S 55 AS 2349/11

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
55
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 55 AS 2349/11
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Bescheide der Beklagten vom 27. Oktober, 9. November 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Januar 2011 in der Form des Bescheides vom 15. August 2011 werden geändert, 2. Die Beklagte wird verurteilt, den Klägern weitere 600,00 EUR zu zahlen. 3. Die Beklagte hat den Klägern deren außergerichtliche Kosten des Rechtsstreites zu erstatten. 4. Die Berufung wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über höhere Leistungen im Hinblick auf die Anrechnung von Elterngeld von 150 EUR je Monat ab 1. Januar bis Mai 2011.

Die Kläger beziehen seit längerem Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II. Die Klägerin zu 1) erhielt Elterngeld aufgrund des Antrages vom 15. September 2009 nach der Geburt ihrer Tochter am 22. Juli 2009 (Bewilligungsbescheid vom 15. Oktober 2009). Sie hatte von der Möglichkeit nach § 6 Satz 2 BEEG Gebrauch gemacht, die Auszahlung auf die Hälfte des Betrages zu reduzieren und den Auszahlungszeitraum zu verdoppeln.

Die Beklagte gewährte den Klägern mit Bescheid vom 27. Oktober 2010 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für den Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Mai 2011 unter Anrechnung von 150 EUR Elterngeld abzüglich der Versicherungspauschale von 30 EUR. Das Elterngeld sei nach einer zum 1. Januar 2011 geplanten Rechtsänderung in vollem Umfange anzurechnen. Sollte die Rechtsänderung nicht eintreten, würde die zustehende Leistung ohne erneuten Antrag bewilligt werden.

Dagegen wandte sich die Klägerin mit ihrem Widerspruch vom 2. November 2010. Der angegriffene Bescheid sei bereits deshalb rechtswidrig, weil bei der Klägerin zu 1) das Elterngeld als Einkommen angerechnet werde. Dies sei angesichts der einschlägigen Regelungen rechtswidrig und gelte nicht nur unter Beachtung etwaiger Rechtsänderungen. Diese seien von der Ausgangsbehörde vollständig zu berücksichtigen. Die geplante Gesetzesänderung betreffe lediglich Elterngeld-Bewilligungen, nicht jedoch Anrechnungen beim Arbeitslosengeld II. Für das Elterngeld der Klägerin zu 1) seien auch im Jahr 2011 die bisherigen Regelungen anzuwenden, nach welcher eine Anrechnung ausgeschlossen sei, soweit ein Betrag in Höhe von 150 EUR monatlich nicht überschritten werde.

Die Beklagte erließ am 9. November 2010 einen Änderungsbescheid, wegen dessen Inhalt gemäß § 136 Abs. 2 SGG auf die Verwaltungsakte Bezug genommen wird. Sie wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 4. Januar 2011 unter Hinweis auf die Rechtsänderung des § 10 Abs. 5 BEEG ab 1. Januar 2011 zurück.

Die Klägerin verfolgt ihr Begehren mit ihrer Klage vom 21. Januar 2011 weiter. Nach Juli 2010 laufe lediglich die Auszahlung weiter. Eine Gestaltungsänderung sei der Klägerin nicht mehr möglich gewesen. Deshalb müsse unter Vertrauensschutzgesichtspunkten und bei Wahrung der Gleichbehandlung mit anderen Eltern, die das Elterngeld ungekürzt erhalten konnten, die Anrechnung des Elterngeldes auch bei der Klägerin unterbleiben. Soweit mit der Klage höhere Kosten der Unterkunft und Heizung ab Mai 2011 geltend gemacht worden waren, erledigte sich der Rechtsstreit durch den Änderungsbescheid vom 15. August 2011 und entsprechende Erklärungen der Beteiligten.

Die Kläger beantragen,

1. die Bescheide der Beklagten vom 27. Oktober, 9. November 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Januar 2011 in der Form des Bescheides vom 15. August 2011 zu ändern, 2. die Beklagte zu verurteilen, den Klägern weitere 600,00 EUR zu zahlen.

Die Beklagte hält ihre Entscheidungen für zutreffend und beantragt,

die Klagen abzuweisen.

Der Kammer haben außer den Prozessakten die Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Schriftsätze, das Protokoll und den Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Kläger haben gegenüber der Beklagten Anspruch auf höhere Leistungen nach §§ 19, 20 SGB II für den Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis 31. Mai 2011. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig, soweit höhere Leistungen versagt werden. Insoweit werden Rechte der Kläger verletzt. Den Klägern sind weitere 600,00 EUR zu zahlen.

Die Anrechnung des um den Freibetrag von 30 EUR reduzierten Elterngeldes erfolgte zu Unrecht. Dies ergibt die Auslegung von § 1 Abs 5 ALGIIVO. Die Vierte Verordnung zur Änderung der Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung v. 21.12.2010, BGBl I Nr 68, S.2321 fügte in § 1 einen Absatz 5 ein: "Nicht als Einkommen zu berücksichtigen ist Elterngeld in Höhe von 150 Euro je Lebensmonat eines Kindes, der vor dem 1. Januar 2011 begonnen hat, soweit es auf Grund einer vor dem 1. Januar 2011 widerrufenen Verlängerungsmöglichkeit (§ 6 Satz 2 des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes) nachgezahlt wird."

Die Vorschrift ist im Kontext mit der Änderung des § 10 Abs 5 BEEG zum 1. Januar 2011 und den Vorschriften über die Anrechnung von Einkommen nach §§ 11 ff SGB II zu sehen.

Gemäß § 11 Abs 1 Satz 1 SGB II sind im Rahmen der Gewährung von Leistungen nach dem SGB II als Einkommen Einnahmen in Geld oder Geldeswert abzüglich der nach § 11b SGB II abzusetzenden Beträge mit Ausnahme der in § 11a SGB II genannten Einnahmen zu berücksichtigen. Nach § 11 Abs 3a SGB II in der aufgrund des Gesetzes zur Einführung des Elterngeldes vom 5. Dezember 2006 - BGBl. I, S. 2748 - vom 1. Januar 2007 bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung wurde jedoch abweichend von den Absätzen 1 bis 3 lediglich der Teil des Elterngeldes, der die nach § 10 des Gesetzes zum Elterngeld und zur Elternzeit (Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz - BEEG) anrechnungsfreien Beträge übersteigt, in voller Höhe berücksichtigt. § 10 BEEG normierte in seiner vom 1. Januar 2007 bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung einen anrechnungsfreien Betrag in Höhe von 300,00 EUR. In dieser Höhe blieben Leistungen nach dem BEEG im Rahmen des SGB II anrechnungsfrei. Durch Artikel 14 des Haushaltsbegleitgesetzes 2011 (HBeglG 2011) vom 09.12.2010 (BGBl I S 1885) ist dem § 10 BEEG mit Wirkung vom 01.01.2011 folgender Absatz 5 angefügt worden: "Die Absätze 1 bis 4 gelten nicht bei Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch, dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch und § 6a des Bundeskindergeldgesetzes. Bei den in Satz 1 bezeichneten Leistungen bleibt das Elterngeld in Höhe des nach § 2 Absatz 1 berücksichtigten durchschnittlich erzielten Einkommens aus Erwerbstätigkeit vor der Geburt bis zu 300 Euro im Monat als Einkommen unberücksichtigt. In den Fällen des § 6 Satz 2 verringern sich die Beträge nach Satz 2 um die Hälfte."

Durch Artikel 15 HBeglG 2011 wurde entsprechend § 11 Abs 3a SGB II aufgehoben. In der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 17/3030, S 49) heißt es hierzu: "Nach § 10 Absatz 5 des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes (BEEG) in der ab dem 1. Januar 2011 geltenden Fassung werden das Elterngeld und vergleichbare Leistungen der Länder sowie die nach § 3 BEEG auf das Elterngeld angerechneten Leistungen bei der Berechnung der Leistungen nach dem SGB II (Arbeitslosengeld II), dem SGB XII (Sozialhilfe) und § 6a des Bundeskindergeldgesetzes (Kinderzuschlag) in vollem Umfang berücksichtigt. Die im SGB II enthaltene besondere Regelung zu den den anrechnungsfreien Anteil dieser Leistungen übersteigenden Beträgen verliert damit ab Inkrafttreten der Neuregelung im BEEG am 1. Januar 2011 ihre Bedeutung und ist deshalb aufzuheben."

Übergangsvorschriften sieht weder das BEEG noch das SGB II vor. Lediglich die Regelung des § 1 Abs 5 ALGIIVO sieht vor, dass Elterngeld, das nach dem 31. Dezember 2010 zufließt, nicht als Einkommen zu berücksichtigen ist, wenn die Verlängerungsmöglichkeit nach § 6 Satz 2 BEEG widerrufen wurde und die entsprechenden Beträge nachgezahlt werden.

Zur Auslegung dieser Vorschrift, ist zunächst zu beachten, dass das BEEG einen Widerruf der Verlängerungsmöglichkeit nach § 6 Satz 2 BEEG vom Wortlaut her nicht kennt. Lediglich Änderungen gegenüber der Antragstellung können verlangt werden (§ 7 BEEG). Diese wirken indes nur maximal drei Monate zurück und sind unzulässig, soweit Monatsbeträge bereits ausgezahlt sind. Dies führt dazu, dass nach Ablauf der Zahlung der ersten 12 Monate und weiterer zwei Monate eine Änderung der Auszahlungsmodalitäten nach einer Erklärung gemäß § 6 Satz 2 BEEG an sich nicht mehr verlangt werden kann. Die Auszahlung bleibt hinsichtlich Dauer und Höhe unverändert. Dies bedeutete im Falle der Klägerin zu 1), dass jedenfalls ab Oktober 2010 ein entsprechendes Änderungsverlangen keinerlei Wirksamkeit mehr haben konnte.

Dann jedoch würden von der Vorschrift des § 1 Abs 5 ALGIIVO nur diejenigen Eltern profitieren, für die der Auszahlungszeitraum für die ersten zwölf Monate zum Jahresende 2010 noch nicht abgeschlossen war und die noch vor dem 1. Januar 2011 eine Änderungserklärung abgegeben hatten. Dann kann eine ggf noch einige Monate erfolgende Elterngeldauszahlung der zweiten Staffel der 150 EUR monatlich anrechnungsfrei bleiben. Am Auszahlungsmodus für die Monate, die nicht mehr auf 300 EUR Zahlung hochgestuft werden können, ändert sich für die Betroffenen damit nichts, nur die Anrechnung auf die Grundsicherungsleistungen entfällt. Für diese Adressatengruppe soll ersichtlich unter Vertrauensschutzgesichtspunkten Anrechnungsfreiheit für Auszahlungsmonate ab Januar 2011 hergestellt werden, weil bei der ursprünglichen Ausübung des Wahlrechts nach § 6 Satz 2 BEEG von Anrechnungsfreiheit ausgegangen werden konnte.

Die Regelung kann sich auf die Verordnungsermächtigung nach § 13 Abs 1 Nr 1 SGB II stützen und erscheint als Übergangsregelung im Lichte der offensichtlich maßgebenden Vertrauensgesichtspunkte ermächtigungskonform.

Nicht angerechnet wurde das Elterngeld in einer zweiten Fallskonstellation, sofern die Auszahlung bis Dezember 2010 vollständig abgeschlossen wurde. Unter diesen Umständen leuchtet nicht ein, dass diejenigen Eltern nicht in den Genuss der Privilegierung nach § 1 Abs 5 ALGIIVO kommen sollen, deren Kind genau im Zwischenzeitraum zwischen den beiden genannten Fallgruppen geboren wurde und deren Auszahlungszeitraum sogar noch vor der anderen Gruppe (hier erste Fallgruppe) endete.

Daher muss "Widerruf" der Verlängerungsmöglichkeit als Erklärung verstanden werden, aus der deutlich wird, dass eine Gestaltung derart gewählt wird, dass an der Verlängerung nicht mehr festgehalten wird, selbst wenn der Auszahlungsmodus sich nicht mehr ändert und lediglich die Anrechnungsfreiheit einzige Rechtsfolge ist. Eine derartige Erklärung haben die Kläger mit dem Widerspruch vom 2. November 2010 und damit rechtzeitig vor dem 1. Januar 2011 abgegeben. Denn mit dem Widerspruch hat sich die Klägerin zu 1) sehr deutlich gegen die Anrechnung der Auszahlungsbeträge entgegen dem bisherigen Recht gewandt, sofern es die Auszahlung im Jahr 2011 betraf. Dass die Erklärung gegenüber der Beklagten und nicht gegenüber der Elterngeldstelle abgegeben wurde, ist wegen § 16 Abs 2 SGB I unschädlich. Die Antragsänderung nach § 7 BEEG, um die es hier beim Widerruf geht, ist als Antrag im Sinne von § 16 SGB I zu verstehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Erfolg der Rechtsverfolgung durch die Kläger.

Gründe zur Zulassung der Berufung liegen nicht vor. Die Kammer weicht nicht von höherinstanzlicher Rechtsprechung ab und, weil es um bereits auch rechtlich abgeschlossene Zeiträume geht, fehlt es an einer grundsätzlichen Bedeutung der Sache.
Rechtskraft
Aus
Saved