S 55 AS 13349/12

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
55
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 55 AS 13349/12
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze:

1. Ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II besteht für nach Art 2, 3, 4, 70 EU-VO 883/2004 Berechtigte nicht, weil das Gleichbehandlungsgebot des Artikel 4 EU-VO 883/2004 wegen § 30 Abs 2 SGB I unmittelbar rechtswirksam ist. Ansprüche auf Arbeitslosengeld II nach §§ 19 Abs 1 Sätze 1 und 3, 20 Abs 1, 2 und 5, 7 Abs 1 Satz 1 und 22 Abs 1 SGB II werden als besondere beitragsunabhängige Geldleistungen von Art 70 EU-VO 883/2004 erfasst.
2. Das Ermessen der Jobcenter nach §§ 40 Abs 2 Nr 1 SGB II, 328 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB III bei der Gewährung von Grundsicherungsleistungen wird hinsichtlich der Vorlagebeschlüsse des SG Berlin zur Vereinbarkeit der Regelbedarfe mit dem Grundgesetz bis zu einer Entscheidung des BVerfG bzw des Gesetzgebers regelmäßig auf die Erteilung einer Vorläufigkeitsbestimmung reduziert, denn eine solche Bestimmung wahrt umfassend die Realisierung des Legalitätsprinzips wie auch effektiver Anspruchsdurchsetzung ohne unnötigen Verwaltungsaufwand.

Tenor:

1. Der Bescheid der Beklagten vom 29. Dezember 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 2012 wird aufgehoben. 2. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Arbeitslosengeld II für den Zeitraum vom 1. November bis 31. Dezember 2011 in Höhe von monatlich 648,40 EUR und für den Zeitraum vom 1. Januar und bis 29. Februar 2012 in Höhe von monatlich 659,00 EUR zu zahlen. 3. Die Beklagte wird verpflichtet, Arbeitslosengeld II für den Zeitraum vom 1. November 2011 bis 29. Februar 2012 mit folgender Bestimmung zu bewilligen: "Soweit durch die Bewilligungsentscheidung höhere als die bewilligten Leistungen versagt werden, ergeht die Entscheidung gemäß §§ 40 Abs 2 Nr 1 SGB II, 328 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB III vorläufig im Hinblick auf die Vorlagebeschlüsse des Sozialgerichts Berlin vom 25. April 2012 (S 55 AS 9238/12, 1 BvL 10/12 und S 55 AS 29349/11, 1 BvL 12/12) zur Vereinbarkeit der Bestimmung der Regelbedarfe nach § 20 SGB II mit dem Grundgesetz. Im Übrigen erfolgt die Bewilligung endgültig." 4. Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten des Rechtsstreites zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Arbeitslosengeld II für den Zeitraum vom 1. November 2011 bis 29. Februar 2012 im Hinblick auf den Umstand, dass sich die polnische Klägerin ausschließlich zur Arbeitssuche in der Bundesrepublik aufgehalten hat.

Die 1954 geborene Klägerin besitzt die polnische Staatsbürgerschaft und reiste im Jahr 2008 in die Bundesrepublik ein. Zum 1. April 2009 schloss sie einen Vertrag über die Anmietung einer Wohnung mit einem Wohnraum mit einer Miete monatlich von 276,40 EUR bruttowarm seit 1. Januar 2011, wovon 88,00 EUR auf Betriebs- und Heizkosten entfallen. Die Warmwasserbereitung erfolgte durch elektrische Durchlauferhitzer. Am 15. November 2011 wurde ihr die Bescheinigung nach § 5 FreizügG/EU erteilt. Sie beantragte am 28. November 2011 bei der Beklagten Arbeitslosengeld II.

Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 29. Dezember 2011 ab. Sie begründete dies damit, dass die gesetzlichen Voraussetzungen nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II nicht vorlägen, weil die Klägerin ihr Aufenthaltsrecht allein aus der Arbeitssuche ableite. Den Widerspruch der Klägerin vom 22. Januar 2012 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19. April 2012 zurück. Ein anderer Aufenthaltszweck als der der Arbeitssuche im Sinne von § 7 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB II sei nicht gegeben. Diese Regelung verstoße auch nicht gegen EU-Recht. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und der Entscheidungsgründe der Beklagten wird gemäß § 136 Abs 2 SGG auf den Widerspruchs-bescheid vom 19. April 2012 Bezug genommen.

Die Klägerin verfolgt ihr Begehren mit ihrer am 23. Mai 2012 erhobenen Klage weiter. Sie hat am 20. April 2012 erneut Leistungsantrag gestellt und den Arbeitsvertrag vom 5. März 2012 vorgelegt, aus dem sich der Beginn einer Beschäftigung ab 1. März 2012 mit einem Umfang von monatlich 40 Stunden ergibt. Mit den Bescheiden vom 30. Mai 2012 bewilligte die Beklagte der Klägerin ab 1. März 2012 Arbeitslosengeld II. Die Klägerin ist der Auffassung dass § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II nicht gemeinschaftsrechtskonform ist, weil die Grundsiche-rungsleistungen nach § 19 ff SGB II nicht als Leistungen der Sozialhilfe im Sinne des § 24 Abs 2 Unionsbürgerrichtlinie zu bewerten seien. Die Klägerin habe ihren Willen dokumentiert, eine Beschäftigung in der Bundesrepublik aufzunehmen und sie hat sich der Arbeitsvermittlung durch die Beklagte bzw die Bundesagentur für Arbeit zur Verfügung gestellt. Dies zeige sich auch an der Beschäftigungsaufnahme ab 1. März 2012. Überdies ergebe sich ein Anspruch auf Gleichbehandlung mit deutschen Staatsbürgern nach Art 4 EU-VO 883/2004 welche auch für die nichtbeitragsfinanzierten Leistungen nach Art 70 der Verordnung gelte. Die Leistungen nach dem SGB II seien ausweislich der Anlage 10 zur Verordnung vom Geltungsbereich dieser Vorschrift erfasst.

Die Klägerin beantragt,

1. den Bescheid der Beklagten vom 29. Dezember 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 2012 aufzuheben, 2. die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Arbeitslosengeld II für den Zeitraum vom 1. November bis 31. Dezember 2011 in Höhe von monatlich 648,40 EUR und für den Zeitraum vom 1. Januar und bis 29. Februar 2012 in Höhe von monatlich 659,00 EUR zu zahlen, 3. die Beklagte zu verpflichten, Arbeitslosengeld II für den Zeitraum vom 1. November 2011 bis 29. Februar 2012 mit folgender Bestimmung zu bewilligen: "Soweit durch die Bewilligungsentscheidung höhere als die bewilligten Leistungen versagt werden, ergeht die Entscheidung gemäß §§ 40 Abs 2 Nr 1 SGB II, 328 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB III vorläufig im Hinblick auf die Vorlagebeschlüsse des Sozialgerichts Berlin vom 25. April 2012 (S 55 AS 9238/12, 1 BvL 10/12 und S 55 AS 29349/11, 1 BvL 12/12) zur Vereinbarkeit der Bestimmung der Regelbedarfe nach § 20 SGB II mit dem Grundgesetz. Im Übrigen erfolgt die Bewilligung endgültig."

Die Beklagte sie hält ihre Entscheidung für zutreffend und beantragt,

die Klage abzuweisen.

Insbesondere sei den jüngsten Entscheidungen der Senate 20 und 29 des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg zur Vereinbarkeit von § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II mit Europarecht zu folgen.

Der Kammer haben außer den Prozessakten die Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Schriftsätze, das Protokoll und den Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin hat gemäß §§ 19 Abs 1 Sätze 1 und 3, 20 Abs 1, 2 und 5, 7 Abs 1 Satz 1 und 22 Abs 1 SGB II Anspruch auf Arbeitslosengeld II bereits ab 1. November 2011 und auf Aufhebung des leistungsablehnenden Bescheides vom 29. Dezember 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 2012. Die Bewilligung ist vorläufig auszusprechen, sofern die Verfassungswidrigkeit der Regelbedarfssätze gerügt ist. Der angefochtene Bescheid verletzt das einfach-gesetzlich vorgesehene Recht der Klägerin wie auch deren Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums.

1. Die Klage ist zulässig. Das Gericht ist zur Sachentscheidung berufen.

Die Klägerin hat ihre Klage gegen die Beklagte frist- und formgerecht erhoben. Das Widerspruchsverfahren ist jeweils durchgeführt und abgeschlossen worden. Die in zulässiger Weise eingelegte kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklagen, mit der die Klägerin die Aufhebung der Leistungsablehnung und Bewilligung von Arbeitslosengeld II unter Vorläufigkeitsbestimmung nach §§ 40 Abs 2 Nr 1 SGB II, 328 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB III verlangt, ist statthaft (§ 54 Abs 4 SGG).

Die Streitgegenstände wurden im Sinne von § 92 Abs 1 Satz 1 SGG hinreichend bestimmt. Die Leistungsklagen umfassen ausschließlich die Zeiträume vom 1. November 2011 bis 29. Februar 2012.

Die Klägerin ist klagebefugt im Sinne von § 54 Abs 1 Satz 2, Abs 2 SGG. Sie behauptet eine Verletzung ihres Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art 1 Abs 1 und 20 GG) als prozessrechtlich relevante Beschwer. Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis liegt vor. Es ist nicht zu erkennen, wie die Klägerin wirksamer ihre Ansprüche verfolgen können sollte.

2. Die Klägerin hat Anspruch auf Arbeitslosengeld II im Zeitraum vom 1. November 2011 bis 29. Februar 2012 gemäß §§ 19 Abs 1 Sätze 1 und 3, 20 Abs 1, 2 und 5 SGB, 7 Abs 1 Satz 1 und 22 Abs 1 SGB II. Die Voraussetzungen für den Anspruch sind sämtlich erfüllt. Die Klägerin ist erwerbsfähige Leistungsberechtigte im Sinne von § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II. Vorrangige Leistungsansprüche bestehen nicht. Weder die Regelungen des SGB XII, noch des AsylBewLG oder des WohnGG kommen in Betracht.

2.1. Die Klägerin ist vom persönlichen Geltungsbereich der Grundsicherungsleistungen des SGB II nach § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 1 und 2 SGB II erfasst. Sie hat im Sinne von § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 1 iVm § 7a SGB II während der hier streitigen Zeiträume vom 1. Januar 2011 bis 30. Juni 2012 das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht erreicht.

Die Klägerin war im Sinne von §§ 7 Abs 1 Satz 1 Nr 2, 8 Abs 1 und 2 SGB II erwerbsfähig. Von der Erwerbsfähigkeit der Klägerin im Sinne von § 8 Abs 1 SGB II hat sich die Kammer aufgrund der Angaben der Klägerin in der Verhandlung und des persönlichen Eindrucks überzeugt. Anhaltspunkte für eine gesundheitliches Einschränkung des Leistungsvermögens der Klägerin, welche die Grenzen des § 8 Abs 1 SGB II überschreiten würden, sind nicht ansatzweise zu erkennen. Anlass für entsprechende Ermittlungen bestanden daher nicht.

Die Klägerin ist als Unionsbürgerin mit polnischer Staatszugehörigkeit auch im Sinne des § 8 Abs 2 SGB II erwerbsfähig, weil mit ihrer Freizügigkeitsbefugnis auch die Berechtigung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit verbunden ist.

2.2. Die Klägerin ist hilfebedürftig im Sinne von §§ 7 Abs 1 Satz 1 Nr 3, 9 Abs 1, 2 SGB II. Sie verfügte in den hier streitigen Zeiträumen nicht über Einkommen oder Vermögen zur Deckung des bestehenden Bedarfs. Dieser beträgt für die Klägerin im Jahr 2011 monatlich 648,40 EUR und ab Januar 2012 monatlich 659,00 EUR. Dabei betragen die gesetzlich anerkannten Regelbedarfe im Jahr 2011 monatlich 364,00 EUR und im Jahr 2012 monatlich 374,00 EUR, die Kosten der Unterkunft 276,40 EUR, der Mehrbedarf für die Erzeugung von Warmwasser für 2011 in Höhe von 8,00 EUR monatlich und ab Januar 2012 von 8,60 EUR.

Die Unterkunftskosten der Klägerin sind angemessen im Sinne von § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II. Nach § 21 Abs 7 Satz 1 SGB II wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit Warmwasser durch in der Unterkunft installierte Vorrichtungen erzeugt wird (dezentrale Warmwassererzeugung) und deshalb keine Bedarfe für zentral bereitgestelltes Warmwasser nach § 22 SGB II anerkannt werden. Der Mehrbedarf beträgt nach Satz 2 der Regelung für jede im Haushalt lebende leistungsberechtigte Person jeweils 2,3 Prozent des für sie geltenden Regelbedarfs nach § 20 Absatz 2 Satz 1 SGB II. Daraus ergibt sich für 2012 für die Klägerin ein Warmwassermehrbedarf von jeweils 8,60 EUR. Für 2011 galt ein gerundeter Pauschalbetrag von 8,00 EUR (Brehm/Schifferdecker in SGb 2011, 505, 509 f). Die Pauschalen sind anzuwenden, weil Warmwasser durch in der Wohnung des Kläger installierte Vorrichtungen (elektrische Durchlauferhitzer) erzeugt wird und eine separate Verbrauchserfassung nicht erfolgt, denn als Energieträger wird der einheitlich gemessene Haushaltsstrom der Klägerin genutzt.

Zur Überzeugung der Kammer verfügte die Klägerin über keine Einkünfte oder Vermögen im hier relevanten Zeitraum von November 2011 bis Februar 2012. Einkünfte aus einer Erwerbstätigkeit oder aus Sozialleistungen standen unstreitig nicht zur Verfügung. Rücklagen aus ihrem früheren Leben in Polen waren aufgebraucht. Unterhaltsleistungen hat sie nicht bezogen. Der sie unterstützende deutsche Bekannte war spätestens nach Auszug der Klägerin in eine eigene Wohnung nurmehr zur darlehensweisen Unterstützung der Klägerin bereit. Die von der Klägerin insofern mitgeteilten Angaben hält die Kammer für glaubhaft. Sie hatte ihren Lebensschwerpunkt durch die räumliche Trennung von ihm separat gestaltet. Sie hat seit Antragstellung intensive Bemühungen unternommen, auch wirtschaftlich von ihm unabhängig zu werden und auch emotional glaubhaft der Kammer vermittelt, dass sie die Schulden diesem Freund gegenüber als sehr belastend empfindet. Zweifel daran, dass die Klägerin ihren Unterhalt nicht durch endgültige Zuwendungen dieses Freundes bestreiten kann, hat die Kammer daher nicht.

2.3. Auch der räumliche Geltungsbereich der Vorschriften erfasst wegen § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB II den Fall der Klägerin. Diese hat unstreitig ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des Gesetzes. Sie wohnt seit 2008 in der Bundesrepublik Deutschland, seit 2009 in einer eigenen Wohnung, welche für sie ihren Wohnsitz darstellt.

Es besteht auch kein Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II. Zwar ist die Klägerin zur Überzeugung der Kammer ausschließlich zur Arbeitssuche in die Bundesrepublik eingereist und seit Antragstellung bei der Beklagten hat die Klägerin ausschließlich wegen der Arbeitssuche ihr europarechtliches Aufenthaltsrecht abgeleitet. Sie ist nach den überzeugenden Ausführungen der Klägerin in der Verhandlung nicht nach Deutschland gekommen, um eine Partnerschaft mit dem deutschen Bekannten zu begründen. Mag es zwischenzeitlich – zumindest aus Sicht des deutschen Freundes der Klägerin – diese Perspektive gegeben haben, aus Sicht der Klägerin war dies jedenfalls nicht der Grund ihres Aufenthaltes. Wäre der Versuch der Begründung einer eheähnlichen Lebensbeziehung mit dem Freund wesentlicher Aufenthaltsgrund gewesen, wäre schon deswegen der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II entfallen. Dies hat die Klägerin selbst jedoch vehement und glaubhaft bestritten. Daran zu zweifeln hat die Kammer wegen der plausiblen und emotional glaubhaften Darstellung und auch, weil es Vortrag gegen einen einfacher zu erlangenden Anspruch ist, keinen Anlass.

Indes ist der Ausschlussgrund des § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II für die Klägerin, weil diese Unionsbürgerin ist, nicht zu prüfen. Insofern kommt den Vorschriften der Art 2, 3, 4, 70 EU-VO 883/2004 als jüngerem und höherrangigem, aber vor allem auch speziellerem Recht wegen § 30 Abs 2 SGB I Vorrang zu. Artikel 4 untersagt eine Ungleichbehandlung von Unionsbürgern gegenüber den eigenen Staatsangehörigen, denn die Vorschrift gebietet, dass Personen, für die die EU-VO 883/2004 gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates haben. Diese Vorschrift ist wegen Artikel 3 Abs 3, 70 Abs 3 EU-VO 883/2004 auch für die Leistungen, welche von Art 70 der Verordnung erfasst sind und zu denen die Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II gehören, zwingendes Recht. Insofern ist nicht zu prüfen, ob § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II europarechtswidrig sein könnte; vielmehr ist der normative Gehalt der europarechtlichen Vorgaben unmittelbar rechtswirksam zu machen (§ 30 Abs 2 SGB I und die st. Rspr des EuGH).

Der persönlicher Anwendungsbereich ist im Falle der Klägerin als polnische Staatsbürgerin und zugleich Unionsbürgerin erfüllt, denn § 2 Abs 1 EU-VO 883/2004 regelt zum persönlichen Geltungsbereich: "Diese Verordnung gilt für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten " Die Klägerin hat ihren Wohnsitz auch in einem weiteren Mitgliedsstaat, nämlich der Bundesrepublik Deutschland und für sie gelten die bundesdeutschen Rechtsvorschriften. Nach der Legaldefinition des Art 1 lit l) EU-VO 883/2004 sind "Rechtsvorschriften" für jeden Mitgliedsstaat die Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durchführungsvorschriften in Bezug auf die in Art 3 Abs 1 VO 883/2004 genannten Zweige der sozialen Sicherheit. Nach Art 3 Abs 1 EU-VO 883/2004 gilt die Verordnung für alle Rechtsvorschriften, die bestimmte Zweige der sozialen Sicherheit betreffen, so u. a. die unter Buchstabe h) beschriebenen "Leistungen bei Arbeitslosigkeit". Soweit man mit wortlautstrengster Auslegung annehmen wollte, dass wegen der Definition des Begriffs der Rechtsvorschriften in Art 1 Abs 1 lit l) EU-VO 883/2004 der persönliche Anwendungsbereich nur bei Anwendbarkeit der Regelungssysteme nach Art 3 Abs 1, nicht aber bei einem lediglich isolierten ("ersatzweisen") Bezug von Leistungen nach Art 3 Abs 3 iVm Art 70 der Verordnung in Betracht kommen sollte, also Art 3 Abs 3 und 70 EU-VO 883/2004 ausschließlich als bloß ergänzende bzw zusätzliche (nicht aber auch ersatzweise) Leistung zu nach jeweils aktuell bestehenden Ansprüchen der Leistungssysteme nach Art 3 Abs 1 EU-VO 883/2004 hinsichtlich des persönlichen Geltungsbereiches ansehen wollte, ändert dies nichts an der Eröffnung des persönlichen Anwendungsbereiches. Denn die Geltung der Rechtsvorschriften nach Art 2 EU-VO 883/2004 aus den Leistungsbereichen nach Art 3 Abs 1 EU-VO 883/2004 verlangt keinen inhaltlichen Bezug zwischen den Leistungen nach Art 70 EU-VO 883/2004 und einem System nach Art 3 Abs 1 EU-VO 883/2004. Insbesondere müssen nach dem Wortlaut und den normativen Zwecken für die Klärung des persönlichen Geltungsbereichs keine Unterhaltsersatzleistungen/Entgeltersatzleistungen bezogen werden. Es reicht aus, dass entsprechende Rechtsvorschriften gelten, unabhängig auch von deren Inanspruchnahme. Dies ist aber für jeden Arbeitssuchenden der Fall. Die Rechtsvorschriften für Leistungen bei Arbeitslosigkeit gelten für arbeitsuchende Unionsbürger stets, weil sie jedenfalls Arbeitsvermittlungsleistungen nach dem SGB III (§§ 35, 38 SGB III) in Anspruch nehmen können (SG Berlin, Beschluss vom 29.06.2012, S 96 AS 15360/12 ER). Dies gilt auch für die Klägerin. Die Kammer meint zudem, dass der Begriff der Rechtsvorschriften in Art 2 EU-VO 883/2004 schon deshalb, weil die Leistungen nach Art 70 auch als Ersatz für die in Art 3 Abs 1 EU-VO 883/2004 genannten Leistungen in Betracht kommen, auch die Rechtsvorschriften nach Art 70 EU-VO 883/2004 mit umfassen muss, wie dies die Auslegung des Begriffs der Rechtsvorschriften in Art 4 EU-VO 883/2004 zwingend ergibt (dazu unten). Das Recht der Grundsicherungsleistungen nach §§ 19, 20 SGB II stellt dann ebenfalls Rechtsvorschriften im Sinne von Art 2 EU-VO 883/2004 zur Verfügung (dazu sogleich).

Der sachliche Geltungsbereich wird nach Art 3 Abs 3 EU-VO 883/2004 erfüllt. Nach dieser Vorschrift gilt die EU-VO 883/2004 auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen gemäß Artikel 70 der Verordnung.

Ansprüche auf Arbeitslosengeld II nach §§ 19 Abs 1 Sätze 1 und 3, 20 Abs 1, 2 und 5, 7 Abs 1 Satz 1 und 22 Abs 1 SGB II werden von Art 70 EU-VO 883/2004 erfasst (SG Berlin, Urteile vom 24.05.2011, S 149 AS 17644/09, vom 27.03.2012, S 110 AS 28262/11; Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 14.07.2011, L 7 AS 107/11 B ER; Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27.04.2012, L 14 AS 7623/12 B ER, SG Dresden, Beschluss vom 05.08.2011, S 36 AS 3461/11 ER; SG Berlin, Beschlüsse vom 27.04.2012, S 55 AS 8242/12 ER, vom 08.05.2012, S 91 AS 8804/12, vom 20.06.2012, S 189 AS 15170/12 ER, vom 29.06.2012, S 96 AS 15360/12 ER; a A insbesondere Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 29.02.2012, L 20 AS 2347/11 B ER, vom 03.04.2012, L 5 AS 1257/11 B ER und vom 12.06.2012, L 29 AS 1044/12 B ER). Dies hatte das BSG für die wortgleiche Vorgängerregelung nach Art 4 Abs 2a EWGV 1408/71 bereits im Urteil vom 18.01.2011, B 4 AS 14/10 R anerkannt: "Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II sind – anders als Sozial-hilfeleistungen nach Art 4 Abs 4 EWGV Nr 1408/71 – als besondere beitragsunabhängige Geldleistungen, nicht jedoch als Leistungen bei Arbeitslosigkeit gemäß Art 4 Abs 1 Buchst g EWGV Nr 1408/71, von dem sachlichen Anwendungsbereich der für den hier streitgegen-ständlichen Zeitraum (15.2.2007 bis 27.11.2008) anwendbaren EWGV Nr 1408/71 umfasst (vgl Nachfolgeverordnung Nr 883/2004 vom 29.04.2004 (ABl 2004 [EU] Nr L 166, 1 ff), die nach deren Art 91 Satz 2 erst ab dem Inkrafttreten der Durchführungsverordnung am 01.05.2010 in Kraft getreten ist (Art 97 der VO 987/2009)." (RdNr 17) Dieser Recht-sprechung ist auch für die wortgleiche Nachfolgevorschrift der Art 3 Abs 3 und 70 EU-VO 883/2004 zu folgen.

Art 70 EU-VO 883/2004 gilt wegen seines Absatzes 1 für besondere beitragsunabhängige Geldleistungen, die nach Rechtsvorschriften gewährt werden, die aufgrund ihres persönlichen Geltungsbereichs, ihrer Ziele und/oder ihrer Anspruchsvoraussetzungen sowohl Merkmale der in Artikel 3 Absatz 1 genannten Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit als auch Merkmale der Sozialhilfe aufweisen. Diese Regelung entspricht in ihrem Wortlaut der Vorgängerregelung des Art 4 Abs 2a EWGV Nr 1408/71 idF der VO (EG) Nr 647/2005 vom 13.04.2005 (ABl EG Nr L 117/1) vom 04.05.2005. Dabei bezeichnet nach Absatz 2 der Vorschrift der Ausdruck "besondere beitragsunabhängige Geldleistungen" die Leistungen, a) die dazu bestimmt sind: i) einen zusätzlichen, ersatzweisen oder ergänzenden Schutz gegen die Risiken zu gewähren, die von den in Artikel 3 Absatz 1 genannten Zweigen der sozialen Sicherheit gedeckt sind, und den betreffenden Personen ein Mindesteinkommen zur Bestreitung des Lebensunterhalts garantieren, das in Beziehung zu dem wirtschaftlichen und sozialen Umfeld in dem betreffenden Mitgliedstaat steht, oder ii) allein dem besonderen Schutz des Behinderten zu dienen, der eng mit dem sozialen Umfeld dieser Person in dem betreffenden Mitgliedstaat verknüpft ist, und b) deren Finanzierung ausschließlich durch obligatorische Steuern zur Deckung der allgemeinen öffentlichen Ausgaben erfolgt und deren Gewährung und Berechnung nicht von Beiträgen hinsichtlich der Leistungsempfänger abhängen. Jedoch sind Leistungen, die zusätzlich zu einer beitragsabhängigen Leistung gewährt werden, nicht allein aus diesem Grund als beitragsabhängige Leistungen zu betrachten; und c) die in Anhang X aufgeführt sind.

Zunächst ist festzustellen, dass im Sinne von Buchstabe c) die Grundsicherungsleistungen des SGB II in der Anlage X der Verordnung aufgeführt sind.

Nach ständiger und zutreffender Rechtsprechung des BSG, handelt es sich im Sinne von Buchstabe b) der Regelung um ausschließlich steuerfinanzierte Leistungen (§ 46 Abs 1 Satz 1 SGB II). Wollte man im Hinblick auf den Eingliederungsbeitrag der Bundesagentur für Arbeit nach § 46 Abs 4 SGB II einen beitragsfinanzierten Anteil der Finanzierung annehmen, handelte es sich nicht um Leistungen nach Art 70 der Verordnung sondern um originäre Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach Titel III Kapitel VI der Verordnung. Indes ist der Zweck des Beitrages der Bundesagentur vorgegeben, indem er sich auf die Eingliederungsleistungen und Verwaltungskosten, nicht aber auf die Grundsicherungsleistungen bezieht.

Die Grundsicherungsleistungen nach §§ 19, 20 SGB II sind aber auch wegen Art 70 Abs 2 lit a) i) 70 EU-VO 883/2004 besondere beitragsunabhängige Geldleistungen, denn sie sind dazu bestimmt, einen zusätzlichen, ersatzweisen oder ergänzenden Schutz gegen die Risiken zu gewähren, die von den in Artikel 3 Absatz 1 genannten Zweigen der sozialen Sicherheit gedeckt sind, und den betreffenden Personen ein Mindesteinkommen zur Bestreitung des Lebensunterhalts garantieren, das in Beziehung zu dem wirtschaftlichen und sozialen Umfeld in dem betreffenden Mitgliedstaat steht. Schon die Wortwahl "zusätzlich, ersatzweise oder ergänzend" macht deutlich, dass der europäische Gesetzgeber ein weites Verständnis für die Ähnlichkeit des Schutzcharakters hat. Mag man noch annehmen, dass mit diesen Vorgaben weitgehend ein gleichartiger oder gar identischer Risikofall ("Versicherungsfall") gemeint sein soll, was hinsichtlich der Arbeitslosigkeit nach §§ 16, 118 Abs 1 SGB III aF (nunmehr §§ 16, 138 Abs 1 SGB III nF) unproblematisch ist, wenn der Betroffene – wie die Klägerin – beschäftigungslos ist, Eigenbemühungen unternimmt und den Vermittlungsbemühungen zur Verfügung steht, so können etwa versicherungsrechtliche Voraussetzungen des "Hauptanspruches" kaum verlangt werden, denn die Leistung soll ja auch als Ersatz oder zusätzlich und vor allem beitragsfrei in Betracht kommen. Es reicht eine zeitliche Ergänzung aus, das heißt, dass eine Aufeinanderfolge der Leistungen genügt und kein Parallelbezug vorliegen muss. Zudem können zusätzliche Leistungsvoraussetzungen, etwa Bedürftigkeit, normiert sein, denn die Leistung soll ja ausdrücklich das Mindesteinkommen sicherstellen, also durchaus eine Sozialhilfekomponente besitzen. Ein Wertungswiderspruch zwischen Art 3 Abs 3, 70 EU-VO 883/2004 und etwa der (niederrangigen) Regelungen der Richtlinie 2004/38/EG (dort insbesondere Art 24 Abs 2) kann schon deshalb nicht gesehen werden, weil Art 3 Abs 3, 70 EU-VO 883/2004 ausdrücklich auf Leistungen mit einem Mischcharakter abstellen, die also über den sozialhilferechtlichen Aspekt hinaus weitere Umstände insbesondere parallel zu den Leistungssystemen nach Art 3 Abs 1 EU-VO 883/2004 berücksichtigen, während Art 24 Abs 2 Richtlinie 2004/38/EG auf reine Sozialhilfeleistungen ausgerichtet ist. Diese unterschiedlichen Vorschriften treten mit ihrem normativen Bereich nebeneinander und können daher nicht in normativen Widerstreit zueinander treten.

Nach dem Urteil des BVerfG vom 9. Februar 2010 zur Verfassungswidrigkeit der Regelsätze der Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II kann kein Zweifel mehr daran bestehen, dass das Arbeitslosengeld II eine Leistung ist, die den betreffenden Personen ein Mindesteinkommen zur Bestreitung des Lebensunterhalts garantiert, das in Beziehung zu dem wirtschaftlichen und sozialen Umfeld in dem betreffenden Mitgliedstaat steht. Insofern weist die Leistung zweifelsohne sozialhilferechtliche Züge aus. Diese lassen sich an verschiedenen Regelungsaspekten ohne weiteres feststellen. Zu diesen gehören die Ausschlusstatbestände nach § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II, die stets daran anknüpfen, dass ein tatsächlicher Bezug zum Arbeitsmarkt nicht besteht. Sozialhilferechtliche Leistungsmerkmale sind indes über ihre existenzsichernde Funktion hinaus jedoch nicht geeignet, Aufschluss über die Einbeziehung der Leistung in den Wirkungsbereich des Art 70 EU-VO 883/2004 zu geben, weil dafür nach den Denkgesetzen wiederum nur die Regelungsaspekte eine Rolle spielen können, die auf einen zusätzlichen, ersatzweisen oder ergänzenden Schutz gegen die Risiken, die von den in Artikel 3 Absatz 1 genannten Zweigen der sozialen Sicherheit gedeckt sind, hindeuten können.

Dass die Grundsicherungsleistungen der §§ 19, 20 SGB II jedoch auch einen zusätzlichen, ersatzweisen oder ergänzenden Schutz gegen die Risiken, die von den in Artikel 3 Absatz 1 genannten Zweigen der sozialen Sicherheit gedeckt sind, insbesondere der Arbeitslosigkeit (Art 3 Abs 1 lit h EU-VO 883/2004), vermitteln, folgt bereits aus dem Namen der Leistung: Arbeitslosengeld II. Der Gesetzgeber ist Vorschlägen im Gesetzgebungsverfahren, bei der Bezeichnung der Leistung einen deutlicheren Abstand zur beitragsfinanzierten Leistung Arbeitslosengeld zu wählen, nicht gefolgt. Der bis Ende 2010 gewährte Zuschlag nach § 24 SGB II aF machte den ersatzweisen und ergänzenden Schutz im Anschluss an einen bisherigen Bezug von Arbeitslosengeld deutlich. Dass diese Regelung insbesondere wegen ihrer besonderen Kompliziertheit und des erheblichen Berechnungsaufwandes für die Verwaltung aufgehoben wurde, hat am Ergänzungs- und Ersatzcharakter der SGB II-Leistung nichts geändert. Dieser Charakter wird nach wie vor deutlich, wenn der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs 4a SGB II in den Blick genommen wird, der die Verfügbarkeit zur Arbeitsvermittlung sicherstellen soll. Hier erfolgt eine unmittelbare Anknüpfung an den persönlichen Geltungsbereich im Sinne von Art 2 iVm Art 3 Abs 1 EU-VO 883/2004, weil die Vorschrift auf die Erreichbarkeit für Vermittlungsangebote nach §§ 35, 38 SGB III abzielt. Dass die Leistung ausdrücklich Erwerbsfähigkeit zur Voraussetzung hat und damit Vermittelbarkeit auf dem Arbeitsmarkt als wesentlichen Anknüpfungspunkt hat, bestätigt den Ergänzungs- und Ersatzcharakter ebenso wie die Möglichkeit, die Leistung aufstockend zum Erwerbseinkommen zu beziehen und zwar selbst dann, wenn dieses Einkommen an sich ausreichen würde, den eigenen Grundsicherungsbedarf zu decken. Wegen § 9 Abs 2 Satz 3 SGB II wird trotz ausreichender Deckung des eigenen Bedarfs Bedürftigkeit fingiert, wenn nicht der gesamte Bedarf der Bedarfsgemeinschaft des Werktätigen durch die erzielten Einnahmen gedeckt ist. Damit wird der u U vollschichtig Erwerbstätige dem Regime der Förderung und Arbeitsvermittlung unterworfen wie ein Bezieher von Arbeitslosengeld bei bestehender Arbeitslosigkeit. All dies sind zentrale Regelungen der Leistung Arbeitslosengeld II, die ebenfalls deren Charakter prägen und verdeutlichen, dass die Leistung über den Charakter einer Sozialhilfeleistung hinaus aufgrund ihres persönlichen Geltungsbereichs, ihrer Ziele und/oder ihrer Anspruchsvoraussetzungen einen zusätzlichen, ersatzweisen oder ergänzenden Schutz insbesondere gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit vermittelt. Mit dieser strikten Prüfung aller Voraussetzungen von Art 70 Abs 2 EU-VO 883/2004 erfüllt die Kammer die Vorgabe der Erwägung 37 Satz 3 EU-VO 883/2004, wonach Titel III Kapitel 9 dieser Verordnung nur auf Leistungen angewendet werden kann, die sowohl besonders als auch beitragsunabhängig sind und in Anhang X dieser Verordnung aufgeführt sind. Auch diese Erwägung betont den zweieinigen Charakter der besonderen beitragsunabhängigen Leistungen.

Sofern einige Senate des LSG Berlin-Brandenburg (s o) zu einem abweichenden Ergebnis gelangen, haben diese die normativen Unterschiede zwischen Art 3 Abs 3, 70 EU-VO 883/2004 und Art 24 Abs 2 Richtlinie 2004/38/EG und insbesondere den Mischcharakter der von Art 3 Abs 3, 70 EU-VO 883/2004 erfassten Sozialleistungen nicht hinreichend gewürdigt. Obwohl im Rahmen der Prüfung von Art 2 und 3 EU-VO 883/2004 die Unterschiede zu den Leistungen nach Art 3 Abs 1 EU-VO 883/2004 herausgehoben werden, wurde nicht bedacht, dass Art 3 Abs 3, 70 EU-VO 883/2004 und Art 24 Abs 2 Richtlinie 2004/38/EG keinen sich überschneidenden Anwendungsbereich haben. Unzulässig wurden dann Wertungen für reine Sozialhilfesysteme auf die Mischleistungen nach Art 3 Abs 3, 70 EU-VO 883/2004 übertragen. Dabei haben die genannten Spruchkörper übersehen, dass die sozialhilferechtlichen Charakteristika für die Einbeziehung der Leistungen nach Art 3 Abs 3, 70 EU-VO 883/2004 lediglich insofern relevant sind, als es um die Sicherung des Mindesteinkommens geht. Sie spielen denknotwendig keinerlei Rolle, wenn es um die Klärung der Frage geht, inwieweit die Leistungen Voraussetzungen und Zwecke verfolgen, die aufgrund ihres persönlichen Geltungsbereichs, ihrer Ziele und/oder ihrer Anspruchsvoraussetzungen einen zusätzlichen, ersatzweisen oder ergänzenden Schutz insbesondere gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit gewähren. Die besondere Anbindung an den Vermittlungsanspruch und die Mitwirkungspflichten im Rahmen der Vermittlungsbemühungen durch die Bundesagentur für Arbeit wird jeweils nicht erörtert. Diese Aspekte sind indes bei der systematischen und teleologischen Auslegung zwingend zu berücksichtigen. Schließlich wird auch das historische Auslegungsmoment vernachlässigt, wenn die praktisch wortgleiche Vorläuferregelung und die dazu ergangene Rechtsprechung nicht gewürdigt werden. Wenn eine Regelung im Zuge einer Neukodifikation praktisch wortgleich übernommen wird, spricht das regelmäßig dafür, dass der normative Gehalt in der Ausgestaltung durch die Rechtsprechung nicht verändert werden sollte. Ahistorische und unter fehlerhafter systematischer Bezugnahme vorrangig teleologische Schwerpunktsetzung prägen somit eine aus Sicht der Kammer nicht schlüssige Auslegung durch die genannten LSG-Senate. Die Kammer kann diesen Argumentationslinien daher nicht folgen.

Sind alle Voraussetzungen des Art 70 Abs 2 EU-VO 883/2004 für das Arbeitslosengeld II erfüllt, gelten als Rechtsfolgen diejenigen nach Abs 3 und 4. Absatz 4 ordnet die Leistungsgewährung im Mitgliedsstaat des Wohnsitzes an und Absatz 3 schreibt indirekt die Geltung von Art 4 EU-VO 883/2004 vor, denn es erfolgt nur ein Ausschluss bestimmter Vorschriften der Verordnung, zu denen Art 4 gerade nicht gehört. Daraus ergibt sich folgerichtig, dass der Begriff der Rechtsvorschriften in Art 4 EU-VO 883/2004 dahingehend zu lesen ist, dass die Rechtsvorschriften auch diejenigen der Leistungssysteme nach Art 3 Abs 3 iVm 70 EU-VO 883/2004 meinen müssen. Erwägung 5 der EU-VO 883/2004 misst der Gleichbehandlung eine besondere Bedeutung zu. Erwägung 32 hebt hervor, dass zur Förderung der Mobilität der Arbeitnehmer vor allem ihre Arbeitssuche in den verschiedenen Mitgliedstaaten zu erleichtern ist. Diese Aspekte sind im Sinne des effet utile bei der Auslegung der einzelnen Vorschriften wirksam zu machen (so bereits SG Berlin, Beschlüsse vom 08.05.2012, S 91 AS 8804/12 ER, und vom 29.06.2012, S 96 AS 15360/12 ER). Damit wird das Recht der Bundesrepublik auf ein eigenes System der sozialen Sicherheit nicht berührt, denn die Besonderheiten der Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II werden für einen ausländischen Unionsbürger wie für einen deutschen Staatsangehörigen wirksam. Die Klägerin darf daher nicht anders als ein deutscher Staatsbürger behandelt werden.

2.4. Sie hat damit dem Grunde nach Anspruch auf Leistung, denn sie ist erwerbsfähige Leistungsberechtigte im Sinne der §§ 19 Abs 1, 7 Abs 1 Satz 1 SGB II. Die Höhe des Leistungsanspruchs der Klägerin folgt in den einzelnen Leistungsmonaten jeweils ihrem Bedarf, weil Einkommen oder Vermögen nicht anzurechnen ist.

2.5. Die Leistungsbewilligung hatte gemäß §§ 40 Abs 2 Nr 1 SGB II, 328 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB III mit einer Vorläufigkeitsbestimmung zu ergehen. Die Voraussetzungen dafür sind erfüllt, denn dem Bundesverfassungsgericht liegen zwei Beschlüsse der erkennenden Kammer zur Vereinbarkeit der gesetzlichen Bestimmung der Regelbedarfe mit dem Grundgesetz vor. Das Ermessen der Beklagten wird auf die Erteilung einer derartigen Bestimmung reduziert. Es gibt keinen Ermessensgesichtspunkt, der gegen eine entsprechende Vorläufigkeitsbestimmung sprechend würde.

Zunächst erlaubt die Bestimmung in der Höhe der bislang gesetzlich vorgesehenen Regelbedarfe eine abschließende Entscheidung und bringt insofern sämtlichen Beteiligten Rechtssicherheit bei Anfechtbarkeit, sofern bestimmte (nichtverfassungsrechtliche) Aspekte der Leistungsgewährung in diesem Rahmen der gerichtlichen Kontrolle unterworfen werden sollen. Darüber hinaus hat bei entsprechender Vorläufigkeitsbestimmung keine der Seiten für den Fall der Entscheidung des BVerfG über die Vorlagebeschlüsse rechtliche Nachteile zu besorgen, die ein Abweichen vom verfassungsmäßigen Zustand bewirken könnten. Sowohl Legalitätsprinzip wie auch effektive Anspruchsdurchsetzung ohne unnötigen Verwaltungs-aufwand werden umfassend gewahrt. Dem widerspricht gerade nicht, dass sich das BSG von einer Verfassungswidrigkeit der Bestimmung der Regelbedarfe bislang nicht zu überzeugen vermochte. Dieser Umstand ändert zum einen nichts daran, dass das BVerfG zur Entscheidung über die Vorlagen nach Art 100 Abs 1 GG berufen ist. Vielmehr erlaubt § 328 Abs 2 SGB III gerade für den Fall, dass das BVerfG der verfassungsrechtlichen Bewertung durch das BSG folgen sollte, eine äußert effiziente verwaltungspraktische Handhabung, weil nur auf Antrag der jeweiligen Leistungsberechtigten eine abschließende Entscheidung erforderlich wird. Werden dagegen die Verfahren durch die Gerichte oder die Jobcenter im Widerspruchsverfahren zum Ruhen gebracht, ist jeder einzelne Fall wiederaufzugreifen und zu entscheiden. Schließlich ist kein Umstand zu erkennen, der einen Schluss darauf zuließe, dass die Klägerin aus anderen Gründen keinen höheren Anspruch als den zuerkannten haben kann. Daraus, dass die Klägerin Ausländerin kann solches nicht folgen, weil das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum nach Art 1, 20 Abs 1 – Sozialstaatsgebot – GG kein nur Deutschen vorbehaltenes Recht ist (vgl auch BVerfG Urteil vom 18.07.2012 zum AsylBewLG). Daher sind keinerlei Ermessensgesichtspunkte zu erkennen, die eine andere Entscheidung als die der Vorbehaltsbestimmung rechtfertigen würden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Erfolg der Rechtsverfolgung durch die Klägerin.
Rechtskraft
Aus
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