S 6 SO 24/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Freiburg (BWB)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
6
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 6 SO 24/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Ein Antrag auf Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII kann so ausgelegt werden, dass er alle in Betracht kommenden Leistungen - also auch Mehrbedarfe nach § 30 SGB XII - umfasst.

2. War der Leistungsberechtigte im Besitz eines Schwerbehindertenausweises mit dem Merkzeichen G und hatte lediglich die Behörde keine Kenntnis davon, so ist der Mehrbedarf nach § 30 Abs. 1 SGB XII im Rahmen des § 44 SGB X ohne Nachweis konkreter anderweitiger Bedarfsdeckung nachzugewähren.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger unter insoweitiger Rücknahme entgegenstehender Bescheide vom 01.01.2005 bis zum 30.09.2009 einen Mehrbedarfszuschlag gemäß § 30 Abs. 1 SGB XII in Höhe von 17 % des Regelsatzes zu gewähren. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers hat die Beklagte dem Grunde nach in voller Höhe zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) um die rückwirkende Gewährung eines Mehrbedarfszuschlags nach § 30 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe (SGB XII) für den Zeitraum 01.01.2005 bis 30.09.2009.

Der 1952 geborene Kläger steht unter rechtlicher Betreuung, ist dauerhaft voll erwerbsgemindert gemäß § 43 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) und steht im Bezug von Sozialhilfeleistungen zunächst nach dem Bundessozialhilfegesetz, dann nach dem Grundsicherungsgesetz und seit dem 01.01.2005 nach dem 4. Kapitel des SGB XII von der Beklagten. In keinem der Sozialhilfeanträge begehrte er einen Mehrbedarf wegen des Merkzeichens G, das ihm mit Bescheid des Versorgungsamts F. vom 03.09.2004 seit dem 06.05.2004 zuerkannt wurde. Zudem stellte das Versorgungsamt F. dem Kläger am 03.09.2004 einen entsprechenden Schwerbehindertenausweis gemäß § 69 Abs. 5 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) aus.

Am 26.10.2009 beantragte der Kläger vertreten durch seinen Betreuer – nachdem dieser "nun auch für die Vermögenssorge zuständig" sei – rückwirkend nach § 44 SGB X "den Mehrbedarf für das Merkzeichen G im Schwerbehindertenausweis" bei der Beklagten und fügte den Bescheid des Versorgungsamts F. vom 03.09.2004 sowie den entsprechenden Schwerbehindertenausweis in Kopie bei. Mit Bescheid vom 27.10.2009 lehnte die Beklagte den Antrag ab, weil eine rückwirkende Bedarfsdeckung wie beispielsweise Pflege von Kontakten zu Dritten, Aufmerksamkeiten bei gelegentlichen Hilfeleistungen durch Dritte, zusätzliches Fahrgeld etc. nicht möglich sei. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14.12.2009 zurück. Der Mehrbedarfszuschlag gelte einen spezifischen und jeweils aktuellen Bedarf ab. Es handele sich dabei nicht um eine pauschale Leistung wie die Regelsatzleistung, sondern um die Abdeckung eines speziellen Bedarfs aufgrund der Gehbehinderung. Dass es sich dabei um einen pauschalen Satz (17 % vom Regelsatz) handele, ändere an dieser Tatsache nichts. Eine rückwirkende Anerkennung dieses Mehrbedarfs sei daher zu Recht abgelehnt worden. Darüber hinaus hätten der Beklagten keine Anhaltspunkte vorgelegen, dass ein Mehrbedarf aufgrund des Merkzeichens G vorliegen könne. Dazu seien vielmehr – trotz der bereits bestehenden Betreuung für die Gesundheitsfürsorge – keine Angaben gemacht worden. Erst am 26.10.2009 sei die Feststellung des Merkzeichens G nachgewiesen worden, worauf ab dem 01.10.2009 auch der Mehrbedarf gewährt worden sei. Denn der Mehrbedarf sei nach dem Gesetzeswortlaut erst nach Nachweis der Voraussetzungen zu gewähren. Zudem würden Grundsicherungsleistungen nur auf Antrag gewährt werden. Ein Antrag auf einen Mehrbedarf sei jedoch vor dem 26.10.2009 nie erfolgt.

Am 30.12.2009 hat der Kläger zum Sozialgericht Freiburg Klage erhoben und vorgetragen, dass bei Erlass der Bewilligungsbescheide von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen worden sei, nämlich davon, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für den Mehrbedarfszuschlag nicht vorliegen würden. Dies sei über § 44 SGB X zu korrigieren, auch wenn die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsbescheide ihre Ursache nicht in unzutreffender Rechtsanwendung der Behörde gehabt habe. Ein Antrag speziell auf Bewilligung des Mehrbedarfszuschlags sei zudem nicht konstitutiv für den Anspruch auf diesen, denn dies ließe sich nicht mit § 20 SGB X vereinbaren. Obwohl es darauf nicht ankommen würde, müsse sich die Beklagte vorhalten lassen, dass sie den Kläger nicht in Kenntnis gesetzt habe, dass er einen Anspruch auf den Mehrbedarfszuschlag gehabt habe.

Der Kläger beantragt, die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger unter Rücknahme insoweit entgegenstehender Bescheide vom 01.01.2005 bis zum 30.09.2009 einen Mehrbedarfszuschlag gemäß § 30 Abs. 1 SGB XII in Höhe von 17 % des Regelsatzes zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie ist der Ansicht, dass ihre Entscheidung rechtmäßig sei und verweist zur Begründung auf ihre Ausführungen in Bescheid und Widerspruchsbescheid.

Wegen des übrigen Vorbringens der Beteiligten im Gerichts- und Verwaltungsverfahren wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten über den Kläger verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 27.10.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.12.2009 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Gewährung eines Mehrbedarfszuschlag gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII in Höhe von 17 % des Regelsatzes für den Zeitraum vom 01.01.2005 bis zum 30.09.2009 unter Rücknahme insoweit entgegenstehender Bescheide.

Nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII in der vom 01.01.2005 bis zum 06.12.2006 geltenden Fassung wird für Personen, die unter 65 Jahren und voll erwerbsgemindert nach dem SGB VI sind und einen Ausweis nach § 69 Abs. 5 SGB IX mit dem Merkzeichen G besitzen, ein Mehrbedarf von 17 % des maßgebenden Regelsatzes anerkannt, soweit nicht im Einzelfall ein abweichender Bedarf besteht. Nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII in der ab dem 07.12.2006 geltenden Fassung wird für Personen, die die Altersgrenze nach § 41 Abs. 2 SGB XII noch nicht erreicht haben und voll erwerbsgemindert nach dem SGB VI sind und durch einen Bescheid der nach § 69 Abs. 4 SGB IX zuständigen Behörde oder einen Ausweis nach § 69 Abs. 5 SGB IX die Feststellung des Merkzeichens G nachweisen, ein Mehrbedarf von 17 % der maßgebenden Regelbedarfsstufe anerkannt, soweit nicht im Einzelfall ein abweichender Bedarf besteht.

Diese Voraussetzungen erfüllte der Kläger im Zeitraum vom 01.01.2005 bis zum 30.09.2009, weil er voll erwerbsgemindert nach dem SGB VI und bereits seit dem 03.09.2004 im Besitz eines Ausweises nach § 69 Abs. 5 SGB IX mit dem Merkzeichen G war. Die für diesen Zeitraum erlassenen Bewilligungsbescheide beinhalten jedoch keine entsprechende Mehrbedarfsgewährung, weil der Beklagten bei Bescheiderlass unbekannt war, dass der Kläger einen Schwerbehindertenausweis mit Merkzeichen G besaß.

Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, gemäß § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Im Übrigen ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, gemäß § 44 Abs. 2 SGB X ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

Mit Vorlage des am 03.09.2004 ausgestellten Schwerbehindertenausweises mit Merkzeichen G am 26.09.2010 erwies sich der Sachverhalt als unrichtig, von dem bei Erlass der Bewilligungsbescheide für den Zeitraum vom 01.01.2005 bis zum 30.09.2009 ausgegangen worden war. Während dabei nämlich zugrunde gelegt worden war, dass eine Anspruchsberechtigung für den Mehrbedarf nicht bestehe, bestand sie tatsächlich doch. Genau dies ist über § 44 SGB X durch nachträgliche Erbringung der entsprechenden Sozialleistungen zu korrigieren.

Dass § 44 SGB X im Sozialhilferecht grundsätzlich anwendbar ist, hat das Bundessozialgericht – in Abkehr von der entgegengesetzten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts – bereits entschieden (so für Leistungen nach dem BSHG: BSG, Urt. v. 29.09.2009 – B 8 SO 16/08 R, SozR 4–1300 § 44 Nr. 20; für die Grundsicherung im Alter nach dem Grundsicherungsgesetz: BSG, Urt. v. 26.08.2008 – B 8 SO 26/07 R, SozR 4–1300 § 44 Nr. 15; für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII: Urt. v. 16.10.2007 – B 8/9 b SO 8/06 R, BSGE 99, 137 = SozR 4–1300 § 44 Nr. 11 = NZS 2008, 558 mit krit. Anm. Hochheim, NZS 2009, 24). Voraussetzung für eine nachträgliche Gewährung von Leistungen ist danach allerdings neben ununterbrochen fortbestehender Bedürftigkeit des Leistungsempfängers grundsätzlich der Nachweis anderweitiger Bedarfsdeckung. Dieses Nachweises bedarf es lediglich nicht bei pauschalierten Leistungen, die – wie der Regelsatz – typisierend von einer Bedarfsdeckung ausgehen und nicht nur die Höhe des nachzuweisenden Bedarfs typisierend pauschalieren, wenn sie nicht nur der Befriedigung eines aktuellen, sondern auch eines zukünftigen und vergangenen Bedarfs dienen (vgl. BSG, Urt. v. 29.09.2009 – B 8 SO 16/08 R, SozR 4–1300 § 44 Nr. 20).

Der Kläger war und ist ununterbrochen bedürftig. Der Mehrbedarf nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII ist ihm daher ohne Nachweis konkreter anderweitiger Bedarfsdeckung nachzugewähren, weil § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII eine pauschalierte Leistung regelt. Ebenso wie der Regelsatz pauschaliert ist, knüpft auch der Mehrbedarf nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII – in der Höhe pauschaliert auf 17 % des Regelsatzes – typisierend an eine Bedarfsdeckung an, nämlich an eine solche, die durch eine Gehbehinderung gegenüber Menschen ohne Gehbehinderung mehr entsteht (vgl. Simon, in: jurisPK-SGB XII, Stand: 17.12.2012, § 30, Rn. 48). Da ein erhöhter Bedarf hinsichtlich der grundsätzlich im Regelsatz enthaltenen Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens für die Gruppe der älteren oder voll erwerbsgeminderten Personen mit eingeschränktem Gehvermögen bereits mit dem Mehrbedarfszuschlag nach § 30 SGB XII pauschalierend und typisierend abgegolten wird, kommen folgerichtig auch keine Regelungen zur gesonderten Übernahme entsprechender Bedarfe wie z.B. für orthopädische Schuhe zur Anwendung (vgl. BSG, Urt. v. 29.09.2009 – B 8 SO 5/08 R, juris-Rn. 21).

Auch dass der Kläger in den ursprünglichen Sozialhilfeanträgen keinen gesonderten Antrag auf Gewährung des Mehrbedarfszuschlags gestellt hatte, steht einer nachträglichen Gewährung nicht entgegen. Denn nach dem Meistbegünstigungsprinzip ist davon auszugehen, dass ein Antrag auf Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII stets so ausgelegt werden kann, dass er alle in Betracht kommenden Leistungen – also auch Zuschläge nach § 30 SGB XII – umfasst (vgl. Simon, in: jurisPK-SGB XII, Stand: 17.12.2012, § 30, Rn. 47). Es kommt insoweit auch nicht darauf an, dass der Beklagten das Vorliegen der Voraussetzungen für den Mehrbedarfszuschlag nach § 30 SGB XII unbekannt war, weil der Kläger den zu dieser Zeit bereits in seinem Besitz befindlichen entsprechenden Schwerbehindertenausweis nicht vorgelegt hatte. Zwar wäre dies bei bestehender rechtlicher Betreuung eigentlich zu erwarten gewesen und freilich verletzte die Beklagte entgegen der Ansicht des Klägerbevollmächtigten auch keine Amtsermittlungspflicht nach § 20 SGB X, da eine Pflicht zur Ausforschung der Antragsteller über etwaige weitere Bedarfe "ins Blaue hinein" nicht besteht. Jedoch kommt es ohnehin nicht auf die Kenntnis des Sozialhilfeträgers bezüglich des Mehrbedarfs zum Zeitpunkt der erstmaligen Bewilligungsentscheidungen an. Denn maßgeblich im Rahmen der Überprüfung nach § 44 SGB X ist gerade, dass sich mit jetziger Kenntnis beurteilt der damals zugrunde gelegte Sachverhalt als unrichtig herausstellt, ohne dass dabei nach dem Grund der Unrichtigkeit – etwa falsche Tatsachen oder bloße Unkenntnis – zu differenzieren wäre.

Soweit eine rückwirkende Gewährung des Mehrbedarfszuschlags nach § 30 Abs. 1 SGB XII in der Rechtsprechung bislang abgelehnt worden ist, beruht dies auf der Anknüpfung der gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen an das Merkmal des Besitzes des Schwerbehindertenausweises in der bis zum 06.12.2006 geltenden Fassung von § 30 Abs. 1 SGB XII, was nicht rückwirkend erfüllt werden könne, auch wenn das Merkzeichen G rückwirkend zuerkannt werde (vgl. BSG, Urt. v. 10.11.2011 – B 8 SO 12/10 R, juris; LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 20.11.2008 – L 7 SO 3246/08, juris). Im vorliegenden Fall war der Kläger jedoch bereits seit dem 03.09.2004 im Besitz eines entsprechenden Schwerbehindertenausweises; die Beklagte hatte lediglich keine Kenntnis davon. Auch vor dem Hintergrund der zitierten Rechtsprechung ist der Mehrbedarfszuschlag daher nachzugewähren. Denn für die Zeit vom 01.01.2005 bis zum 06.12.2006 erfüllte der Kläger das Merkmal des Besitzes des Schwerbehindertenausweises mit Merkzeichen G entgegen der Zugrundelegung in den Bewilligungsbescheiden für diese Zeit tatsächlich doch. Für die Zeit vom 07.12.2006 bis zum 30.09.2009 hat der Kläger – nunmehr – entsprechend der seit dem 07.12.2006 geltenden Fassung von § 30 Abs. 1 SGB XII durch Vorlage des Schwerbehindertenausweises die Feststellung des Merkzeichens G nachgewiesen, so dass auch für diesen Zeitraum die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Folglich sind nach insoweitiger Rücknahme entgegenstehender Bescheide gemäß § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X mit Wirkung für die Vergangenheit die Leistungen im Zeitraum 01.01.2005 bis 30.09.2009 gemäß § 44 Abs. 4 SGB X nachzuerbringen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und folgt dem Ergebnis des Rechtsstreits in der Hauptsache.
Rechtskraft
Aus
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