L 2 SO 404/13

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 8 SO 1083/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 SO 404/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Auch nach der Änderung des § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII durch das Gesetz zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 02.12.2006 (BGBl I 2670) hat sich die Rechtslage ab 07.12.2006 nicht dahingehend geändert, dass nun auf die Feststellungswirkung des Nachteilsausgleichs G oder das Vorliegen seiner Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Mehrbedarfs abzustellen ist.

2. Die Rechtslage hat sich ab 07.12.2006 nur insoweit verändert, als nun nicht mehr nur ein Ausweis, sondern auch der - regelmäßig früher ergangene - Bescheid der zuständigen Behörde zum Nachweis der Feststellung des Merkzeichens G ausreicht.

3. Nach dem klaren Gesetzeswortlaut muss ein entsprechender Bescheid der nach § 69 Abs. 4 SGB IX zuständigen Stelle ergangen sein oder der Ausweis vorliegen, um den Mehrbedarf zu begründen.

4. Weiterhin nicht ausreichend ist es, wenn nur ein Antrag auf die Zuerkennung des Merkzeichens G gestellt worden ist, aber noch kein Bescheid oder Ausweis vorliegt. Eine rückwirkende Gewährung des Mehrbedarfs kommt in diesen Fällen nicht in Betracht.
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 11. Dezember 2012 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung eines Mehrbedarfs gem. § 30 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch -Sozialhilfe - (SGB XII) für den Zeitraum vom 01.11.2010 bis 30.11.2011 auf Grund rückwirkender Feststellung des Merkzeichens G durch das Versorgungsamt.

Der 1970 geborene Kläger ist schwerbehindert. Er bezieht Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer (rückwirkend ab dem 01.10.2006, zugesprochen mit Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg vom 13.08.2010 - L 4 R 5831/08). Seit dem 01.11.2010 bezieht er daraufhin vom Beklagten nicht mehr Hilfe zum Lebensunterhalt, sondern Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII. Sein Grad der Behinderung (GdB) betrug zunächst 80 ohne Zuerkennung von Merkzeichen (Bescheid des Versorgungsamts vom 19.05.2009, Bl. 96 VA). Einen Antrag auf Erhöhung des GdB sowie der Merkzeichen G und RF hatte er am 18.02.2009 beim Versorgungsamt gestellt. Bereits mit E-Mail vom 22.07.2010 sowie im Sozialhilfeantrag vom 01.10.2010 wies der Kläger den Beklagten darauf hin, dass er in absehbarer Zeit mit dem Merkzeichen G rechne (Bl. 54, 4 VA).

Im streitigen Zeitraum vom 01.11.2010 bis 30.11.2011 bewilligte der Beklagte laufende Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII wie folgt: Bewilligungsbescheid vom 20.10.2010 für den Zeitraum vom 01.11.2010 bis 31.01.2011, Änderungsbescheid vom 24.11.2010, Bewilligungsbescheid vom 13.01.2011 für die Zeit vom 01.02.2011 bis 31.07.2011, Änderungsbescheide vom 14.03.2011, vom 04.04.2011 und vom 31.05.2011 sowie Bewilligungsbescheid vom 15.06.2011 für die Zeit vom 01.08.2011 "für 12 Monate" (Bl. 131, 159, 216, 257, 268, 340, 348 VA). Neben dem jeweils geltenden Regelbedarf und den Kosten der Unterkunft wurde ein Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung (in Höhe von 66,47 EUR) gewährt, nicht jedoch ein Mehrbedarf infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (§ 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII) berücksichtigt. Hierzu wurde auch keine Aussage gemacht.

Nachdem im Rahmen eines Rechtsstreits vor dem Sozialgericht Konstanz (Az. S 1 SB 2584/09) das Land Baden-Württemberg unter dem 07.12.2011 anerkannt hatte, dass der GdB beim Kläger 100 betrage und die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen G und RF ab dem 18.02.2009 erfüllt seien, beantragte der Kläger beim Beklagten einen weiteren Mehrbedarf für das Merkzeichen G zunächst ab dem Monat Dezember 2011 zu gewähren (Schreiben vom 12.11.2011, Bl. 405 VA). Mit Schreiben vom 15.12.2011 begehrte er die Prüfung, ob auch für den Zeitraum vor Dezember 2011 etwas nachgezahlt werden könne. Mit (Ausführungs-)Bescheid vom 02.01.2012 stellte das Versorgungsamt beim Kläger einen GdB von 100 und die Voraussetzungen für das Vorliegen der Nachteilsausgleiche G und RF ab dem 18.02.2009 fest. Der entsprechende Schwerbehindertenausweis wurde am 02.01.2012 ausgestellt.

Der Beklagte gewährte dem Kläger daraufhin höhere Grundsicherungsleistungen unter Berücksichtigung des weiteren pauschalierten Mehrbedarfs gem. § 42 i.V.m. § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII in Höhe von 61,88 EUR ab Dezember 2011 (Änderungsbescheid vom 23.12.2011). Rückwirkend höhere Leistungen wegen der Zuerkennung des Merkzeichens G lehnte er mit weiterem Bescheid vom 31.01.2012 ab und verwies zur Begründung auf das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg vom 20.11.2008 - Az. L 7 SO 3246/08 (vgl. Bl. 415, 422 VA). Dagegen legte der Kläger unter Hinweis auf das Urteil des LSG Hessen vom 20.05.2011 - Az. L 7 SO 92/10 - Widerspruch ein, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 05.04.2012 mit der Begründung zurückwies, dass ein Mehrbedarf frühestens ab dem Besitz eines entsprechenden Schwerbehindertenausweises gewährt werden könne und nicht bereits ab dem Vorliegen der Voraussetzungen hierfür.

Dagegen hat der Kläger am 23.04.2012 Klage zum Sozialgericht Konstanz (SG) erhoben und vorgetragen, dass er für die Verzögerung bei der Feststellung des Merkzeichens G nichts könne und seinerseits alles zur Mitwirkung Erforderliche getan habe. Sein Mehrbedarf könne nicht davon abhängig gemacht werden, wann dieser verbeschieden werde. Die Umstände, die letztlich zu einer rückwirkenden Anerkennung des GdB 100 und des Merkzeichens G geführt haben, hätten bereits zu einem weit früheren Zeitpunkt vorgelegen. Zu diesem Zeitpunkt hätte tatsächlich auch ein Mehrbedarf bestanden.

Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat die Auffassung vertreten, dass die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft und der erheblichen Gehbehinderung durch die zuständige Behörde Tatbestandswirkung habe, auf das Vorliegen der Voraussetzungen werde nicht abgestellt. Eine anderweitige Auslegung mit der Möglichkeit der rückwirkenden Gewährung des Mehrbedarfs widerspreche dem Willen des Gesetzgebers (Hinweis auf BT-Drucksache 16/2711).

Mit Urteil vom 11.12.2012 hat das SG den Bescheid vom 31.01.2012 in der Form des Widerspruchsbescheids vom 05.04.2012 aufgehoben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger unter Abänderung der entgegenstehenden Bescheide (vom 20.10.2010, 24.11.2010, 13.01.2011, 14.03.2011, 04.04.2011 31.05.2011 und 15.06.2011) für die Zeit vom 01.11.2010 bis 30.11.2011 einen monatlichen Mehrbedarf nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII zu zahlen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beklagte gem. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X, der auf die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung grundsätzlich anwendbar sei, verpflichtet gewesen sei, die in der Vergangenheit rechtswidrig erlassenen Bescheide teilweise aufzuheben und einen Mehrbedarf für gehbehinderte Menschen bei fortbestehender Bedürftigkeit zusätzlich zu zahlen. Insoweit seien die Bewilligungs- bzw. Änderungsbescheide über die Grundsicherungsleistungen im Zeitraum vom 01.11.2010 bis 30.11.2011 rechtswidrig gewesen. Die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII lägen bei dem voll erwerbsgeminderten Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum vor. Mit der Zuerkennung des Merkzeichens G ab dem 18.02.2009 könne er die Feststellung des Merkzeichens G "nachweisen". Dass die Zuerkennung rückwirkend erfolgt sei, stehe einem "Nachweis" nicht entgegen. Anders als nach dem früheren Gesetzeswortlaut des § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII sei nach der seit 07.12.2006 gültigen Fassung, die hier Anwendung finde, der "Besitz" der entsprechenden Dokumente ausdrücklich nicht mehr Anspruchsvoraussetzung. Diese Änderung solle nach dem Willen des Gesetzgebers den Zugang zum Mehrbedarf beschleunigen und erleichtern. Er sei nicht mehr vom tatsächlichen Ausweisbesitz abhängig, sondern könne schon mit dem regelmäßig mehrere Wochen vorher ergangenen Feststellungsbescheid in Anspruch genommen werden (BT-Drs. 16/2711, S. 11). Die Materialien bezögen sich dabei ausdrücklich auf Rechtsprechung zur Vorgängerregelung des § 23 Abs. 1 Satz 1 BSHG, wonach der Mehrbedarf nicht rückwirkend für die Zeit vor Ausweisbesitz gewährt werden konnte. Die erforderlichen Dokumente (Bescheid oder Ausweis) hätten durch die Gesetzesänderung nur noch Nachweisfunktion. Ein Nachweis könne jedoch auch nachträglich erbracht werden. Die rückwirkende Zuerkennung entspreche dem Zweck der Mehrbedarfsregelung, der dahin gehe, Behinderten die zum Ausgleich der Behinderung erforderlichen zusätzlichen finanziellen Mittel bereit zu stellen. Der erhöhte finanzielle Aufwand zum Ausgleich der Behinderung entstehe materiell aber bereits ab dem Zeitpunkt der entsprechenden Feststellung durch die zuständige Versorgungsverwaltung und müsse dann zunächst aus Anteilen des Regelbedarfs oder der Ansparleistung bestritten werden. Die rückwirkende Erbringung des pauschalierten Mehrbedarfs diene insofern der Teilhabesicherung des behinderten Menschen und der Umsetzung eines effektiven Rechtsschutzes. Anderenfalls würden sich für den Leistungsberechtigten Schutzlücken ergeben, wenn sich die Feststellung der besonderen gesundheitlichen Merkmale verzögere. Der Kläger habe den Mehrbedarf wegen seiner Gehbehinderung dem Beklagten auch vor dem streitigen Zeitraum u.a. durch seine E-Mail vom 22.07.2010 hinreichend bekannt gemacht, sodass ihm nachträglich der Mehrbedarf für den Zeitraum vom Beklagten zu zahlen sei. Nicht mehr zu prüfen sei, ob tatsächlich ein Mehrbedarf bestanden habe, wofür allerdings die Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung - u.a. nicht unerhebliche Fahrtkosten zu Arztterminen - sprächen. Da auch die Jahresfrist des § 116a SGB XII i.V.m. § 44 Abs. 4 SGB X vom Kläger eingehalten worden sei, sei der Klage stattzugeben gewesen.

Gegen das dem Beklagten gegen Empfangsbekenntnis am 17.01.2013 zugestellte Urteil hat dieser am 25.01.2013 schriftlich beim Landessozialgericht Berufung eingelegt und an seiner Auffassung festgehalten, dass der Nachweis des Merkzeichens G durch die Vorlage eines Bescheids der zuständigen Behörde oder durch Vorlage des Ausweises geführt werden müsse. Da die Behörde erst im Dezember über das Merkzeichen G entschieden habe, komme auch erst ab dann entsprechend dem Willen des Gesetzgebers die Gewährung eines Mehrbedarfs in Betracht. § 40 Abs. 1 SGB I bestimme, dass Ansprüche auf Sozialleistungen erst mit Vorliegen der im Gesetz bestimmten Voraussetzungen entstünden, was im Umkehrschluss bedeute, dass vor dieser Zeit kein Anspruch nach den entsprechenden Vorschriften bestehe. Das Bundessozialgericht habe in seiner Entscheidung vom 10.11.2011 - B 8 SO 12/10 R - ausgeführt, dass Sinn und Zweck des § 30 Abs. 1 SGB XII keine erweiternde Auslegung in dem hier gewünschten Sinne rechtfertige. Der Nachweis diene der Verwaltungsvereinfachung. Die Regelung sei auch nicht verfassungswidrig. Die lange Dauer des Anerkennungsverfahrens könne nicht zu Lasten des Sozialhilfeträgers gehen. Dies widerspräche dem Gegenwärtigkeitsprinzip. Der Rechtsnachteil durch die Verzögerung könne auch nicht im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ausgeglichen werden. Sein erhöhter Bedarf sei durch die Zuerkennung der Hilfe zur Pflege in Form einer Haushaltshilfe und durch die Anerkennung eines erhöhten Platzbedarfs auf Grund seiner Erkrankung gedeckt gewesen. Weitere Bedarfe habe der Kläger nicht geltend gemacht.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 11. Dezember 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Der Vorschrift des § 30 SGB XII sei nicht zu entnehmen, dass nur für die Zukunft Ansprüche zu erfüllen sein sollen. Es komme darauf an, wann ein Antrag gestellt werde und ob ein Bedarf tatsächlich vorliege.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten sowie die Prozessakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Beklagten hat Erfolg.

Die gem. §§ 143, 144 Abs. 1 SGG statthafte Berufung ist zulässig; sie ist unter Beachtung der maßgeblichen Form- und Fristvorschriften (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegt worden.

Die Berufung ist auch begründet. Der Kläger hat gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Gewährung des Mehrbedarfs wegen der Einschränkung des Gehvermögens für den Zeitraum vom 01.11.2010 bis 30.11.2011 auf Grund der rückwirkenden Feststellung des Merkzeichens G durch das Versorgungsamt.

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 31.01.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.04.2012, mit dem der Beklagte die nachträgliche Zahlung eines pauschalierten behinderungsbedingten Mehraufwands für den Zeitraum vom 01.11.2010 bis 30.11.2011 abgelehnt hat. Hierbei handelt es sich um einen abtrennbaren Streitgegenstand (BSG, Urteil vom 10.11.2011 – B 8 SO 12/10 R –, juris Rn. 11 m.w.N.), auf den der Kläger ausgehend von seinem Antrag in der mündlichen Verhandlung vor dem SG, ihm "einen monatlichen Mehrbedarf nach § 42 i.V.m. § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII zu bezahlen", die Klage zulässig beschränkt hat. Bestätigt wird dies durch die Antragstellung im Verwaltungsverfahren, wo der Kläger den Antrag vom 12.11.2011 auf den weiteren Mehrbedarf - im Vorgriff auf das zu erwartende Anerkenntnis im darum vor dem SG geführten Rechtsstreit (S 1 SB 2584/09) - konkret in Bezug auf das Merkzeichen G gestellt hat und im weiteren Schreiben vom 15.12.2011 gebeten hat, schon vorab das Merkzeichen bei seinen Leistungen zu berücksichtigen. Dies zielt auf den pauschalierten Mehrbedarf ab. Einen Mehrbedarf für die Vergangenheit unabhängig von der jeweiligen Anspruchsgrundlage auf der Grundlage eines konkreten abweichenden Bedarfs (vgl. BSG aaO, Rn. 11), den er auch nicht benannt hat, hat er nicht geltend gemacht. Streitgegenstand ist damit vorliegend nur der pauschalierte behinderungsbedingte Mehrbedarf nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII. Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage zulässig.

Materiell-rechtlich beurteilt sich die Begründetheit der Berufung nach § 44 Abs. 1 SGB X. § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X findet keine Anwendung (BSG, B 8 SO 12/10 R aaO -, juris Rn. 15). Nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X soll ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung bei einer Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei dessen Erlass vorlagen, mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt. Eine Änderung der Verhältnisse ist im streitigen Zeitraum vom 01.11.2010 bis 30.11.2011 hingegen gegenüber den maßgeblichen Bewilligungsbescheiden nicht eingetreten, sondern frühestens mit der Abgabe des Anerkenntnisses für die Zeit ab Dezember 2011, richtigerweise ab Januar 2012 anzunehmen. Erst ab diesem Zeitpunkt konnte der Kläger durch einen Bescheid der zuständigen Behörde oder durch einen Ausweis gegenüber dem Beklagten die Feststellung des Merkzeichens G nachweisen. Deshalb sind auch erst ab Januar 2012 die Voraussetzungen für einen Mehrbedarf nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII zu bejahen, den der Beklagte dem Kläger ab Dezember 2011 auch gewährt.

Auch die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 SGB X liegen nicht vor, weil bei Erlass der Bewilligungsbescheide vom 20.10.2010, vom 13.01.2011 und vom 15.06.2011 das Recht nicht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist. Die Dauerverwaltungsakte dürften auch auf Grund der rückwirkenden Zuerkennung des Merkzeichens G ab 18.02.2009 für den streitigen Zeitraum so erlassen werden.

Für die streitige Zeit vom 01.11.2010 bis 30.11.2011 bestimmt sich der Anspruch des voll erwerbsgeminderten Klägers auf Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung nach den Vorschriften der §§ 41 ff. SGB XII. Diese umfassen nach § 42 S. 1 Nr. 3 SGB XII u.a. die Mehrbedarfe nach § 30 SGB XII. Nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII seit der Fassung des Art. 1 Nr. 7 des Gesetzes zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 02.12.2006 (BGBl. I 2670 mit Wirkung vom 07.12.2006) wird für Personen, die die Altersgrenze nach § 41 Abs. 2 noch nicht erreicht haben, voll erwerbsgemindert nach dem Sechsten Buch sind und durch einen Bescheid der nach § 69 Abs. 4 des Neunten Buches zuständigen Behörde oder einen Ausweis nach § 69 Abs. 5 des Neunten Buches die Feststellung des Merkzeichens G nachweisen, ein Mehrbedarf von 17 vom Hundert der maßgebenden Regelbedarfsstufe (bis 31.12.2010 Regelsatzes) anerkannt, soweit nicht im Einzelfall ein abweichender Bedarf besteht. Über beide Dokumente verfügte der Kläger - unabhängig von den übrigen Tatbestandsvoraussetzungen für den Bezug von Leistungen nach dem SGB XII - in dem streitbefangenen Zeitraum jedenfalls nicht.

Danach knüpft der Mehrbedarfszuschlag wegen Einschränkung des Gehvermögens seither an den Nachweis der Feststellung des Merkzeichens G durch einen Bescheid oder einen entsprechenden Schwerbehindertenausweis, während die vorherige Fassung den Mehrbedarf noch ausschließlich von dem Besitz eines Ausweises nach dem SGB IX mit dem Merkzeichen G abhängig machte (§ 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII in der Fassung des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27.12.2003 - BGBl I 3022). Die Vorgängerregelung hat das Bundessozialgericht (BSG, Urteil vom 10.11.2011 – B 8 SO 12/10 R –, juris) in einem gleichgelagerten Fall dahingehend ausgelegt, dass der Mehrbedarf des § 30 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII a.F. tatbestandlich mit der Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises und der Zuerkennung des Merkzeichens G verbunden ist; allein der Zeitpunkt der Feststellungswirkung des Merkzeichens G ist zur Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen nicht ausreichend. Anders als die Feststellung des Nachteilsausgleichs G selbst, die für die Zeit davor Wirkung entfaltet, wird der "Besitz" nicht rückwirkend eingeräumt. Dies wurde auch damit begründet, dass nach § 40 Abs. 1 SGB I Ansprüche auf Sozialleistungen erst mit Vorliegen der im Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes bestimmten Voraussetzungen entstehen, was im Umkehrschluss bedeutet, dass vor dieser Zeit kein Anspruch nach den bezeichneten Vorschriften besteht. Auch Sinn und Zweck der Regelungen - Nachweiszwecke, Verwaltungspraktikabilität und Verwaltungsvereinfachung, keine eigenen Ermittlungen des Sozialhilfeträgers für die Gewährung eines typisierten, pauschalierten Mehrbedarfs (BSG aaO Rn. 20) - rechtfertigen keine erweiternde Auslegung. Eine Anknüpfung an das Vorliegen der Voraussetzungen für die Erteilung des Schwerbehindertenausweises ist nicht gerechtfertigt, da die Gültigkeit des Ausweises in der Regel der Tag des Eingangs des Antrags auf eine entsprechende Feststellung sei. Wollte man auch bei dem typisierten Mehrbedarf nach dem SGB XII auf den Status des Schwerbehinderten und die Berechtigung zur Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen abstellen, führte dies bei vorangegangenem Leistungsbezug in jedem Falle zu einer rückwirkenden Leistung pauschalierter Mehrbedarfe für die Vergangenheit. Dies würde bedeuten, dass eine Korrektur praktisch in allen Fällen, in denen ein Antrag nach dem SGB IX gestellt wird, im Gesetz bereits angelegt wäre, was der Zielsetzung widerspricht (BSG aaO Rn. 21). Verfassungsrechtliche Bedenken sind verneint worden. Ob diese Auslegung auch für die Zeit ab 01.07.2006 gilt, hat das BSG offen gelassen (Rn. 22).

Der Senat vertritt die Auffassung, dass sich die Rechtslage durch die Änderung in § 30 Abs. 1 SGB XII durch das Gesetz zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 02.12.2006 (BGBl I 2670) nicht dahingehend geändert hat, dass nun auf die Feststellungswirkung des Nachteilsausgleichs G oder das Vorliegen seiner Voraussetzungen abzustellen ist. Die neue Rechtslage hat sich nur insoweit verändert, als nun nicht mehr nur ein Ausweis, sondern auch der Bescheid der zuständigen Behörde zum Nachweis ausreicht. Diesen Schluss zieht der Senat insbesondere aus der amtlichen Begründung (BT-Drucks 16/2711, S. 11 zu Nr. 8) zur Änderung des Abs. 1. Darin heißt es:

"Nach derzeitiger Rechtslage ist der Mehrbedarf davon abhängig, dass die Leistungsberechtigten tatsächlich einen entsprechenden Schwerbehindertenausweis besitzen; der Besitz eines entsprechenden Feststellungsbescheides nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch reicht nicht aus. Dies hat zur Folge, dass der Mehrbedarf auch erst ab dem Zeitpunkt der Ausstellung des Schwerbehindertenausweises und damit regelmäßig erst mehrere Wochen nach Bekanntgabe des Feststellungsbescheides in Anspruch genommen werden kann (OVG Lüneburg – Beschlüsse vom 16. Juli 2001 – AZ: 12 PA 2413/01FEVS 2002, 445 und vom 14. Januar 2004 – AZ: 12 PA 562/03). Bescheid und Ausweis haben faktisch denselben Beweiswert. Außerdem kann ein Teil der betroffenen Leistungsberechtigten – bis auf den Mehrbedarf – keine der mit dem Ausweis verbundenen Vorteile nutzen, d. h. die Mehrzahl dieser Leistungsberechtigten würde voraussichtlich auf Grund der vorgesehenen Änderung in Zukunft auf die Ausstellung des Ausweises verzichten. Die vorgesehene Änderung erleichtert somit den Zugang der Leistungsberechtigten zu den ihnen zustehenden Leistungen, indem es sie von nicht erforderlichen Behördengängen bzw. vermeidbarem Schriftverkehr mit Behörden entlastet. Sie trägt dadurch gleichzeitig bei den für das Feststellungs- verfahren zuständigen Behörden und den Trägern der Sozialhilfe zum Abbau von Verwaltungsaufwand bei."

Dadurch wird klar, dass auf Grund des Auseinanderfallens der Zeitpunkte des Erlasses des Feststellungsbescheids und der Ausstellung des Ausweises die Betroffenen bezogen darauf zum früheren Zeitpunkt den Mehrbedarf in Anspruch nehmen können sollten, nämlich bereits regelmäßig mehrere Wochen früher mit dem Feststellungsbescheid sollte dies möglich sein. Allein diese Verzögerung wollte der Gesetzgeber beseitigen. Die Möglichkeit hierzu besteht, weil Feststellungsbescheid und Ausweis den gleichen Beweiswert haben. Neben der Erleichterung für die Betroffenen wird nachwievor der Abbau von Verwaltungsaufwand zur Begründung angeführt. Auch ist in der Begründung wie in der Vorgängerregelung "der Besitz" des Schwerbehindertenausweises oder eines Feststellungsbescheides benannt. Von daher ist davon auszugehen, dass die Neuformulierung "die Feststellung des Merkzeichens G nachweisen" gegenüber "bei Besitz" eines Schwerbehindertenausweises lediglich eine semantische Verfeinerung aber keine grundsätzliche sachliche Änderung herbeiführen sollte. Anhaltspunkte dafür, dass für die Inanspruchnahme des Mehrbedarfs auf einen noch früheren Zeitpunkt abzustellen sein sollte, ergeben sich hieraus gerade nicht.

Daraus folgt, dass es weiterhin nicht genügt, dass lediglich die materiellen Voraussetzungen für die Erteilung eines Ausweises nach § 69 Abs. 5 SGB IX mit dem Merkzeichen G vorliegen. Nach dem klaren Gesetzeswortlaut muss ein entsprechender Bescheid der nach § 69 Abs. 4 SGB IX zuständigen Stelle ergangen sein oder der Ausweis vorliegen, um den Mehrbedarf zu begründen (so nun eindeutig Adolph in Linhart/Adolph , SGB II, SGB XII, AsylbLG, Stand Mai 2013, § 30 Rn. 13). Dem Ausweis steht jetzt der Feststellungsbescheid gleich, da beide denselben Beweiswert haben. Damit wird der Zugang zu den Leistungen erleichtert. Nicht ausreichend ist es also, wenn nur ein Antrag gestellt worden ist, aber noch kein Bescheid oder Ausweis vorliegt. Eine rückwirkende Gewährung kommt auch in diesen Fällen nicht in Betracht (Dauber in Mergler/Zink, SGB XII, 19. Lfg, Stand September 2011, § 30 Rn. 12; ebenso Wenzel in Fichtner/Wenzel, SGB XII, 4. Aufl., § 30 Rn. 7; Scheider in Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 18. Aufl., § 30 Rn. 9; Schwengers in Kruse/Reinhard/Winkler SGB XII, 3. Aufl. 2012, § 30 Rn. 3; a.A. Grube in Grube/Wahrendorf SGB XII, 4. Aufl. § 30 Rn. 8, Münder in LPK SGB XII 9. Aufl., § 30 Rn. 6 unter Bezugnahme auf Grube/Wahrendorf).

Die nach der Entscheidung des BSG (aaO) ergangenen Urteile des Hessischen Landessozialgerichts (Hess. LSG, Urteil vom 20.03.2013 – L 6 SO 73/10 –, juris Rn 51) und des Sozialgerichts Freiburg (SG Freiburg, Urteil vom 06.12.2012 – S 6 SO 24/10 –, juris) lassen keine anderen Schlussfolgerungen zu, weil die dortigen Sachverhalte nicht vergleichbar sind. Im einen Fall hatte sich der Beklagte bereit erklärt einen Mehrbedarf rückwirkend ab dem Gültigkeitstag des Schwerbehindertenausweises anzuerkennen. Im anderen Fall war der Ausweis schon lange ausgestellt gewesen, nur dem Sozialhilfeträger erst Jahre später vorgelegt worden.

Die vom SG angenommenen Schutzlücken für die Betroffenen liegen nicht vor. Das BSG (aaO, Rn. 28) hat in seiner Entscheidung aufgezeigt, wie bei einer längeren Wartezeit auf die Entscheidung des Versorgungsamts oder bis zum Ende eines über das Merkzeichen G geführten Rechtsstreits der erhöhte finanzielle Aufwand zum Ausgleich der Behinderung durch Nachweis des Bedarfs im einzelnen ggf. gem. § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII geltend gemacht werden kann und das Existenzminimum gesichert wird. Dies ist jedoch wie oben ausgeführt vorliegend nicht Streitgegenstand.

Der Berufung des Beklagten war daher stattzugeben und das Urteil des SG aufzuheben sowie die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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