L 7 AS 639/13 B ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 9 AS 618/13 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 639/13 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Nach dem Urteil des EuGH vom 19.09.2013, C 140/12 (Brey) können besondere beitragsunabhängige Geldleistungen i.S.v. Art. 3 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 Sozialhilfeleistungenim Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchstabe b, Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG sein. Diese Begriffe schließen sich nicht gegenseitig aus.
Sozialhilfeleistungen sind nach Definition des EuGH Hilfesysteme, die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse verfügt und die öffentlichen Finanzen damit belastet.
Es spricht daher einiges dafür, dass auch Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II Sozialhilfeleistungen im Sinne der Richtlinie 2004/38/EG und damit grundsätzlich gemäß Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG ausschließbar sind.
Dieser Ausschlusstatbestand ist unionsrechtlich dahingehend einzuschränken, dass die Sozialhilfeleistungen zustehen, wenn sie nicht unangemessen in Anspruch genommen werden. Personen ohne tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt sind dagegen ausgeschlossen. Die bloße Meldung als arbeitslos genügt nicht.
Der Verkauf einer Obdachlosenzeitung ist keine selbständige Tätigkeit, sondern eine Form des Spendensammelns.
I. Auf die Beschwerde wird der Beschluss des Sozialgerichts Augsburg vom 22. August 2013 abgeändert und der Antragsgegner vorläufig verpflichtet, die monatliche Miete in Höhe von 560,- Euro für die Monate November 2013 bis einschließlich Februar 2014 direkt an den Vermieter zu zahlen, für November 2013 jedoch nur, soweit die Miete von den Antragstellern noch nicht bezahlt wurde.

II. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller für beide Instanzen sind zu einem Viertel zu erstatten.

III. Den Antragstellern wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung gewährt und Rechtsanwalt B. beigeordnet.



Gründe:


I.

Die Antragsteller begehren im Eilverfahren Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Die 1976 geborene Antragstellerin zu 1 lebt zusammen mit ihrer 1995 geborenen Tochter (Antragstellerin zu 2) und ihrem 2002 geborenen Sohn (Antragsteller) in A-Stadt. Die Antragsteller sind rumänische Staatsangehörige. Sie reisten im Oktober 2010 in die Bundesrepublik Deutschland ein und mieteten ab 15.10.2010 eine Zweieinhalbzimmer-Wohnung in A-Stadt an. Die Antragstellerin zu 2 besuchte bis 30.07.2013 die Schule, der Antragsteller ist Schüler.

Der Ehemann der Antragstellerin zu 1 und Vater der Kinder reiste laut Aktenlage am 17.12.2010 erstmals in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er habe sich schon zuvor von der Familie getrennt. Nach anderer Darstellung sei die Trennung erst im Juli 2012 erfolgt. Der Ehemann war in Deutschland nicht erwerbstätig und erzielte Einnahmen aus dem Straßenverkauf einer Obdachlosenzeitschrift. Zum 01.07.2012 wurde ein Fortzug nach unbekannt gemeldet. Die Antragstellerin zu 1 teilte in diesem Zusammenhang mit, dass er zurück nach Rumänien gegangen sei.

Die Antragstellerin zu 1 war von 21.02.2013 bis 03.06.2013 arbeitslos gemeldet, ohne dass es zur Vermittlung einer Tätigkeit kam. Laut einem Beratungsvermerk vom März 2013 habe die Antragstellerin zu 1 kaum Deutschkenntnisse. Zum 04.06.2013 erfolgte eine Abmeldung aus der Arbeitsvermittlung. Die Antragstellerin zu 1 verkauft seit Oktober 2010 ebenfalls auf der Straße eine Obdachlosenzeitschrift, die ihr von einem sozialen Verein zu diesem Zweck zur Verfügung gestellt wurde. Eine kirchliche Einrichtung bestätigte, dass die Antragstellerin zu 1 zwischen 01.01.2013 und 20.07.2013 aus dem Straßenverkauf ein Einkommen von insgesamt 168,- Euro erzielt habe. Für die beiden Kinder wird Kindergeld von monatlich 184,- Euro gezahlt. Daneben erhält der Antragsteller ab April 2013 einen Unterhaltsvorschuss nach UVG in Höhe von monatlich 180,- Euro.

Am 11.06.2013 stellten die Antragsteller einen Antrag auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Dieser wurde mit Bescheid vom 11.06.2013 abgelehnt. Die Antragsteller seien von den Leistungen gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen, da sich das Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe. Dagegen legte der Bevollmächtigte der Antragsteller am 24.06.2013 Widerspruch ein, über den noch nicht entschieden ist.

Am 26.06.2013 stellten die Antragsteller beim Sozialgericht Augsburg einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz. Sie seien hilfebedürftig, da sie nur Kindergeld bekämen und geringe Einnahmen aus dem Straßenverkauf der Zeitschrift hätten. Der Zeitschriftenverkauf sei eine selbständige Tätigkeit. Es bestehe ein gewöhnlicher Aufenthalt. Der Leistungsausschluss widerspreche europäischem Recht, insbesondere dem Gleichbehandlungsgebot aus Art. 4 VO (EG) 883/2004. Außerdem werde die unionsrechtliche Ermächtigung für Leistungsausschlüsse nach Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG überschritten. Neben der Arbeitnehmerfreizügigkeit bestehe das Freizügigkeitsrecht für Unionsbürger nach Art. 21 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Der Ausschluss sei auch nicht mit dem Grundrecht auf Gewährleistung des Existenzminimums zu vereinbaren. Die Kinder seien nicht zur Arbeitssuche eingereist.

Die Antragstellerin zu 1 übermittelte Kontoauszüge. Aus diesen ergeben sich eine Vielzahl von Abhebungen und Bareinzahlungen. Es fielen monatliche Überweisungen an für die Miete (510,- Euro), an eine Inkassofirma (10,- Euro), für einen Ratenkauf (9,90 Euro), an die Staatsanwaltschaft (18,75 Euro) und für Telekommunikationsdienstleistungen (regelmäßig über 70,- Euro). Auf die Frage des Sozialgerichts, woher die Geldmittel für die Einzahlungen stammten, wurde auf Kindergeld und Unterhaltsvorschuss sowie ein Darlehen i.H.v. 1900,- Euro einer Verwandten verwiesen.

Vorgelegt wurde ein neuer Mietvertrag zur selben Wohnung vom 21.05.2013. Die Miete betrage monatlich 560,- Euro einschließlich Betriebskosten. Die Wohnung werde von zwei Erwachsenen und zwei Kindern bewohnt. Anschließend wurde mitgeteilt, dass die Mutter der Antragstellerin zu 1 im Juli 2013 aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen sei. Die Miete habe ohnehin immer die Antragstellerin zu 1 bezahlt.

Mit Beschluss vom 22.08.2013 lehnte das Sozialgericht den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ab. Es fehle an einem Anordnungsanspruch.

Das Europäische Fürsorgeabkommen gelte nicht, weil Rumänien nicht Vertragsstaat sei.

Es liege keine Berufstätigkeit vor, insbesondere sei der Straßenverkauf einer Obdachlosenzeitschrift keine selbständige Tätigkeit. Es fehle an einer Teilhabe am Wirtschaftsleben im Sinne eines wirtschaftlichen Güteraustausches. Es gehe vielmehr um Geldspenden. Die Antragstellerin zu 1 habe auch keine geringfügige Tätigkeit ausgeübt und nach kurzer Zeit die Arbeitslosmeldung beendet. Als nichterwerbstätige Unionsbürgerin habe sie ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 5, § 4 FreizügG/EU nur, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfüge. Ein Daueraufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 7, § 4a FreizügG/EU bestehe nicht. Auch nach Art. 6 und Art. 7 der Richtlinie 2004/38/EG bestehe kein Aufenthaltsrecht. Das Aufenthaltsrecht aus Art. 21 AEUV (ex-Art. 18 EGV) bestehe nicht, weil ausreichende Existenzmittel fehlen würden (EuGH, Urteil vom 07.09.2004 - C 456/02, Trojani).

Der Leistungsausschluss stehe einem Anspruch entgegen. Es sei umstritten, ob die begehrten Leistungen Sozialhilfe im Sinne von Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG seien oder Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen. Nach den Urteilen des EuGH vom 04.06.2009, C 22/08 und C 23/08, könne ein Mitgliedsstaat eine Leistung für den Zugang zum Arbeitsmarkt erst dann gewähren, wenn eine tatsächliche Verbindung des Leistungsempfängers zum jeweiligen Arbeitsmarkt bestehe. Eine derartige Verbindung bestehe aber bei der Antragstellerin zu 1 nicht. Das Gleichbehandlungsgebot nach Art. 4 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 sei nicht einschlägig.

Die Antragsteller haben am 12.09.2013 Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts eingelegt und zugleich Prozesskostenhilfe beantragt. Es bestehe ein gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland. Die Antragstellerin zu 2 sei ausbildungsplatzsuchend gemeldet. Die Suche sei bisher erfolglos gewesen. Es sind weitere Kontoauszüge vorgelegt worden, die eine Mietzahlung von monatlich 560,- Euro belegen. Vorgelegt wurden ferner Quittungen über Bareinzahlungen beim Energieversorger von zweimonatlich 275,- Euro. Neben den Verkaufserlösen habe die Antragstellerin Spenden erhalten, die nach ihren Angaben monatlich ca. 50,- bis 100,- Euro betragen würden. Eine Freundin habe den Antragstellern von Juni bis September 2013 jeweils 150,- Euro geliehen. Zuletzt ist mitgeteilt worden, dass die vollständige Zahlung der Wohnungsmiete nicht mehr möglich sei.

Die Antragsteller beantragen,
den Beschluss des Sozialgerichts Augsburg vom 22.08.2013 aufzuheben und den Antragsgegner zu verpflichten, den Antragstellern vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf die Akte des Antragsgegners, die Akte des Sozialgerichts und die Akte des Beschwerdegerichts verwiesen.

II.

Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben (§ 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Den Antragstellern sind aufgrund der erforderlichen Folgenabwägung im tenorierten Umfang vorläufig Leistungen zu gewähren.

Für die begehrte Begründung einer Rechtsposition im einstweiligen Rechtsschutz ist ein Antrag auf eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG statthaft. Der Antrag muss zulässig sein und die Anordnung muss zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheinen. Es muss glaubhaft sein, dass ein materielles Recht besteht, für das einstweiliger Rechtsschutz geltend gemacht wird (Anordnungsanspruch), und es muss glaubhaft sein, dass eine vorläufige Regelung notwendig ist, weil ein Abwarten auf die Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht zumutbar ist (Anordnungsgrund).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (insbes. BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, Az. 1 BvR 569/05) ist bei Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums ein besonderer Prüfungsmaßstab anzulegen, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen sind. Das Gericht hat die Sach- und Rechtslage in diesen Fällen nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Wenn dies nicht möglich ist, ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden, wobei die Gerichte eine Verletzung der Grundrechte, insbesondere der Menschenwürde, auch wenn diese nur möglich erscheint und nur zeitweilig andauert, zu verhindern haben. Zur Folgenabwägung kommt es im einstweiligen Rechtsschutz daher, wenn (1.) schwere Rechtsbeeinträchtigungen drohen, (2.) der Prüfungsmaßstab des § 86b Abs. 2 SGG zu einer Leistungsablehnung führen würde und (3.) die Sach- und Rechtslage nicht abschließend geklärt werden kann.

1. Schwere Rechtsbeeinträchtigungen sind nicht auszuschließen. Es stehen - vorbehaltlich der eingeräumten geringen Einnahmen - die gesamten existenzsichernden Leistungen der Familie im Streit.

2. Der Prüfungsmaßstab des § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG würde zu einer Leistungsablehnung führen. Ein Anordnungsanspruch besteht nicht, weil ein materieller Anspruch auf die begehrten Leistungen nicht glaubhaft, d.h. nicht überwiegend wahrscheinlich ist. Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, von Leistungen ausgeschlossen. Es spricht vieles dafür, dass die Antragsteller in europarechtskonformer Auslegung dieser Norm von Leistungen ausgeschlossen sind.

a) Wie das Sozialgericht zutreffend feststellt, kann das Europäische Fürsorgeabkommen keinen Leistungsanspruch vermitteln, weil Rumänien nicht Vertragsstaat ist.

b) Ein Leistungsanspruch der Antragsteller aufgrund eines anderweitigen Aufenthaltsrechts besteht nicht.

aa) Die Antragstellerinnen zu 1 und 2 sind weder Arbeitnehmer noch halten sie sich zur Berufsausbildung auf, § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU. Mangels Vorbeschäftigung gibt es auch keinen Fortwirkungstatbestand nach § 2 Abs. 3 FreizügG/EU. Die Antragstellerin zu 1 übt auch keine selbständige Erwerbstätigkeit nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU aus.

Der Straßenverkauf einer Obdachlosenzeitschrift ist eine Form des Spendensammelns, keine Teilhabe am Wirtschaftsleben im Sinne eines wirtschaftlichen Güteraustausches. Insoweit wird uneingeschränkt auf die Begründung des angefochtenen Beschlusses und den dort zitierten Beschluss des LSG Hessen vom 14.09.2009, L 7 AS 166/09 B ER, verwiesen.

Ein Daueraufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 7, § 4a Abs. 1 FreizügG/EU besteht nicht mangels eines fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet.

bb) Ein Aufenthaltsrecht nach § 7 Abs. 1 Satz 3 Aufenthaltsgesetz, anwendbar gemäß § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU, im Wege einer Ermessensentscheidung in begründeten Fällen (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.2013, B 4 AS 54/12 R, Rn. 31 ff) liegt hier ebenfalls nicht vor. Anhaltspunkte für einen derartigen begründeten Ausnahmefall bestehen nicht. Insbesondere ist die bislang dreijährige Schulzeit des Antragstellers in Deutschland kein derartiger Grund. Dieses Aufenthaltsrecht können unter bestimmten Voraussetzungen im Bundesgebiet geborene und aufgewachsene Ausländer beanspruchen, denen der Verlust ihrer familiären Beziehungen droht (vgl. Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Auflage 2013, § 7 AufenthG, Rn. 16 ff). Damit ist die Situation des Antragstellers nicht vergleichbar.

cc) Ein Aufenthaltsrecht als nicht erwerbstätige Unionsbürger nach § 2 Abs. 2 Nr. 5, § 4 FreizügG/EU besteht ebenfalls nicht, weil die Antragsteller dauerhaft weder über ausreichenden Krankenversicherungsschutz noch über ausreichende Existenzmittel verfügen.

dd) Nach Auffassung des Beschwerdegerichts sind die Antragsteller vom Leistungsbezug gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen.

In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob dieser Leistungsausschluss mit europäischem Recht vereinbar ist, insbesondere mit Art. 24 der Richtlinie 2004/38/EG und Art. 4 der Verordnung (EG) 883/2004. Zum Meinungsspektrum wird auf die im Beschluss des LSG Hessen vom 30.09.2013, L 6 AS 433/13 B ER, genannten unterschiedlichen Entscheidungen der Landessozialgerichte, das Urteil des BayLSG vom 19.06.2013, L 16 AS 847/12 und den Vorlagebeschluss des Sozialgerichts Leipzig an den EuGH vom 03.06.2013, S 17 AS 2198/12, verwiesen.

Der EuGH hat im Urteil vom 19.09.2013, C-140/12 (Brey) eine österreichische besondere beitragsunabhängige Leistung nach Art. 3 Abs. 3 der Verordnung als Sozialhilfeleistung i.S.v. Art. 7 Abs. 1 Buchstabe b, Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie angesehen. Die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (künftig Verordnung) und die Richtlinie 2004/38/EG (künftig Richtlinie) dienen unterschiedlichen Zwecken, die Begriffe schließen sich nicht gegenseitig aus. Sozialhilfeleistungen i.S.d. Richtlinie sind laut EuGH Leistungen, die von einem Einzelnen in Anspruch genommen werden, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse verfügt und dadurch ein steuerfinanziertes Hilfesystem belastet (EuGH, a.a.O., Rn. 61). Nach dem Urteil des EuGH vom 04.06.2009, C-22/08, C-23/08 (Vatsouras, Koupatantze) sind davon abzugrenzen die Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen.

Nach Auffassung des Beschwerdegerichts sind die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II Sozialhilfeleistungen i.S.v. Art. 7 Abs. 1 Buchstabe b, Art. 24 der Richtlinie und daher grundsätzlich nach Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie ausschließbar.

Zweck der laufenden Geldleistungen des SGB II ist die Sicherung des Lebensunterhalts. Die Hilfebedürftigkeit nach § 9 SGB II ist die zentrale Voraussetzung der Leistungen. Die Leistungshöhe bemisst sich nach dem erforderlichen Lebensunterhalt. Die Programmsätze zu Selbsthilfe und Erwerbsverpflichtung (§ 1 Abs. 2, § 2 SGB II) sind keine Grundlage zur Kürzung der laufenden Leistungen. Die Erwerbsfähigkeit einer Person in der Bedarfsgemeinschaft dient primär der Zuordnung zum jeweiligen Hilfesystem, wobei die Höhe der laufenden Leistungen des SGB II grundsätzlich denen der Sozialhilfe entspricht. Eine aktive Suche nach einer Beschäftigung ist nicht Voraussetzung, die laufenden Leistungen zu erhalten. Die Möglichkeit, die laufenden Leistungen auch bei erwerbsbezogenen Pflichtverletzungen gemäß § 31 SGB II zu reduzieren, gibt den laufenden Leistungen nicht den Zweck, den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern. Den Zweck, den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern, haben nur die Leistungen nach §§ 14 bis 16e SGB II, die von den laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts eindeutig abgrenzbar sind und keinen Einfluss auf deren Höhe haben.

Den Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 4 der Verordnung hat der EuGH im Urteil vom 19.09.2013 nicht erwähnt. Er kann demnach einen Anspruch auf eine besondere beitragsunabhängige Leistung nicht vermitteln. Auch diese Norm dient - wie die Verordnung insgesamt - nur der Koordinierung, nicht der Festlegung von Anspruchsvoraussetzungen.

Die Frage, ob und inwieweit Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie und damit der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II aus unionsrechtlichen Gründen einer einschränkenden Auslegung bedürfen, kann mit Hilfe des Urteils des EuGH vom 19.09.2013 beantwortet werden.

Wegen Art. 8 Abs. 4, Art. 14 Abs. 3 und Art. 24 Abs. 2, dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem generellen Ziel des Unionsrechts, die Freizügigkeit zu fördern, ist laut EuGH der Ausschlusstatbestand fehlender Existenzmittel einzuschränken. In Art. 7 Abs. 1 Buchstabe b der Richtlinie ist hineinzulesen, dass die Sozialhilfeleistungen "nicht unangemessen" in Anspruch genommen werden dürfen (EuGH, a.a.O., Rn. 63 bis 72). Die nationalen Behörden und Gerichte müssen deshalb befugt sein, unter Berücksichtigung aller Faktoren und der Verhältnismäßigkeit zu prüfen, ob die Gewährung einer Sozialleistung eine Belastung für das Sozialhilfesystem des Mitgliedsstaates darstellt (Rn. 72, 79).

Die systematischen Erwägungen des EuGH sind auf Arbeitssuchende und Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II übertragbar. Zusätzlich ist Art. 14 Abs. 4 Buchstabe b der Richtlinie zu berücksichtigen. Danach haben Arbeitsuchende, die nachweislich eine Arbeit suchen und eine begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden, einen besonderen Schutz vor Ausweisung.

Ein automatischer Leistungsausschluss für Arbeitsuchende, die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II beantragen, ist daher nicht möglich. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist deshalb einschränkend auszulegen. Es ist nicht etwa so, dass der Ausschlusstatbestand insgesamt nicht anzuwenden ist (so wohl LSG Hessen im Beschluss vom 30.09.2013, L 6 AS 433/13 B ER, Rn. 38) und alle Unionsbürger nach drei Monaten unterschiedslos Leistungen erhalten. Der EuGH hat im o. g. Urteil vom 19.09.2013 trotz europarechtlich nicht zulässigem automatischem Leistungsausschluss ausdrücklich eine Einzelfallentscheidung der Behörden bzw. der nationalen Gerichte gefordert (dort Rn. 72, 79).

Zusammenfassend ist daher davon auszugehen, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht für Unionsbürger gilt, die das Leistungssystem nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Dies ist insbesondere dann nicht der Fall, wenn sie nachweislich und mit konkreter Erfolgsaussicht Arbeit suchen, so dass es begründete Anhaltspunkte dafür gibt, dass Leistungen nicht auf Dauer oder nur ergänzend in Anspruch genommen werden müssen. Personen, die keine tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt haben, sind dagegen ausgeschlossen.

Im vorliegenden Fall fehlt es an jeglicher tatsächlicher Verbindung zum Arbeitsmarkt. Die bloße Meldung als arbeitslos genügt nicht. Die Antragstellerin zu 1 lebt seit drei Jahren in Deutschland und hat zu keiner Zeit nachhaltig eine Arbeit gesucht. Sie hat sich auf den Straßenverkauf einer Obdachlosenzeitschrift beschränkt und im Übrigen von den Sozialleistungen gelebt, die sie für ihre Kinder erhält. Die Antragstellerin zu 2 hat ebenfalls keine Verbindung zum Arbeitsmarkt. Sie hat die Schule im Sommer beendet, begründete Anhaltspunkte für die Aufnahme einer Ausbildung oder Arbeitsstelle gibt es nicht. Der Antragsteller ist Schüler.

Im Ergebnis ist ein Leistungsanspruch wegen des Leistungsausschlusses nicht glaubhaft.

3. Die Rechtslage kann trotz der vorgenannten Ausführungen nicht als abschließend geklärt gelten. Das BSG hat im Urteil vom 19.10.2010, B 14 AS 23/10 R, Rn. 41 ausdrücklich offen gelassen, ob der Leistungsausschluss gegen Gemeinschaftsrecht verstößt. Im Urteil vom 30.01.2013, B 4 AS 54/12 R, Rn. 26, hat das BSG Zweifel an der europarechtlichen Zulässigkeit des nicht nach dem Grad der Verbindung des arbeitsuchenden Unionsbürgers zum Arbeitsmarkt differenzierenden sowie zeitlich unbefristeten Ausschlusses geäußert. Im Übrigen wird auf den Vorlagebeschluss des SG Leipzig vom 03.06.2013, S 17 AS 2198/12, verwiesen.

In die Folgenabwägung ist einzustellen, dass erhebliche Gründe für einen Leistungsausschluss im konkreten Fall sprechen, andererseits jedoch eine Festlegung des BSG und des EuGH zum Ausschluss von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II fehlt.

Die Einkommenssituation ist undurchsichtig. Nach den vorliegenden Zahlungsunterlagen entstehen den Antragstellern seit Monaten folgende laufenden Kosten: Miete 560,- Euro, Inkasso 10,- Euro, Ratenzahlung 9,90 Euro, Staatsanwaltschaft 18,75 Euro, Telekomleistungen ca. 70,- Euro und für Energie 137,50 Euro. Das ergibt zusammen etwa 806,- Euro. Hinzu kommen die Kosten der laufenden Lebenshaltung. Dem steht gegenüber Kindergeld von zwei mal 184,- Euro, ein Unterhaltsvorschuss von 180,- Euro und aus dem Verkauf der Obdachlosenzeitung monatlich knapp 34,- Euro. Das ergibt zusammen 582,- Euro und deckt gerade die Mietzahlung ab. Das mit 150,- Euro monatlich bezifferte kurzzeitige Darlehen und die später zugestandenen Spenden können die Finanzierungslücke nur zum Teil abdecken. Es muss demnach in gewissem Umfang weiteres Einkommen vorhanden sein.

Andererseits sind die Antragsteller wohl vermögenslos. Für eine Unterdeckung des existentiellen Bedarfs sprechen die Schwierigkeiten bei der Mietzahlung. Sollten die Antragsteller ihre Wohnung verlieren, würde die Familie zum Winteranfang obdachlos werden. Eine Einweisung in eine Obdachlosenunterkunft wäre für den zehnjährigen Antragsteller eine Entwicklung, die das Gericht nicht für hinnehmbar hält. Der Verlust der Wohnung wäre, sollte sich im Hauptsacheverfahren herausstellen, dass die Antragsteller doch einen Leistungsanspruch haben, nicht mehr zu kompensieren.

Vor diesem Hintergrund hält es das Beschwerdegericht für erforderlich, aber auch - angesichts der vorgenannten Einkommensverhältnisse - für ausreichend, die Zahlung der Miete für die kommenden Monate zu sichern.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

5. Den vermögenslosen Antragstellern ist Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Rechtsanwalts ohne Ratenzahlung zu gewähren. Die Voraussetzungen nach § 73a SGG i.V.m. §§ 114 ff Zivilprozessordnung (ZPO) sind erfüllt. Auch wenn das tatsächliche Einkommen der Antragstellerin zu 1 unbekannt ist, gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass es so hoch ist, dass damit die Einkommensgrenzen nach § 115 Abs. 1 ZPO überschritten sein könnten.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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