtverpflichteten Ehepartners und dem ihm daraus zustehenden Ehegattenunterhalts nicht gefährdet ist (vgl. BGH, Urteil vom 29.10.2003 – XII ZR 115/01, NJW 2003, 3770 ff.) Jedoch setzt auch diese unterhaltsrechtliche Erweiterung Einkommen des Unterhaltsverpflichteten voraus und greift gerade nicht auf das Einkommen des anderen, nichtverpflichteten Ehepartners zurück. Diese Zuordnung ist auf das Leistungsrecht des SGB II übertragbar. Ehepartner in der Bedarfsgemeinschaft schulden sich zwar den ehelichen Unterhalt, nicht aber außereheliche Unterhaltsverpflichtungen des anderen, so dass solche Verpflichtungen nicht vom Einkommen abzusetzen sind (vgl. Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, a. a. O.). Letztlich hat der Einkommensbezieher in einer (familiären) Bedarfsgemeinschaft sein Einkommen zuallererst zur Deckung des Familienunterhalts und Vermeidung oder Minderung der Hilfebedürftigkeit seiner Bedarfsgemeinschaft einzusetzen. Mit der freiwilligen Tilgung einer sonstigen Verpflichtung des Ehegatten wird der Bedarf der Bedarfsgemeinschaft nicht gedeckt.

Im streitigen Zeitraum schuldete der Kläger seinem außerehelichen Sohn Unterhalt in Höhe von ... EUR monatlich. Da er kein Einkommen hatte, aus dem er diese Unterhaltsverpflichtung aufbringen konnte, war der Betrag bei ihm nicht abzusetzen. Von dem Einkommen der Ehefrau des Klägers war der Betrag nicht abzuziehen, weil sie nicht unterhaltsverpflichtet im Sinne des § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 SGB II war.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 Abs. 1, 193 SGG und folgt aus dem Unterliegen des Klägers.

Der Streitgegenstand (höhere Leistungen für drei Monate) überschreitet nicht den für die Berufung notwendigen Beschwerdewert von 750,00 EUR. Die Kammer hat die Berufung und darüber hinaus auch die Sprungrevision zugelassen, weil sie der Frage der Zulässigkeit des Abzugs einer titulierten Unterhaltszahlung von dem Einkommen eines nicht unterhaltsverpflichteten Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft wegen der nicht einheitlichen obergerichtlichen Rechtsprechung grundsätzliche Bedeutung beigemessen hat (§§ 144 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Satz 1, 160 Abs. 2 Nr. 1, 161 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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