S 37 AS 17263/12 ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
37
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 37 AS 17263/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage S 37 AS 12517/12 gegen den Bescheid vom 29.6.2012 wird festgestellt. 2. Im Wege der Anordnung der Aufhebung der Vollziehung wird der Antragsgegner verpflichtet, der Antragstellerin die mit Bescheid vom 18.1.2012 bewilligten Leistungen für Juli 2012 bis spätestens 6.7.2012 in Höhe von 694,95 EUR nachzuzahlen. 3. Im Wege der Sicherungsanordnung wird der Antragsgegner verpflichtet, der Antragstellerin die mit Bescheid vom 18.1.2012 bewilligten Leistungen für August 2012 bis spätestens 1.8.2012 in Höhe von 694,95 EUR auszuzahlen.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin (Ast.) ist spanische Staatsbürgerin und lebt seit September 2007 im Bundesgebiet. Auf der Grundlage eines Bewilligungsbescheides vom 18.1.2012 über den Bewilligungszeitraum März bis August 2012 erhielt sie bis Ende April 2012 Leistungen nach dem SGB II in Höhe von monatlich 694,95 EUR.

Mit einem auf § 48 SGB X gestützten, von der Ast. mit Widerspruch und Klage angefochtenen Bescheid vom 14.5.2012, bestätigt mit Widerspruchsbescheid vom 21.5.2012, hob der Antragsgegner (Ag.) den Bewilligungsbescheid ab 1.5.2012 ganz auf und verwies die Ast. an das Sozialamt; Leistungen nach dem SGB II seien ihr als bloß arbeitsuchende EU-Bürgerin verschlossen.

Das Sozialamt sieht sich wegen der sehr kontrovers beurteilten Streitfrage zur EU-Konformität des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht in der Pflicht, Hilfe zum Lebensunterhalt an erwerbsfähige EU-Bürger zu gewähren (Schreiben der Senatverwaltung für Gesundheit und Soziales vom 7.5.2012).

Dementsprechend war eine Vorsprache der Ast. auf dem Sozialamt am 15.5.2012 erfolglos.

Die Ast. wandte sich daher mit einem Eilantrag an das Sozialgericht, das mit Beschlüssen vom 16.5. und 5.6.2012 die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage gegen den Bescheid vom 14.5.2012, Fassung Widerspruchsbescheid vom 21.5.2012 anordnete.

Trotz Anordnung der aufschiebenden Wirkung und Verwerfung eines Aussetzungsantrags nach § 199 Abs. 2 SGG durch das Landessozialgericht als unzulässig, verweigerte der Ag. die Auszahlung der bewilligten Leistungen.

Auch Zwangsgeldandrohungen- und -festsetzungen nach § 201 SGG (die vom LSG wegen des nicht vollstreckungsfähigen Inhalts der Anordnungsbeschlüsse vom 16.5. und 5.6.2012 aufgehoben wurden) veranlassten den Ag. nicht, seine Verpflichtung zur Auszahlung der bewilligten Leistungen zu erfüllen.

Erst nachdem das Sozialgericht den Ag. mit weiterem Beschluss vom 20.6.2012 im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet hatte, der Ast. die mit Bescheid vom 18.1.2012 bewilligten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unverzüglich auszuzahlen, erklärte sich der Ag. bereit, die Leistungen für Mai und Juni 2012 "ohne Anerkennung einer Rechtspflicht" nachzuzahlen.

Die Beschwerden des Ag. gegen die Anordnungsbeschlüsse vom 16.5. und 5.6.2012 wies das LSG mit Beschluss vom 22.6.2012 als unbegründet zurück; der Bescheid vom 14.5.2012 könne offensichtlich nicht auf § 48 SGB X gestützt werden, für eine Aufhebung nach § 45 SGB X fehlten Ermessenerwägungen; außerdem sei der geltend gemachte Leistungsausschluss nicht europarechtskonform.

In Kenntnis dieses Beschlusses hob der Ag. den Bescheid vom 14.5.2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.5.2012 ganz auf und erließ nach Anhörung der Ast. einen auf § 45 SGB X gestützten Bescheid (Datum 29.6.2012), mit dem die bewilligten Leistungen ohne Benennung des Zeitraums, ab dem die Aufhebung greifen soll, aufgehoben werden.

Hiergegen hat sich die Ast. am 2.7.2012 erneut an das SG Berlin mit dem Antrag gewandt, dass von Seiten des Gerichts die nötigen Maßnahmen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts für die Monate Juli und August 2012 getroffen werden.

Der Ag. hat sich zu diesem Antrag nach Hinweis des Gerichts auf Bedenken gegen die Aufhebungsentscheidung (fehlende Ausübung von Ermessen) nicht geäußert.

II.

Einstweiliger Rechtsschutz gegen den neuen Aufhebungsbescheid vom 29.6.2012 ist bereits mit der vom LSG bestätigten aufschiebenden Wirkung der Klage S 37 AS 12517/12 gegeben. Denn der Bescheid vom 29.6.2012 ersetzt den Bescheid vom 14.5.2012 und ist daher nach § 96 SGG Gegenstand der anhängigen Klage geworden (vgl. z. B. BSG vom 6.4.2006 – B 7a AL 64/05 R).

Dies war gemäß Ziffer 1 des Tenors festzustellen, da der Ag. ungeachtet der Beschwerde-entscheidung des LSG, soweit dieses die EU-Konformität des Leistungsausschlusses mit der Mehrheit der Instanzgerichte verneint, an seiner Auffassung unter fortdauernder Missachtung der aufschiebenden Wirkung der Klage festhält.

Es war daher außerdem auf eine Anordnung der Aufhebung der Vollziehung gemäß § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG zu erkennen.

§ 86b Abs. 1 Satz 2 SGG erfasst als unselbständiger Folgenbeseitigungsanspruch die Rückgängigmachung bereits erfolgter Vollziehungshandlungen, hier die Nichtauszahlung der bewilligten Leistungen für die Zeit ab 1.7.2012. Die Abwägungsentscheidung, ob eine bereits erfolgte Vollziehung aufzuheben ist, kann angesichts des Verhaltens des Ag. nur im Sinne einer Verpflichtung zur unverzüglichen Nachzahlung der Leistung ausfallen. Anderenfalls bliebe die vorsätzliche Missachtung der aufschiebenden Wirkung unter Ausnutzung des Umstandes, dass Anordnungen der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 SGG keinen vollstreckbaren Inhalt haben, ohne Folgen. Ohne SGB II- und der vom Sozialamt ebenfalls abgelehnten SGB XII-Leistungen droht dem Rechtsschutzsuchenden eine akute Notlage, sein in Art. 1, 2 GG verbürgter Anspruch auf Sicherung des Existenzminimums liefe leer.

Dass bisherige Verhalten des Ag. gibt Grund zu der Annahme, dass er auch die erneute Entscheidung des erkennenden Gerichts ignorieren wird. Dies erfordert die Sicherungs-anordnung gemäß Ziffer 3 des Tenors. Da die Leistungen ganz entzogen werden, ist es für die Ast. nicht zumutbar, erst den Nichtzugang der für August 2012 bewilligten Leistung abzuwar-ten, um dann am 2.8. oder 3.8.2012 eine Anordnung der Aufhebung der Vollziehung für August zu beantragen.

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass auch der Bescheid vom 29.6.2012 nicht erkennen lässt, dass der Ag. die Umstände des Einzelfalles gewertet hat, was bei der hier allein möglichen Aufhebung für die Zukunft nach § 45 SGB X unverzichtbar ist; ansonsten bleibt die Behauptung, Ermessen ausgeübt zu haben, eine bloße Textbaustein-Erklärung, wie es hier der Fall ist.

Die Ast. hat daher auch nach Erlass des Ersetzungsbescheides allein schon aus verfahrensrechtlichen Gründen Anspruch auf pünktliche Auszahlung der bewilligten Leistungen.

Vorsorglich ist auf die Selbstverständlichkeit hinzuweisen, dass die Wirkung dieses Eilbeschlusses nicht im Wege des Erlasses eines weiteren Bescheides, ohne dass sich die Sach- oder Rechtslage geändert hat, unterlaufen werden darf (Meyer/Ladewig § 86 b Rdnr. 19a).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.
Rechtskraft
Aus
Saved