L 5 AS 562/12 B ER

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 16 AS 1770/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 5 AS 562/12 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg vom 1. August 2012 wird abgeändert.

Der Antragsgegner wird verpflichtet, an die Antragstellerin vorläufig Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 20,88 EUR für Juni sowie in Höhe von je 300 EUR für die Monate Juli bis einschließlich September 2012 zu zahlen.

Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat die der Antragstellerin entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu 2/3 zu tragen.

Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsverpflichtung zur Durchführung des Beschwerdeverfahrens unter Beiordnung von Rechtsanwalt v. B. , B. , bewilligt.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin begehrt im Wege eines Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes die Verpflichtung des Antragsgegners, ihr vorläufig Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II) zu bewilligen.

Die am ... 1960 geborene Antragstellerin bezog zusammen mit ihrem am 2012 verstorbenen Ehemann vom Antragsgegner mit Unterbrechungen Leistungen nach dem SGB II, die ihr zuletzt mit Bescheid vom 27. Oktober 2011 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 27. November 2011 für die Zeitraum von Januar bis März 2012 in Höhe der Regelleistung von 337 EUR bewilligt wurden. Ihr Ehemann hatte zusammen mit der Antragstellerin sowie seinen und ihren Kindern einen Zirkus geleitet. In S. hatte dieser seit zwölf Jahren sein Winterquartier. Nach Versterben ihres Ehemannes führen seine Kinder den Zirkus weiter. Die Antragstellerin ist mit ihrem Sohn, der ein Hippodrom betreibt, seit 16. April 2012 im nördlichen Niedersachsen unterwegs.

Bereits am 28. März 2012 hatte sie beim Antragsgegner einen Antrag auf Fortzahlung der Leistungen gestellt. Am 3. Mai 2012 unterrichtete sie ihn davon, dass sie mit ihrem Sohn nunmehr unterwegs sei. Der Antragsgegner teilte ihr mit, die Leistungsgewährung sei unmittelbar mit ihrer Verfügbarkeit verknüpft. Gegenwärtig sei von einer konstanten Ortsabwesenheit auszugehen, sodass nach § 7 Abs. 4a SGB II eine Leistungsgewährung nur bis 15. April 2012 in Betracht komme. Der Betrag von 187 EUR wurde der Antragstellerin ausgezahlt. Mit Bescheid vom 4. Mai 2012 hob der Antragsgegner die Leistungsbewilligung wegen Ortsabwesenheit ab 16. April 2012 auf. Der Bescheid ist der Antragstellerin (bis heute) nicht zugegangen.

Am 31. Mai 2012 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Magdeburg einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt mit dem Begehren, den Antragsgegner zu verpflichten, ihr ab diesem Zeitpunkt vorläufig Leistungen zu gewähren. Sie habe vor, mit ihrem Sohn wieder in das bisherige Winterquartier nach S. zurückzukehren. Der Antragsgegner hat sich weiterhin, wie in dem Aufhebungsbescheid vom 4. Mai 2012, der ein Ablehnungsbescheid sei, auf § 7 Abs. 4a SGB II gestützt. Die Antragstellerin sei von der Leistungsgewährung ausgeschlossen, da sie sich nicht in seinem zeit- und ortsnahen Bereich aufhalte. Einladungsschreiben hätten ihr nicht zugestellt werden können.

Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 1. August 2012 den Antrag im Wesentlichen mit der Begründung zurückgewiesen, die örtliche Zuständigkeit des Antragsgegners sei bereits zweifelhaft. Das Winterquartier existiere nicht mehr, zudem habe die Antragstellerin eine Postanschrift in R. im Zuständigkeitsbereich des Jobcenters A. angegeben. Schließlich halte sie sich ohne Zustimmung des Antragsgegners außerhalb seines zeit- und ortsnahen Bereiches auf, sodass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 4a SGB II greife.

Am 7. August 2012 hat die Antragstellerin gegen den Beschluss Beschwerde eingelegt und am 4. September 2012 Prozesskostenhilfe zur Durchführung des Beschwerdeverfahrens beantragt. Sie habe ihren gewöhnlichen Aufenthalt in S ... In ihrer nunmehr eingereichten Eidesstattlichen Versicherung hat sie angegeben, es sei noch keine Entscheidung getroffen, in S. dauerhaft sesshaft zu werden bzw. dort wieder das Winterquartier zu nehmen. Sie sei von ihrem Sohn abhängig, der es aber auch noch nicht wisse. Voraussichtlich würden sie wieder nach S. zurückkehren. In R. sei sie nie gemeldet gewesen. Sie habe dort nur ihre Postanschrift. Sie verfüge über kein eigenes Einkommen und auch über keine Rücklagen. Über den von ihr gestellten Antrag auf Gewährung einer Witwenrente sei noch keine Entscheidung getroffen worden. Im Weiteren hat sie Geldzuflüsse auf ihrem Girokonto im März und Juni/Juli 2012 wie folgt erklärt: Bei den Zahlungen der A. Versicherungen (im März 2012 in Höhe von insgesamt 979,31 EUR und im Juni 2012 in Höhe von 279,12 EUR) handele es sich um Rückzahlungen aus abgemeldeten Fahrzeugen, die zum Zirkus gehörten. Die Zahlung in Höhe von 150 EUR im Juli 2012 von Herrn G. P. sei eine Spende für die Tiere ihres Sohnes.

Die Antragstellerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,

unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Magdeburg den Antragsgegner zu verpflichten, ihr vorläufig Leistungen nach dem SGB II ab 31. Mai 2012 zu gewähren, sowie ihr Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten zu bewilligen.

Der Antragsgegner hat Gelegenheit erhalten, zur Beschwerde Stellung zu nehmen, hiervon jedoch keinen Gebrauch gemacht.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf den Verwaltungsvorgang des Antragsgegners Bezug genommen.

II.

Die nach § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist statthaft nach § 173 Abs. 3 Nr. 1 SGG, denn der Beschwerdewert liegt über dem nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG notwendigen Wert von 750 EUR. Die Antragstellerin begehrt Leistungen in Höhe der Regelleistung ab 31. Mai 2012. Für einen Bewilligungsabschnitt sind dies mithin 2.244 EUR (374 EUR x sechs Monate).

Die Beschwerde ist begründet. Die Antragstellerin hat einen Anordnungsgrund und einen entsprechenden Anspruch auf die vorläufige Gewährung von Regelleistungen durch den Antragsgegner glaubhaft gemacht.

Das Gericht kann nach § 86b Abs. 2 SGG eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragsstellers erschwert oder wesentlich vereitelt wird. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung ist gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) stets die Glaubhaftmachung des Vorliegens sowohl eines Anordnungsgrunds (also die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile), als auch eines Anordnungsanspruchs (die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Hauptsache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs). Grundsätzlich soll wegen des vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung die endgültige Entscheidung der Hauptsache nicht vorweg genommen werden.

Der Beweismaßstab im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes erfordert im Gegensatz zu einem Hauptsacheverfahren für das Vorliegen der anspruchsbegründenden Tatsachen nicht die volle richterliche Überzeugung. Dies erklärt sich mit dem Wesen dieses Verfahrens, das wegen der Dringlichkeit der Entscheidung regelmäßig keine eingehenden, unter Umständen langwierigen Ermittlungen zulässt. Deshalb kann im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur eine vorläufige Regelung längstens für die Dauer des Klageverfahrens getroffen werden, die das Gericht in der Hauptsache nicht bindet.

Ein Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft gemacht, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen überwiegend wahrscheinlich sind. Dies erfordert, dass mehr für als gegen die Richtigkeit der Angaben spricht (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl., § 86, Rn. 16b).

Die Antragstellerin hat einen Anordnungsgrund zur Durchführung des Eilverfahrens glaubhaft gemacht. Sie verfügt nicht über ausreichende Mittel, um ihren Lebensunterhalt zu decken. Ein weiteres Abwarten ist ihr nicht zumutbar.

Sie erfüllt nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung wohl auch die Leistungsvoraussetzungen des § 7 SGB II.

Die Antragstellerin hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Zweifel bestehen, ob sie ihn im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners hat. Für die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts ist von der Legaldefinition des § 30 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil (SGB I) auszugehen. Den gewöhnlichen Aufenthalt hat danach jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Bei in der Saison berufsbedingt herumreisenden Schaustellern ist der gewöhnliche Aufenthalt an dem Ort anzunehmen, zu dem sie eine feste Beziehung unterhalten und an den sie auch regelmäßig aus Gründen wiederkehren, die nicht unmittelbar mit ihrer Tätigkeit als Schausteller zu zusammenhängen (vgl. Beschluss des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 9. Juli 2009, L 2 AS 194/09 B ER, Rn. 34, Juris). Nach diesen Kriterien war zumindest bis zum Tode ihres Ehemannes das Winterquartier in S. als gewöhnlicher Aufenthalt anzusehen. Zwar bestanden dort keine persönlichen Kontakte, jedoch nutzte der Zirkus diesen Stellplatz bereits seit zwölf Jahren. Nunmehr allerdings haben sich die Lebensverhältnisse der Antragstellerin verändert. In ihrer Eidesstattlichen Versicherung hat sie angegeben, sie wisse nicht, ob sie und ihr Sohn wieder nach S. zurückkehren werden. Unter diesen Umständen kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass S. weiterhin ihr gewöhnlicher Aufenthaltsort ist. Vielmehr kann ein solcher momentan nicht festgestellt werden. Solange die Antragstellerin keinen (neuen) gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat, ist örtlich zuständig nach § 36 Satz 4 SGB II der Träger, in dessen Bereich sie sich tatsächlich aufhält.

Im Rahmen der auf der Grundlage einer an der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung hindert die fehlende örtliche Zuständigkeit jedoch nicht die Verpflichtung des Antragsgegners, der Antragstellerin vorläufig Regelleistungen zu gewähren, zumal die örtliche Zuständigkeit keine Leistungsvoraussetzung im engeren Sinne ist (vgl. BSG, Urteil vom 23. Mai 2012, B 14 AS 133/11 R, Rn. 19). Es ist der Rechtsgedanke des § 16 SGB I heranzuziehen, wonach der einzelne mit seinem Begehren nach Sozialleistungen nicht an Zuständigkeitsabgrenzungen innerhalb der gegliederten Sozialverwaltung scheitern darf (BSG, Urteil vom 17. Juli 1990, 12 RK 10/89, Rn. 18, Juris). Zudem ist zu berücksichtigen, dass beim Antragsgegner noch ein Leistungsantrag der Antragstellerin anhängig ist. Eine Entscheidung liegt mangels Zugangs des Ablehnungsbescheides an die Antragstellerin noch nicht vor.

Dem steht hier nicht die Regelung des § 7 Abs. 4a SGB II entgegen. Diese schließt die Leistungspflicht eines an sich örtlich zuständigen Grundsicherungsträgers aus, wenn sich der Leistungsberechtigte nicht in dessen orts- und zeitnahem Bereich aufhält. Die Vorschrift hat die Funktion eines Leistungsausschlusses, wenn es an dieser Zustimmung mangelt; die Zustimmung des Grundsicherungsträgers zur Ortsabwesenheit ist nicht Voraussetzung für einen Leistungsanspruch nach dem SGB II (vgl. BSG, Urteil vom 16. Mai 2012, B 4 AS 166/11 R, Rn. 24, Juris).

Die Antragstellerin ist auch erwerbsfähig (§ 8 SGB II) und wohl auch hilfebedürftig (§ 9 SGB II). Sie hält sich zwar bei ihrem Sohn auf, der ein Hippodrom betreibt. Der Senat geht daher davon aus, dass sie in dessen Betrieb mithilft und zumindest eine geringe Unterstützung in Form von freien Mahlzeiten erhält. Deshalb erscheint es angemessen, die vom Antragsgegner zu gewährende monatliche Regelleistung auf 300 EUR festzusetzen.

Von diesem Betrag ist die Zahlung in Höhe von 279,12 EUR in Abzug zu bringen, die die Antragstellerin am 1. Juni 2012 von der A. Versicherung als Beitragsrückerstattungen für ein abgemeldetes Fahrzeug erhalten hat. Diese konnte sie zum Bestreiten ihres Lebensunterhaltes verwenden. Die am 6. Juli 2012 eingegangenen 150 EUR lässt der Senat außer Betracht, da es sich nach den glaubhaft gemachten Angaben der Antragstellerin um eine zweckbestimmte Zahlung für das Futter der Tiere handelt.

Die Übernahme von Kosten für Unterkunft und Heizung hat sie nicht geltend gemacht.

Der Zeitraum der Leistungsgewährung war von Juni bis September 2012 zu begrenzen.

In Anbetracht der Beitragsrückerstattungen der A. Versicherung im März 2012 in Höhe von insgesamt 979,31 EUR und einem Guthaben auf den Girokonto Ende Mai 2012 in Höhe von 525,75 EUR erscheint es gerechtfertigt, den Antrag auf vorläufige Leistungsgewährung für den 31. Mai 2012 abzulehnen. Die Antragstellerin war in Lage, insoweit ihren Lebensunterhalt zu decken.

Eine über den September 2012 vom Antragsgegner vorläufig zu gewährende Leistung kommt in Anbetracht dessen örtlicher Unzuständigkeit nicht in Betracht. Der Antragstellerin ist es zuzumuten, sich an den für ihren tatsächlichen Aufenthalt zuständigen Leistungsträger zu wenden und dort Leistungen zu beantragen.

Da aus den o.g. Gründen die Beschwerde erfolgreich war und die Antragstellerin bedürftig ist, war ihr zudem nach §§ 73a SGG, 114 ff. ZPO Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigen zu bewilligen.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved