L 23 SO 319/12 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
23
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 95 SO 1806/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 23 SO 319/12 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 04. Dezember 2012 aufgehoben. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Außergerichtliche Kosten des Verfahrens beider Instanzen sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Das Sozialgericht hat zu Unrecht den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet.

Nach § 86 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Notwendigkeit der vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) und der geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 3 SGG i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung ZPO ).

Vorliegend ist schon der vom Sozialgericht angenommene Anordnungsanspruch fraglich.

Einem Anspruch auf die begehrte Leistung, nämlich die Übernahme rückständiger Aufwendungen für die Kosten einer Unterbringung in einem Pflegeheim für die Zeit ab Oktober 2010 bis zum 30. Juni 2012 (Übernahme der Kosten ab 01. Juli 2012 mit Bescheid vom 31. Juli 2012) steht bereits die Bestandskraft der Ablehnung des Leistungsantrages mit Bescheid vom 22. Februar 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. April 2011 entgegen. Mit diesem Bescheid hat der Antragsgegner den Antrag der Antragstellerin vom 10. Januar 2011, ihr Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach §§ 41 ff. Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – SGB X II – in Verbindung mit Leistungen zur Pflege nach §§ 61 ff. SGB XII zu gewähren, mit der Begründung abgelehnt, die Antragstellerin sei im Hinblick auf ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse nicht bedürftig gewesen.

Soweit die Antragstellerin nach einem Wechsel in der Betreuung am 21. Juli 2011 vorsorglich die Gewährung von Leistungen beantragt hat, mag der Antragsgegner mit dem Bescheid vom 09. März 2012 auch die Aufhebung der bestandskräftigen Entscheidung vom 22. Februar 2011 nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – SGB X – abgelehnt haben. Bis zur Aufhebung und Änderung der Entscheidung vom 22. Februar 2011 nach § 44 SGB X steht die Bestandskraft der Entscheidung trotz des nach Widerspruchsbescheid vom 09. August 2012 anhängigen Klageverfahrens einem Leistungsanspruch entgegen. Dies gilt jedenfalls für die geltend gemachten Kosten der Unterbringung ab Oktober 2010 bis zur erneuten Antragstellung im Juli 2011.

Soweit die Antragstellerin laufende Leistungen nach dem SGB XII für die Zeit ab Antragstellung im Juli 2011 bis einschließlich Juni 2012 begehrt, kann der Senat dahinstehen lassen, ob ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht ist, denn jedenfalls fehlt es an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes (vgl. hierzu unten).

Soweit die Antragstellerin meint, die rückständigen Kosten der Unterbringung in einem Pflegeheim in Höhe von 36.076,28 Euro seien von dem Antragsgegner als Schulden zu übernehmen, ist bereits ein Anordnungsanspruch nicht ausreichend dargelegt.

Eine Übernahme von Schulden kommt über Leistungen der Sozialhilfe und Leistungen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nur unter den Voraussetzungen des § 36 Abs. 1 SGB XII in Betracht.

Danach können Schulden nur übernommen werden, wenn dies zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt ist. Sie sollen übernommen werden, wenn dies gerechtfertigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht.

Dass die Übernahme der gegenüber dem Einrichtungsträger bestehenden Verbindlichkeiten zur Sicherung der Unterkunft oder einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt ist, ist nicht glaubhaft gemacht, so dass es schon aus diesem Grund nicht darauf ankommt, dass der Antragsgegner mit der Entscheidung vom 09. März 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09. August 2012 kein Ermessen nach § 36 Abs. 1 SGB XII ausgeübt hat.

Vorliegend ist schon fraglich, ob durch die bestehenden Verbindlichkeiten die Unterkunft der Antragstellerin in dem Pflegeheim gefährdet ist. Zwar kann eine solche Gefährdung der Unterkunft im Sinne der ersten Tatbestandsalternative des § 36 Abs. 1 SGB XII ("Schuldenübernahme zur Sicherung der derzeitigen Unterkunft") angenommen werden, wenn die Unterkunft gekündigt ist und die konkrete Gefahr besteht, dass mit der Kündigung auch der Verlust der Wohnung durch eine Räumung erfolgt. Allein mit dem Ausspruch einer Kündigung droht jedoch nicht in jedem Fall ein Verlust der Unterkunft. Die Kündigung kann unwirksam sein, sie kann durch Zahlung der ausstehenden Mieten unwirksam werden (§ 569 Abs. 3 Nr. 2 BGB). Vielmehr muss die Ernsthaftigkeit der Lösung des Vertragsverhältnisses nicht nur durch Androhung, sondern durch Ausspruch der Kündigung zum Ausdruck gebracht worden sein (a.A. Berlit in LPK SGB XII, 9. Auflage 2012, § 36, Rn. 7; vgl. Lang/Link in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage 2008, § 22, Rn. 100, die eine ernstzunehmende Kündigungslage für ausreichend halten). Eine Gefährdung der Unterkunft kann dann nicht bereits mit dem Ausspruch der Kündigung angenommen werden, wenn Zweifel an der Ernsthaftigkeit vorliegen. In diesem Fall käme allein dem Kündigungsausspruch im Hinblick auf einen möglichen Leistungsanspruch des Betroffenen entscheidende Bedeutung zu, was im Gesetz keine Stütze findet. § 36 Abs. 1 SGB XII macht das der Behörde eingeräumte Ermessen von einer tatsächlichen Gefährdungslage abhängig und nicht bereits davon, dass der Mietvertrag gekündigt ist oder die Möglichkeit zur Kündigung gegeben ist. Eine ernsthafte Gefährdungslage ist hier nicht zu erkennen. Zwar hat die Einrichtungsträgerin mit Schreiben vom 20. Juli 2012 den mit der Antragstellerin geschlossenen Wohn- und Dienstleistungsvertrag fristlos gekündigt. Dass die Einrichtungsträgerin das Wohn- und Dienstleistungsverhältnis tatsächlich beenden will, ist jedoch nicht erkennbar, was möglicherweise dem Umstand geschuldet ist, dass von dem Antragsgegner die laufenden Kosten übernommen werden. Die Einrichtungsträgerin hat zudem schon mit Schreiben vom 28. September 2012 gegenüber dem Betreuer der Antragstellerin darauf hingewiesen, dass nach ihrer Auffassung ein Auszug der Antragstellerin aus der Einrichtung mit schweren Nachteilen verbunden wäre. Offenbar nimmt sie deshalb davon Abstand, die mit einem weiteren Schreiben vom selben Tag für die Zeit ab 18. Oktober 2012 angekündigte Räumungsklage tatsächlich zu erheben. Die Einrichtungsträgerin hat es jedenfalls bisher unterlassen, weitere Rechte aus dem gekündigten Vertragsverhältnis geltend zu machen.

Selbst wenn trotz Absehens von einer Räumungsklage eine Gefährdung der derzeitigen Unterkunft anzunehmen wäre und auch die weitere Voraussetzung, dass die Schuldenübernahme gerechtfertigt wäre (was z.B. bei Einstandsbereitschaft der Familie der Antragstellerin zur Abwendung eines Umzuges nicht anzunehmen wäre), unterstellt würde, ist ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht, da die Übernahme der Schulden bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen in das Ermessen des Antragsgegners gestellt ist. Dass hier nur die Entscheidung dahin, die Schulden darlehensweise zu übernehmen, die einzig rechtmäßige wäre, ist nicht ersichtlich. Im Rahmen der Ausübung des Ermessens wäre zum einen einzustellen, aus welchen Gründen die mit ungefähr 36.000 Euro nicht unerheblichen Verbindlichkeiten entstanden sind. Weiter wäre auch zu berücksichtigen, ob der Antragstellerin ein Wohnumfeldwechsel zumutbar ist. Dass die Einrichtungsträgerin hier Bedenken mit Schreiben vom 28. September 2012 geäußert hat, führt - ohne medizinische und/oder pflegefachliche Feststellungen - nicht von vornherein zu der Annahme, dass der Antragstellerin ein Umzug in eine andere Pflegeeinrichtung schlechterdings unzumutbar wäre. Dabei verkennt der Senat nicht, dass die Antragstellerin das 70. Lebensjahr vollendet hat, eine Pflegestufe drei anerkannt ist und sie an schwerwiegenden Erkrankungen leidet. Daraus folgt jedoch nicht, dass von vornherein eine Unzumutbarkeit hinsichtlich eines Umzuges anzunehmen wäre. Zu berücksichtigen ist nämlich auch, dass auch andere Pflegebedürftige im hohen Alter und mit schwerwiegenden Behinderungen und Erkrankungen ihre gewohnte häusliche Umgebung verlassen müssen, um erstmals in einer Pflegeeinrichtung untergebracht zu werden.

Ein Anordnungsanspruch ist auch nicht im Sinne der zweiten Alternative des § 36 Abs. 1 SGB XII glaubhaft gemacht. Danach sollen Schulden übernommen werden, wenn dies gerechtfertigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht. Vorliegend ist - wie dargestellt - schon nicht glaubhaft gemacht, dass eine konkrete Gefahr besteht, dass die Antragstellerin ihre derzeitige Unterkunft verliert. Darüber hinaus ist für die Annahme einer drohenden Wohnungslosigkeit weiter Voraussetzung, dass eine andere Unterkunft auf dem Markt nicht erreichbar ist und deshalb für den Leistungsberechtigten nur eine Not- bzw. Obdachlosenunterkunft in Betracht käme (Streichsbier in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 4. Auflage 2012, § 36, Rn. 7; BSG v. 17.06.2010, B 14 AS 58/09 R, juris, Rn. 30). Diese Voraussetzungen liegen hier allein deshalb nicht vor, weil der Antragsgegner bereits im erstinstanzlichen Verfahren eine Möglichkeit der Unterbringung der Antragstellerin in einem anderen Pflegeheim dargelegt hat. So kann die Antragstellerin nach den von dem Antragsgegner diesbezüglich auf Anforderung des Senats mit Schriftsatz vom 17. Januar 2013 eingereichten Bestätigungen der betreffenden Pflegeeinrichtungen in zwei weiteren Pflegeheimen jeweils in Einbettzimmern untergebracht werden. Damit droht der Antragstellerin keine Wohnungslosigkeit und auch keine Zeit ohne Pflege bei Nichtübernahme der Verbindlichkeiten gegenüber der jetzigen Einrichtungsträgerin. Soweit geltend gemacht wird, dass es der Antragstellerin unzumutbar sei, ihre derzeitige gewohnte Umgebung zu verlassen, fehlt es hier - wie bereits dargelegt - an einer entsprechenden Glaubhaftmachung. Damit liegen auch die Voraussetzungen der Sonderregelung des § 36 Abs. 1 S. 2 SGB XII für eine Entscheidung über eine Schuldenübernahme im Wege eines eingeschränkten Ermessens nicht vor.

Letztlich kann der Senat dahinstehen lassen, ob für den begehrten Erlass einer einstweiligen Anordnung ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht ist. Denn die Antragstellerin hat einen Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht.

Nach § 86 b Abs. 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes dann zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint, wenn Nachteile drohen, die bei Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache nicht abgewendet werden können. Solche Nachteile sind hier nicht dargelegt. Wie bereits ausgeführt droht vorliegend in naher Zukunft nicht der Verlust der derzeitigen Unterkunft in der Pflegeeinrichtung. Zwar ist der Wohn- und Dienstleistungsvertrag gekündigt, jedoch werden die Pflegeleistungen weiter erbracht (und auch die Kosten der derzeitigen Pflege unter anderem von dem Antragsgegner übernommen). Da die Einrichtungsträgerin bisher eine Räumungsklage nicht anhängig gemacht und daher in nächster Zukunft auch nicht über einen Titel zur Räumung verfügt, drohen derzeit bei Abwarten einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren keine wesentlichen Nachteile (vgl. LSG Berlin-Brandenburg vom 22.07.2010, L 5 AS 1049/10 B ER, juris, Rn. 8).

Einer einstweiligen Regelung, die hier faktisch - selbst bei Verpflichtung zur darlehensweisen Übernahme der Mietschulden - zur endgültigen Durchsetzung des noch im Hauptsacheverfahren zu prüfenden Anspruches führen würde, bedarf es nicht.

Nach allem war die erstinstanzliche Entscheidung aufzuheben.

Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des §§ 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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