L 9 AS 183/13 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 27 AS 55/13 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 9 AS 183/13 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 18. Februar 2013 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller seine notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gründe:

Die am 13. März 2013 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Beschwerde des Antragsgegners mit dem sinngemäßen Antrag,

den Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 18. Februar 2013 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen,

ist unbegründet.

Der angefochtene Beschluss des Sozialgerichts erweist sich als rechtmäßig. Das Sozialgericht hat die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht bejaht.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis getroffen werden, wenn dies zur Abwehr wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies setzt voraus, dass das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) und die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) glaubhaft gemacht werden (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO -).

Der Antragsteller hat sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) erhalten Leistungen nach diesem Buch Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben (Nr. 1), erwerbsfähig sind (Nr. 2), hilfebedürftig sind (Nr. 3) und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (Nr. 4). Die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II liegen unzweifelhaft vor. Auch die Erwerbsfähigkeit des Antragstellers ist vorliegend zu bejahen. Nach § 8 Abs. 2 Satz 1 SGB II kann zwar ein Ausländer im Sinne des § 8 Abs. 1 SGB II nur erwerbstätig und damit auch erwerbsfähig im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II sein, wenn ihm die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte.

Die rechtliche Möglichkeit, eine Beschäftigung vorbehaltlich einer Zustimmung nach § 39 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) aufzunehmen, ist ausreichend. Es reicht demnach ein abstrakt-genereller Arbeitsmarktzugang aus (vgl. Beschlüsse des erkennenden Senats vom 4. Januar 2013 - L 9 AS 681/12 B ER, L 9 AS 707/12 B ER und L 9 AS 781/12 B ER -; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16. Mai 2012 - L 3 AS 1477/11 -).

Vorliegend hat der Antragsteller auch glaubhaft gemacht, hilfebedürftig im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II zu sein. Es ist nicht erkennbar, dass der Antragsteller derzeit außer den von dem Antragsgegner aufgrund der einstweiligen Anordnung des Sozialgerichts gezahlten Beträgen über finanzielle Mittel zur Deckung seines notwendigen Lebensunterhalts verfügt.

Der Antragsteller hat auch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II i. V. m. § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Diese Definition gilt für alle Sozialleistungsbereiche des Sozialgesetzbuchs, soweit sich nicht aus seinen besonderen Teilen etwas anderes ergibt (§ 37 SGB I). Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist in erster Linie nach den objektiv gegebenen tatsächlichen Verhältnissen im streitigen Zeitraum zu beurteilen (BSG, Urteil vom 29. Mai 1991 - 4 RA 38/90 - SozR 3-1200 § 30 Nr 5). Entscheidend ist, ob der örtliche Schwerpunkt der Lebensverhältnisse faktisch dauerhaft im Inland ist. Dauerhaft ist ein solcher Aufenthalt, wenn und solange er nicht auf Beendigung angelegt, also zukunftsoffen ist. Ausländer haben nach der Rechtsprechung des BSG nur dann ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland, wenn sie über einen Aufenthaltstitel verfügen, der den persönlichen Aufenthalt zulässt (vgl. BSG, Urteil vom 16. Mai 2007 - B 11b AS 37/06 R - BSGE 98, 243). Das BSG stellt demnach darauf ab, ob sich der Ausländer berechtigterweise hier aufhält. Davon ist vorliegend auszugehen. Dass sich der Antragsteller rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhält, ergibt sich bereits daraus, dass er über eine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU verfügt. Gegen eine Rechtmäßigkeit des Aufenthalts spricht auch nicht, dass dieser Bescheinigung nach dem Wortlaut der Vorschrift (" über das Aufenthaltsrecht ausgestellt") nur deklaratorischer Charakter im Hinblick auf das sich unmittelbar aus Gemeinschaftsrecht ergebende Freizügigkeitsrecht zukommt und es sich um keinen Aufenthaltstitel handelt (vgl. § 2 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU).

Denn es entspricht der gesetzlichen Konzeption des Freizügigkeitsrechts, von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts auszugehen, solange die Ausländerbehörde nicht von ihrer Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, den Verlust oder das Nichtbestehen des Aufenthaltsrechts nach § 5 Abs. 5 FreizügG/EU festzustellen. Die Ausreisepflicht nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU wird erst mit dieser Verlustfeststellung begründet (BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66). Dass die zuständige Ausländerbehörde eine derartige Feststellungsentscheidung getroffen hat, ist nicht ersichtlich. Es ist daher prognostisch von einem zukunftsoffenen Aufenthalt auszugehen, so dass der Antragsteller über einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland verfügt.

Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aufgrund der teilweise in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung, der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts bei Ausländern werde durch zusätzliche rechtliche Voraussetzungen eingeschränkt (vgl. BSG, Urteil vom 25. Juni 1987 - 11a REg 1/87 - BSGE 62, 67; Urteil vom 27. September 1990 - 4 REg 30/89 - BSGE 67, 243; Urteil vom 28. Juli 1992 - 5 RJ 24/91 - BSGE 71, 78; Urteil vom 27. Januar 1994 - 5 RJ 16/93 - SozR 3-2600 § 56 Nr. 7; Urteil vom 3. April 2001 - B 4 RA 90/00 R - SozR 3-1200 § 30 Nr. 21). Nach dieser sogen. "Einfärbungslehre" sollen die Begriffe Wohnsitz bzw. gewöhnlicher Aufenthalt ihre konkrete rechtliche Bedeutung jeweils erst aus dem Zusammenhang der Normen erhalten, die den Begriff verwenden (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22. Juni 2012 - L 19 AS 845/12 B ER - zu Ansprüchen nach dem SGB II). Dagegen ist zu Recht eingewandt worden, dass die Begriffsumschreibung in § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I grundsätzlich einheitlich auszulegen sei, wofür insbesondere die Gesetzesformulierung spreche. Davon abweichende, besondere Begriffsbestimmungen müssten sich konkret und deutlich aus den betreffenden spezialgesetzlichen Regelungen ergeben (vgl. BSG, Urteil vom 9. August 1995 - 13 RJ 59/93 - SozR 3-1200 § 30 Nr. 15; Urteil vom 4. November 1998 - B 13 RJ 9/98 R -; Schlegel in: jurisPK-SGB I, 2. Aufl. 2011, § 30 Rdnr. 51). In diesem Sinne hat auch das BSG (Urteil vom 30. Januar 2013 - B 4 AS 54/12 R -) zum Leistungsrecht nach dem SGB II entschieden, es laufe der Vereinheitlichung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts zuwider, wenn unter Berufung auf eine sog. "Einfärbungslehre" vor allem des früheren 4. Senats des BSG (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 3. April 2001 s. o.; ähnlich BSG, Urteil vom 27. Januar 1994 - 5 RJ 16/93 - SozR 3-2600 § 56 Nr. 7; anders für die Familienversicherung nach § 10 SGB V: BSG, Urteil vom 30. April 1997 - 12 RK 30/96 - BSGE 80, 209) dem Gesetzeswortlaut nicht zu entnehmende Tatbestandsmerkmale im Sinne rechtlicher Erfordernisse zum Aufenthaltsstatus aufgestellt würden und damit einzelnen Personengruppen der Zugang zu existenzsichernden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts versperrt werde.

Der Antragsteller ist auch nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift sind ausgenommen von Leistungen nach dem SGB II
1. Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,
2. Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen,
3. Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG).

Der Antragsteller ist als italienischer Staatsangehöriger Ausländer im Sinne dieser Vorschrift. Er hält sich seit 2009 (wieder) in der Bundesrepublik auf und ist nicht leistungsberechtigt nach § 1 AsylbLG, so dass die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 und 3 SGB II nicht vorliegen.

Der Antragsteller ist nach der summarischen Prüfung im Eilverfahren auch nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen. Es erscheint schon fraglich, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II überhaupt vorliegen. Dies setzt voraus, dass sich das Aufenthaltsrecht des Antragstellers allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Dass sich der Antragsteller zur Arbeitsuche in Deutschland aufhält, ist nach seinem Vortrag im Beschwerdeverfahren zumindest zweifelhaft. Danach nehme der Antragsteller an Veranstaltungen des Antragsgegners für ältere Arbeitslose teil und bewerbe sich persönlich auf Anzeigen von Zeitungen und Online-Jobbörsen und darüber hinaus aus eigener Initiative. Diesem allgemein gehaltenen Vortrag lassen sich konkrete Bemühungen zur Erlangung eines Arbeitsplatzes nicht entnehmen. Es spricht daher einiges dafür, dass die Ausschlussnorm des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vorliegend gar nicht eingreift.

Geht man davon aus, dass sich das Aufenthaltsrecht des Antragstellers allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, kommt es entscheidend auf die Frage der Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II an. Diese ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten und in der Rechtsprechung des BSG nach wie vor ungeklärt. Insoweit hat der Senat in ständiger Rechtsprechung aufgrund einer danach durchzuführenden Interessen- und Folgenabwägung den Interessen der Antragsteller an der Sicherstellung ihres Existenzminimums unter Beachtung des Gebots der Menschenwürde höheres Gewicht eingeräumt als den fiskalischen Interessen des SGB II-Leistungsträgers an der Vermeidung einer ggf. zu Unrecht erfolgten Leistungsgewährung (vgl. Beschlüsse des erkennenden Senats vom 4. Januar 2013 - L 9 AS 681/12 B ER, L 9 AS 707/12 B ER und L 9 AS 781/12 B ER - sowie bereits Beschlüsse vom 24. Januar 2012 - L 9 AS 629/11 B ER -, vom 9. August 2012 - L 9 AS 411/12 B ER -, vom 31. August 2012 - L 9 AS 481/12 B ER und L 9 AS 392/12 B ER - und vom 13. September 2012 - L 9 AS 470/12 B ER -).

Die Eilbedürftigkeit ist für den streitgegenständlichen Zeitraum zu bejahen, da nicht ersichtlich ist, dass dem Antragsteller anderweitige finanzielle Mittel zur Deckung seines hilferechtlichen Bedarfs zur Verfügung standen bzw. stehen. Nach der Rechtsprechung des Senats ist die Eilbedürftigkeit zwar lediglich für die Zeit ab Eingang des Eilantrages beim Sozialgericht bis zum Ablauf des Folgemonats der Beschwerdeentscheidung anzunehmen (vgl. Beschlüsse vom 28. Januar 2009 - L 9 SO 98/08 B ER - und vom 11. Oktober 2010 - L 9 AS 494/10 B ER -). Soweit das Sozialgericht abweichend davon Leistungen für einen längeren Zeitraum zugesprochen hat, kam eine Änderung der Entscheidung des Sozialgerichts im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung nicht mehr in Betracht.

Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved