S 173 AS 18394/11

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
173
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 173 AS 18394/11
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 12. Mai 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01. Juli 2011 (W /11) verurteilt, dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für die Zeit vom 21. April 2011 bis zum 08. August 2012 zu bewilligen. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit des Leistungsausschlusses des Klägers von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Der am 1985 geborene Kläger ist Staatsangehöriger der Republik Polen. Er ist im April 2007 zum ersten Mal in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Im Mai 2007 hat seine Mutter, die ebenfalls polnische Staatsangehörige ist, in B einen deutschen Staatsangehörigen geheiratet. Der Kläger ist mit seinem Bruder im November 2007 nach B gezogen und wohnt seitdem dauerhaft in der Wohnung seiner Mutter und seines Stiefvaters. Er war – zumindest bis Mai 2010 – bei der AOK Berlin krankenversichert im Wege der Familienversicherung. Bis Juli 2010 hat der Kläger an den Wochenenden in Polen an der NEKS – Schulen in K -Pommern studiert. Von Juni 2007 bis Mai 2010 bezog der Kläger über seine Mutter Kindergeld, ansonsten hat ihn sein Stiefvater, der vom 11. Mai 2010 bis 31. Dezember 2011 bei der Firma T G und seit dem 01. Januar 2012 bei der Firma L L erwerbstätig beschäftigt war bzw. ist, unterstützt, indem er ihm zum Teil Essen, Trinken, Kleidung und die Miete bezahlt hat.

Am 03. Juni 2010 stellte die Ausländerbehörde eine Bescheinigung gemäß § 5 FreizügG/EU aus, am 23. November 2010 erteilte die Agentur für Arbeit Berlin-Süd eine unbefristete Arbeitsgenehmigung-EU gemäß § 284 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III).

Den Leistungsantrag des Klägers vom 21. April 2011 wies der Beklagte mit Bescheid vom 12. Mai 2011 auf der Grundlage von § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II zurück, weil der Kläger lediglich ein alleiniges Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche habe.

Den dagegen gerichteten Widerspruch des Klägers vom 06. Juni 2011 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 01. Juli 2011 (W /11) als unbegründet zurück. Er führte insoweit aus, dass der Kläger nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen sei, weil sich sein Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche und insoweit aus § 2 Abs. 2 Nr. 1 2. Alt. Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) herleite. Denn der Kläger habe sich bisher weder 5 Jahre ständig rechtmäßig in der Bundesrepublik aufgehalten, noch könne er sich auf ein Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger gemäß § 3 FreizügG/EU stützen, weil er bei seiner Einreise in die Bundesrepublik bereits 22 Jahre als gewesen sei. Ferner habe der Kläger auch nicht durch eine Vorbeschäftigung in der Bundesrepublik den Arbeitnehmerstatus erlangt. Schließlich könne er sich nicht auf § 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) berufen, weil Polen das Fürsorgeabkommen nicht ratifiziert habe.

Mit der am 12. Juli 2011 erhobenen Klage verfolgt die Kläger sein auf Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende gerichtetes Begehren weiter. Er trägt insoweit vor, dass gegen die Anwendbarkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II europarechtliche Bedenken bestehen würden, so dass dieser europarechtskonform ausgelegt werden müsse. Darüber hinaus stünde ihm aufgrund der Unterhaltsgewährung durch seinen Stiefvater auch ein Aufenthaltsrechts als Familienangehöriger gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU zur Seite, so dass der Leistungsausschluss ohnehin nicht eingreife.

Der Kläger beantragt,

den Ablehnungsbescheid vom 12. Mai 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01. Juli 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm Leistungen nach dem SGB II ab Antragstellung in gesetzlicher Höhe zu bewilligen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er bezieht sich insoweit auf die Ausführungen in dem angegriffenen Widerspruchsbescheids.

Nach Klageerhebung hat die Kammer den Beklagten auf die Eilanträge des Klägers in den Verfahren S 173 AS 4/11 ER, S 173 AS 2/12 ER und S 173 AS 2/12 ER verpflichtet, dem Kläger für die Zeiträume vom 13. Juli 2011 bis 12. Januar 2012, 13. Januar 2012 bis 12. Juli 2012 und 16. Juli 2012 bis zum 15. September 2012, längstens jedoch bis zur Entscheidung in der Hauptsache vorläufig Leistungen in Höhe von 80 % des Regelbedarfs – wie beantragt – zu gewähren.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der zum Gegenstand der Beratung und Entscheidung der Kammer gemachten Prozessakte, der Beiakten S 173 AS 4/11 ER, S 173 AS 2/12 ER und S 173 AS 2/12 ER I und der Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

Die Beteiligten haben mit Schriftsatz vom 16. Mai 2012 (Kläger) und 18. Mai 2012 (Beklagter) und gegenüber dem Gericht ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Entscheidungsgründe:

Gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) konnte das Gericht im Einverständnis mit den Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist der Bescheid vom 12. Mai 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01. Juli 2010 (W /11). Die Prüfung des streitgegen-ständlichen Anspruchs ist auf den Zeitraum vom 21. April 2011 (Tag der Antragstellung, vgl. § 37 SGB II) bis zum Tag der hiesigen Entscheidung, dem 08. August 2012 beschränkt. Denn werden durch den streitgegenständlichen Bescheid Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II insgesamt abgelehnt, so ist über den geltend gemachten Anspruch bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz bzw. der schriftlichen Entscheidung zu entscheiden, sofern nicht in der Folge der Leistungsablehnung ein erneuter Leistungsantrag beschieden wurde (BSG, Urt. v. 31.10.2007 – B 14/11bAS 59/06 R, Rn. 13, juris), was vorliegend indes nicht der Fall ist. Die Kammer konnte – wie beantragt – über die Klage durch Grundurteil entscheiden. Gemäß § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG kann zur Leistung dem Grunde nach verurteilt werden, wenn eine Leistung in Geld begehrt wird, auf die ein Rechtsanspruch besteht, § 54 Abs. 4 SGG (vgl. etwa BSG, Urt. v. 21.12.2009 - B 14 AS 61/08 R, Rn. 5 und 9, juris).

Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid vom 12. Mai 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01. Juli 2010 (W 7/11) ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat für die Zeit vom 21. April 2011 bis zum 08. August 2012 einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II.

Der Kläger ist Leistungsberechtigter im Sinne von §§ 19 Abs. 1, 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II ist leistungsberechtigt, wer das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht hat, erwerbsfähig und hilfebedürftig ist sowie einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hat. Diese Voraussetzungen liegen vor. Dem im streitgegenständlichen Zeitraum zwischen 25 und 27 Jahre alten Kläger war zumindest aufgrund der ihm erteilten Arbeitsgenehmigung-EU die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt, so dass er im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 8 Abs. 1 und 2 SGB II erwerbsfähig war. Ferner war der Kläger auch hilfebedürftig, denn er erzielte im streitgegenständlichen Zeitraum kein Einkommen; Vermögen besaß der Kläger nicht. Zumindest seit der Beendigung seines – an Wochenenden durchgeführten – Studiums in Polen im Juli 2010 hat der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland und wohnt in B.

Der Kläger ist nicht vom Leistungsbezug ausgeschlossen, denn der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II greift ihm gegenüber nicht ein.

Indes liegen die Tatbestandsvoraussetzungen nach dem Wortlaut des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vor. Denn danach sind ausgenommen vom Bezug von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt. Der Kläger ist zum einen Ausländer und sein Aufenthaltsrecht ergibt sich zum anderen allein aus dem Zweck der Arbeitsuche. Er kann sich allein auf das Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 2.Alt. FreizügG/EU berufen, denn ein anderes Aufenthaltsrecht steht ihm nicht zur Seite.

Zum einen kann er sich noch nicht auf ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU berufen, denn im streitgegenständlichen Zeitraum befand er sich noch nicht fünf Jahre ständig rechtmäßig im Bundesgebiet (dies wird erst im November 2012 der Fall sein). Zum anderen hat der zum Zeitpunkt seiner Einreise im November 2007 bereits über 21-jährige Kläger kein Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 3 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU. Insoweit kann die Kammer offen lassen, ob er ein Familienangehöriger im Sinne des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU ist, weil er ein Verwandter seiner Mutter in absteigender Linie ist, die ihrerseits ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 2. Alt. FreizügG/EU hat und deren Ehegatte ihm Unterhalt gewährt. Daran könnten zur Überzeugung der Kammer (auch in Kenntnis der Rechtsprechung des EuGH zu den eher geringen Anforderungen an die Unterhaltsgewährung, vgl. EuGH, Urt. v. 18.06.1987 – Rs 316/85 "Lebon" und EuGH, Urt. v. 09.01.2007 – Rs C-1/05 "Jia"; vgl. auch Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl. 2010, § 3 FreizügG/EU Rn. 39ff. und Hailbronner, Ausländerrecht, § 3 FreizügG/EU Rn. 23ff.) angesichts der Höhe des gewährten Naturalunterhalts, der offensichtlich nicht zur Sicherung des Existenzminimums führt, Zweifel bestehen. Indes kann dies dahingestellt bleiben, denn der Kläger kann sich insoweit auch bei Annahme der Tatbestandsvoraussetzungen des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU auf kein anderes Aufenthaltsrecht als das der Arbeitssuche stützen. Denn ein solches könnte nur von seiner Mutter abgeleitet sein (der ihm Unterhalt gewährende Stiefvater ist Deutscher und kann sich daher – mangels grenzüberschreitenden Bezugs – nicht auf die Rechte des FreizügG/EU berufen, vgl. § 1 FreizügG/EU). Seiner Mutter steht indes ihrerseits lediglich ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 2.Alt. FreizügG/EU als Arbeitssuchende zur Seite (ihr Aufenthaltsrecht nach § 28 Aufenthaltsgesetz [AufenthG] als Ehefrau des Stiefvaters des Klägers kann dem Kläger kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht vermitteln). Da jedoch das Aufenthaltsrecht des Familienangehörigen nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 3 Abs. 1 und Abs. 2 FreizügG/EU ein akzessorisches und vom Bestand des Freizügigkeitrechts des stammberechtigten Unionsbürgers abgeleitetes Recht ist (vgl. Dienelt, a.a.O., § 3 FreizügG/EU Rn. 13 und Kloesel/Christ/Häußer, deutsches Aufenthalts- und Ausländerrecht, 64. Lfg. Juli 2009, § 3 FreizügG/EU Rn. 1), kann es auch nicht weiter reichen als dieses. Folglich könnte dem Kläger allein ein Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger einer Arbeitssuchenden – seiner Mutter – zur Seite stehen, was aber gleichfalls dem Wortlaut des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II (Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, und ihre Familienangehörigen) unterfallen würde.

Der Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist indes mit der unmittelbar geltenden und Anwendungsvorrang (vgl. erläuternd Schreiber in: ders./Wunder/Dern, VO [EG] Nr. 883/2004, 2012, Einl. Rn. 42 a.E.) genießenden Vorschrift des Art. 4 VO (EG) 883/2004 unvereinbar (vgl. zum Folgenden insbesondere die überzeugenden Ausführungen des SG Berlin, Beschl. v. 08.05.2012 – S 91 AS 8804/12 ER, denen die Kammer folgt; i.Ü. so auch: SG Berlin, Urt. v. 27.03.2012 – S 110 AS 28262/11, Rn. 49ff.; Beschl. v. 26.03.2012 – S 96 AS 6145/12 ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 27.04.2012 – L 14 AS 763/12 B ER, juris), so dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Art. 4 VO (EG) 883/2004 verdrängt wird und daher nicht anwendbar ist (vgl. zur Unanwendbarkeit des Leistungsausschlusses auf Personen, die sich auf das Gleichbehandlungsgebot des Art. 1 EFA berufen können BSG, Urt. v. 19.10.2010 – B 14 AS 23/10 R, Rn. 21ff., juris), weil nach Art. 4 VO (EG) 883/2004 Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaates wie die Staatsangehörigen dieses Staates haben.

Der persönliche Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 ist eröffnet (SG Berlin, Urt. v. 27.03.2012 – S 110 AS 28262/11, Rn. 50; LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 27.04.2012 – L 14 AS 763/12 B ER, Rn. 9f., juris). Nach Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 gilt diese u.a. für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten. Die noch in dem Art. 2 der Vorgängerregelung VO (EWG) Nr. 1408/71 vorgesehene Beschränkung des persönlichen Anwendungsbereichs nur auf Arbeitnehmer und Selbständige ist entfallen. Anknüpfungskriterium des persönlichen Anwendungsbereichs ist mithin vorrangig der Wohnort. Der Kläger hatte im streitgegenständlichen Zeitraum seinen Wohnort in B. Soweit darüber hinaus die Eröffnung des persönlichen Anwendungsbereichs aufgrund der in Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 88372004 statuierten Voraussetzung der Geltung von Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedsstaaten in vergleichbaren Fällen abgelehnt wird (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 22.06.2012 – L 29 AS 1252/12 B ER, Rn. 40ff., juris), so folgt dem die Kammer nicht. Denn zum einen ist die Kammer der Überzeugung, dass bereits eine abstrakte Unterworfenheit unter ein System der sozialen Sicherheit ohne konkrete Einbeziehung hinreichend ist (so Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union, 4. Aufl. 2010, Rn. 101, unter Hinweis auf EuGH, Urt. v. 15.12.1976 – C-39/76 "Mouthaan"; Leopold in Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching [Hrsg.], Beck’scher Online-Kommentar Sozialrecht, Stand 1. Juni 2012, Edition 26, Art. 2 VO (EG) 883/2004 Rn. 2), was auf den Kläger zutrifft. Zum anderen war der Kläger bis Mai 2010 bei der AOK Berlin krankenversichert über die Familienversicherung gemäß § 10 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V), so dass für ihn die Rechtsvorschriften betreffend der Leistungen bei Krankheit gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 lit. l i.V.m. Art. 3 Abs. 1 lit. a VO (EG 883/2004) eines Mitgliedsstaates galten. Schließlich handelt es sich zur Überzeugung der Kammer beim begehrten Arbeitslosengeld II ohnehin auch um eine Leistung bei Arbeitslosigkeit im Sinne von Art. 3 Abs. 1 lit. h VO (EG) 883/2004 (so auch SG Berlin, Beschl. v. 18.07.2012 – S 129 AS 16051/12 ER, n.v.). Denn das Arbeitslosengeld II besitzt einen Hybridcharakter: Es weist neben den Merkmalen der Sozialhilfe/sozialen Fürsorge ("social assistance"), die nach Art. 3 Abs. 5 lit. a Var. 2 VO (EG) 883/2004 vom sachlichen Geltungsbereich ausgeschlossen sind, auch Merkmale der – von Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 umfassten – Leistungen bei Arbeitslosigkeit (was sich bereits aus der Anspruchsvoraussetzung der "Erwerbsfähigkeit" ergibt; dazu auch EuGH, Urt. v. 04.06.2009 – C-22/08 und C-23/08 "Vatsouras" und "Koupatantze", Rn. 43ff., juris) auf.

Die vom Kläger geltend gemachten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II fallen zur Überzeugung der Kammer auch in den sachlichen Anwendungsbereich dieser Vorschrift (SG Berlin, Beschl. v. 08.05.2012 – S 91 AS 8804/12 ER, Rn. 10ff., SG Berlin, Urt. v. 27.03.2012 – S 110 AS 28262/11, Rn. 51ff.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 27.04.2012 – L 14 AS 763/12 B ER, Rn. 9, juris). Zum einen folgt dies bereits aus der Auffassung der Kammer, dass das Arbeitslosengeld II auch Merkmale der Leistungen bei Arbeitslosigkeit gemäß Art. 3 Abs. 1 lit. h VO (EG) 883/2004 erfasst. Zum anderen gilt dies aber auch, weil zur Überzeugung der Kammer die besonderen beitragsunabhängigen Leistungen vom sachlichen Anwendungsbereich des Art. 4 VO (EG) 883/2004 erfasst werden. Nach Art. 3 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 gilt die Verordnung auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen gemäß ihrem Art. 70. Nach Art. 70 Abs. 2 i.V.m. Anhang X VO (EG) 883/2004 sind Leistungen nach dem SGB II – sofern sie nicht zusammen mit einem befristeten Zuschlag nach § 24 Abs. 1 SGB II a.F. gezahlt werden – als beitragsunabhängige Geldleistungen in diesem Sinne zu qualifizieren (vgl. auch BSG, Urt. v. 18.01.2011 – B 4 AS 14/10 R, Rn. 20 ff.; zuletzt auch BSG, Urt. v. 16.05.2012 – B 4 AS 105/11 R, Rn. 20, juris), denn sie bieten einen ergänzenden Schutz gegen die Risiken der Arbeitslosigkeit im Sinne des Art. 3 Abs. 1 lit. h VO (EG) 883/2004, sind ausschließlich steuerfinanziert und in Anhang X der VO (EG) 883/2004 aufgeführt. Wenn Art. 4 VO (EG) 883/2004 Bezug auf die "Rechtsvorschriften" eines Mitgliedstaates nimmt, liegt diesem Begriff darüber hinaus ein anderes Verständnis als nach der Legaldefinition des Art. 1 lit. l VO (EG) 883/2004 zugrunde. Selbst wenn das SGB II mithin – entgegen der Auffassung der Kammer – nicht "Rechtsvorschriften" im Sinne der Begriffsbestimmung gemäß Art. 1 lit. l i.V.m. Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 enthalten sollte, sondern lediglich besondere beitragsunabhängige Leistungen gemäß Art. 3 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 gewährt, fände der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 4 VO (EG) 883/2004 auch im Bereich der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II Anwendung Hierfür sprechen bereits systematische Erwägungen (SG Berlin, Beschl. v. 08.05.2012 – S 91 AS 8804/12 ER, Rn. 13ff., juris). Art. 70 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 normiert die Nichtanwendbarkeit u.a. von Art. 7 der Verordnung für beitragsunabhängige Leistungen. Nach dieser Vorschrift dürfen Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten zu zahlen sind, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt , in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat. Wenn "Rechtsvorschriften" im Sinne von Art. 7 VO (EG) 883/2004 lediglich solche wären, die die Begriffsbestimmung von Art. 1 lit. l i.V.m. Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 erfüllen, hätte es der ausdrücklichen Anordnung der Nichtanwendbarkeit des Verbots von Wohnortklauseln für besondere beitragsunabhängige Leistungen im Sinne von Art. 3 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 nicht bedurft. Ebenso wäre der Exportausschluss nach Art. 70 Abs. 4 Satz 1 VO (EG) 883/2004 überflüssig, zumindest aber in sich widersprüchlich (SG Berlin, Beschl. v. 08.05.2012 – S 91 AS 8804/12 ER, Rn. 13, juris). Ferner ist davon auszugehen, dass der Verordnungsgeber Art. 4 VO (EG) 883/2004 neben Art. 7 in Art. 70 Abs. 3 der Verordnung aufgenommen hätte, wenn besondere beitragsunabhängige Geldleistungen – wie nach dem SGB II – vom Anwendungsbereich des Gleichbehandlungsgebots gemäß Art. 4 der Verordnung ausgenommen werden sollten, was indes nicht geschehen ist (SG Berlin, Beschl. v. 08.05.2012 – S 91 AS 8804/12 ER, Rn. 14, juris). Schließlich entspricht die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Art. 4 VO (EG) 883/2004 für die gemäß Art. 3 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 ausdrücklich in den Geltungsbereich der Verordnung einbezogenen besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen den Grundsätzen praktischer Wirksamkeit (effet utile). Nach Erwägungsgrund Nr. 5 der Verordnung ist erforderlich, bei der Koordinierung der nationalen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit innerhalb der Gemeinschaft sicherzustellen, dass die betroffenen Arbeitnehmer und Selbständige nach den verschiedenen nationalen Rechtsvorschriften gleichbehandelt werden. In Halbsatz 1 des Erwägungsgrunds Nr. 32 ist hervorgehoben, dass zur Förderung der Mobilität der Arbeitnehmer vor allem ihre Arbeitssuche in den verschiedenen Mitgliedstaaten zu erleichtern ist. Die Regelungen des SGB II enthalten mit dem Arbeitslosengeld II die Grundsicherung für Arbeitssuchende in Deutschland. Arbeitssuchende Bürger anderer Mitgliedsstaaten durch eine – bei engem Verständnis vom Wortlaut her nahegelegte – direkte Übertragung der Begriffsbestimmung gemäß Art. 1 lit. l) VO (EG) 883/2004 auf den Begriff der "Rechtsvorschriften" in Art. 4 der Verordnung von Alg II-Leistungen auszuschließen, würde die Arbeitssuche hierzulande für diese Gruppe erschweren und widerspräche damit dem Ziel der Förderung der Mobilität (SG Berlin, Beschl. v. 08.05.2012 – S 91 AS 8804/12 ER, Rn. 15, juris).

Soweit der Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II dem Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 dem Wortlaut nach entgegensteht, muss er – entsprechend den allgemeinen Grundsätzen des Anwendungsvorrangs – unberücksichtigt bleiben. Eine Rechtfertigung für eine ungleiche Behandlung des Klägers im Vergleich zu Arbeitsuchenden mit deutscher Staatsangehörigkeit ist der Verordnung nicht zu entnehmen.

Das sekundärrechtliche Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 ist darüber hinaus einer einschränkenden Auslegung nicht zugänglich und wird auch nicht von Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG als etwaig speziellerer Regelung verdrängt (a.A. LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 29. Februar 2012 - L 20 AS 2347/11 B ER, Beschl. v. 03.04.2012 – L 5 AS 2157/11 B ER und Beschl. v. 22.06.2012 – L 29 AS 1252/12 B ER, juris). Eine Übertragung des Regelungsgehalts von Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG, nach dem Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, anderen Personen als Arbeitnehmern und Selbständigen, also vor allem Arbeitssuchenden, einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren, scheidet auf Art. 4 VO (EG) 883/2004 unterfallende Sachverhalte aus (SG Berlin, Beschl. v. 08.05.2012 – S 91 AS 8804/12 ER, Rn. 18, juris; LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 27.04.2012 – L 14 AS 763/12 B ER, Rn.11, juris). Die VO (EG) 883/2004 und die Richtlinie RL 2004/38/EG sind zwar taggleich, nämlich am 29. April 2004 erlassen worden. Die Verordnung dient der Koordinierung von Sozialleistungen, die Richtlinie regelt die Freizügigkeit von Unionsbürgern. Beide Regelungswerke ergänzten sich in ihrem Entstehenszeitpunkt. Während die Verordnung eine unmittelbare Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Gleichbehandlung der Unionsbürger in Bezug auf deren Rechte betreffend diverser Sozialleistungen regelt, sieht die Richtlinie im Kontext aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen das allgemeine Recht aller Mitgliedstaaten vor, Leistungsvorbehalte für bestimmte Konstellationen im nationalen Leistungsrecht zu verankern. Die Verordnung knüpft an faktische Verhältnisse – den Wohnort – an, während die Richtlinie die Rechtmäßigkeitskriterien eines Aufenthalts bestimmt. Der Gleichbehandlungsgrundsatz der Verordnung besteht mit Blick auf die Leistungen nach dem SGB II mithin unabhängig von der Legalität des Aufenthalts, wobei – umgekehrt – ein andauernder Bezug solcher Leistungen als unangemessene Belastung gewertet werden und eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen könnte (SG Berlin, Beschl. v. 08.05.2012 – S 91 AS 8804/12 ER, Rn. 19, juris). Somit hat erst der Erlass der Durchführungsverordnung 987/2009 und damit die nachträgliche Aufnahme des SGB II in den Anhang X der VO (EG) 883/2004 zu der Kollision zwischen dem nationalen Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und dem – unbedingten und klar formulierten – Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 geführt. Diese Kollision löst den Anwendungsvorrang des Europarechts aus und hat die Nichtanwendbarkeit des – dem Wortlaut nach nicht verordnungskonform auslegbaren – Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II zur Folge (SG Berlin, Beschl. v. 08.05.2012 – S 91 AS 8804/12 ER, Rn. 20, juris). Zudem schränkt Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG den Gleichbehandlungsgrundsatz des Absatzes 1 (nur) dahingehend ein, dass ein Aufnahmemitgliedsstaat nicht verpflichtet ist, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen bzw. Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, während des längeren Zeitraums nach Art. 14 Abs. 4 lit. b RL 2004/38/EG einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren. Da die Sozialhilfe zur sozialen Fürsorge gehört, kann ein Widerspruch insoweit nicht festgestellt werden, auch wenn im April 2004 das deutsche Recht das SGB II noch nicht kannte; zur Überzeugung der Kammer erleichtern die Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II den Zugang zum Arbeitsmarkt und sind daher ohnehin nicht als Sozialhilfe im Sinne des § 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG zu verstehen (SG Berlin, Urt. v. 27.03.2012 – S 110 AS 28262/11, Rn. 73; LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 27.04.2012 – L 14 AS 763/12 B ER, Rn. 11, juris).

Nach alledem ist der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht anwendbar. Dies gilt zur Überzeugung der Kammer nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012 – 1 Bvl 10/10 und 1 BvL 2/11. Danach begründet Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) einen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums als Menschenrecht (vgl. dazu grundlegend BVerfG v. 09.02.2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09 und 1 BvL 4/09, juris); die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums steht mithin deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu. Insofern muss ein Leistungsanspruch eingeräumt werden, wobei dieser unmittelbare verfassungsrechtliche Leistungsanspruch das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit, als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst, zu gewährleisten hat (BVerfG, a.a.O., Rn. 88ff.). Können mithin sich in Deutschland aufhaltende Asylbewerber diesen Leistungsanspruch geltend machen, so kann zur Überzeugung der Kammer für Unionsbürger, die sich zur Ausübung ihrer Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Bundesrepublik Deutschland rechtmäßig aufhalten, nichts anderes gelten; ein vollständiger Leistungsausschluss diesen gegenüber – der aufgrund des Anwendungsvorrangs des Art. 4 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 nicht eingreift – wäre zur Überzeugung der Kammer mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 des GG nicht vereinbar.

Nach alledem war der Klage stattzugeben.

Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.

Die Berufung ist gemäß § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG zulässig, da wiederkehrende Leistungen für mehr als ein Jahr streitgegenständlich sind.
Rechtskraft
Aus
Saved