L 7 AS 753/13 B ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 54 AS 2406/13 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 753/13 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Nach dem Urteil des EuGH vom 19.09.2013, C 140/12 (Brey) können besondere beitragsunabhängige Geldleistungen i.S.v. Art. 3 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 Sozialhilfeleistungen im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchstabe b, Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG sein. Diese Begriffe schließen sich nicht gegenseitig aus.
Sozialhilfeleistungen sind nach Definition des EuGH Hilfesysteme, die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse verfügt und die öffentlichen Finanzen damit belastet.
Es spricht daher einiges dafür, dass auch Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II Sozialhilfeleistungen im Sinne der Richtlinie 2004/38/EG und damit grundsätzlich gemäß Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG ausschließbar sind.
Dieser Ausschlusstatbestand ist unionsrechtlich dahingehend einzuschränken, dass die Sozialhilfeleistungen zustehen, wenn sie nicht unangemessen in Anspruch genommen werden. Personen ohne tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt sind dagegen ausgeschlossen. Die bloße Meldung als arbeitslos genügt nicht.
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 14. Oktober 2013 wird zurückgewiesen.

II. Der Beschwerdeführer hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.

III. Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt W. R. bewilligt.



Gründe:


I.

Der Antragsgegner und Beschwerdeführer wendet sich gegen die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen die Rücknahme einer Bewilligung von Arbeitslosengeld II.

Die 1973 geborene Antragstellerin ist bulgarische Staatsangehörige und im März 2011 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Sie bewohnt zusammen mit ihrem 1941 geborenen Lebensgefährten, der mazedonischer Staatsangehörigkeit ist und ergänzend zu einer kleinen Altersrente Sozialhilfe nach §§ 41 ff SGB XII bezieht, eine Einzimmerwohnung von 28,8 qm in A-Stadt.

Die Antragstellerin beantragte erstmals im Januar 2013 die Gewährung von Arbeitslosengeld II. Dies wurde mit Bescheid vom 13.02.2013 bis einschließlich Juni 2013 bewilligt. Auf den Weitergewährungsantrag hin bewilligte der Antragsgegner Arbeitslosengeld II für die Monate Juli bis einschließlich Dezember 2013 in Höhe von monatlich 457,68 Euro. Wie bereits bei der vorigen Bewilligung wurde die Hälfte der Unterkunftskosten der gemeinsamen Wohnung bei der Antragstellerin, die andere Hälfte bei ihrem Lebensgefährten berücksichtigt.

Mit Bescheid vom 10.09.2013 erfolgte erstmals eine Rücknahme der Bewilligung, die nach Widerspruch aufgehoben wurde. Mit Bescheid vom 24.09.2013 erfolgte erneut eine Rücknahme der Bewilligung für die Zeit ab 01.10.2013. Die Antragstellerin sei als bulgarische Staatsangehörige gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen, weil sie sich lediglich zu Arbeitssuche in Deutschland aufhalte. Es gehe um eine Rücknahme für die Zukunft. Die Leistungen für die Zukunft habe die Antragstellerin noch nicht erhalten und könne diese auch noch nicht verbraucht haben. Auch eine Vermögensdisposition habe sie nach den vorliegenden Unterlagen nicht getroffen. Die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 SGB X seien folglich erfüllt. Das Ermessen sei pflichtgemäß ausgeübt worden. Eine Bewilligung sei ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Ohne Rücknahme würden mehrere Monate zu Unrecht Leistungen erbracht werden. Das Interesse der Allgemeinheit an einem verantwortungsvollen Umgang mit den aus Steuermitteln finanzierten Leistungen sowie an einer Gleichbehandlung aller Leistungsempfänger überwiege das Interesse der Widerspruchsführerin.

Der dagegen erhobene Widerspruch - es bestehe eine Leistungsberechtigung nach europäischen Vorschriften, insbesondere der Verordnung 883/2004/EG - wurde mit Widerspruchsbescheid vom 30.09.2013 zurückgewiesen. Dagegen wurde Klage erhoben (Az. S 13 AS 2630/13).

Am 27.09.2013 stellte der Bevollmächtigte der Antragstellerin beim Sozialgericht München einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs sei anzuordnen. Am 08.10.2013 teilte der Bevollmächtigte der Antragstellerin mit, dass unter der Adresse der Antragstellerin seit 09.09.2013 auch der am 26.07.1998 geborene Sohn S. gemeldet sei und zu Bedarfsgemeinschaft gehöre. Auch für ihn würden im einstweiligen Rechtsschutz Leistungen beantragt werden.

Mit Beschluss vom 14.10.2013 hat das Sozialgericht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 25.09.2013 angeordnet. Im Übrigen - hinsichtlich des Sohnes - wurde der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abgelehnt. Es bestünden erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Rücknahmebescheides vom 25.09.2013. Es sei fraglich, ob der Ausschlusstatbestand gegen europäisches Recht verstoße. Höchstwahrscheinlich stehe der Vorrang von Art. 4 der Verordnung (EG) 883/2004 dem Leistungsausschluss entgegen.

Der Antragsgegner hat am 08.11.2013 Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts eingelegt. Die Antragstellerin sei vom Leistungsanspruch ausgeschlossen. Dieser Ausschluss verstoße auch nicht gegen das Recht der Europäischen Union. Die Verordnung (EG) 883/2004 trete hinter die Regelung in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 zurück. Die Verordnung (EG) 883/2004 beinhalte lediglich eine Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme. Dagegen erlaube Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 einen Ausschluss vom Bezug von Sozialhilfe. Unter diese Sozialhilfe würden sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichtete Hilfesysteme fallen, die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt. Hierzu würden auch die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II zählen.

Der Antragsgegner und Beschwerdeführer beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts München vom 14.10.2013 aufzuheben und den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abzulehnen.

Der Bevollmächtigte der Antragstellerin beantragt die Zurückweisung der Beschwerde und die Gewährung von Prozesskostenhilfe.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf die Akte des Antragsgegners, die Klageakte des Sozialgerichts und die Akte des Beschwerdegerichts verwiesen.

II.

Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben (§ 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Der Beschwerdewert liegt mit drei mal 457,68 Euro über 750,- Euro.

Die Beschwerde ist jedoch unbegründet, weil das Sozialgericht im Ergebnis zu Recht die aufschiebende Wirkung angeordnet hat. Zur Klarstellung ist hinzuzufügen, dass nach Erhebung der Klage die aufschiebende Wirkung von dieser Klage ausgeht.

1. Das Beschwerdegericht ist nicht der Auffassung, dass die Verordnung (EG) 883/2004 der Antragstellerin einen Anspruch auf Gleichbehandlung vermittelt, so dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bei Staatsangehörigen aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht zur Anwendung kommt.

Nach dem Urteil des EuGH vom 19.09.2013, C-140/12 (Brey) können besondere beitragsunabhängige Geldleistungen i.S.v. Art. 3 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 "Sozialhilfeleistungen" im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchstabe b, Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG sein. Diese Begriffe schließen sich nicht gegenseitig aus.

Sozialhilfeleistungen sind nach Definition des EuGH Hilfesysteme, die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse verfügt und die öffentlichen Finanzen damit belastet.

Das Beschwerdegericht ist der Überzeugung, dass auch Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II Sozialhilfeleistungen im Sinne der Richtlinie 2004/38/EG sind. Arbeitslosengeld II wird insbesondere nicht zu dem Zweck erbracht, dass der Betroffene Arbeit findet, sondern dass er seinen existentiellen Lebensbedarf sichern kann. Eine aktive Suche nach einer Beschäftigung ist nicht Leistungsvoraussetzung und die Leistungen werden auch nicht deswegen erbracht, damit sie bei Pflichtverletzungen gekürzt werden können. Damit sind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II grundsätzlich gemäß Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG ausschließbar.

Die Verordnung (EG) 883/2004 dient laut o.g. Urteil des EuGH vom 19.09.2013 insgesamt nur der Koordinierung von Leistungen, nicht der Festlegung von Leistungsvoraussetzungen. Den Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 4 der Verordnung hat der EuGH dort nicht einmal erwähnt.

Der Ausschlusstatbestand nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist unionsrechtlich aber dahingehend einzuschränken, dass die "Sozialhilfeleistungen" zustehen, wenn sie nicht unangemessen in Anspruch genommen werden. Personen ohne tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt sind dagegen ausgeschlossen. Die bloße Meldung als arbeitslos genügt nicht.

Nach alledem spricht viel dafür, dass die Antragstellerin, die nach der Aktenlage keine tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt hat oder sucht, gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den begehrten Leistungen ausgeschlossen ist.

Zur näheren Begründung dieser europarechtlichen Einschätzung wird auf den Beschluss des erkennenden Senates vom 06.11.2013, L 7 AS 639/13 B ER, verwiesen.

In diesem Beschluss hat das Beschwerdegericht auch darauf hingewiesen, dass die Rechtslage nicht als abschließend geklärt gelten kann. Das BSG hat im Urteil vom 19.10.2010, B 14 AS 23/10 R, Rn. 41, ausdrücklich offen gelassen, ob der Leistungsausschluss gegen Gemeinschaftsrecht verstößt. Im Urteil vom 30.01.2013, B 4 AS 54/12 R, Rn. 26, hat das BSG Zweifel an der europarechtlichen Zulässigkeit des nicht nach dem Grad der Verbindung des arbeitsuchenden Unionsbürgers zum Arbeitsmarkt differenzierenden sowie zeitlich unbefristeten Ausschlusses geäußert. Im Übrigen steht eine Entscheidung des EuGH zum Vorlagebeschluss des SG Leipzig vom 03.06.2013, S 17 AS 2198/12, aus. Das Beschwerdegericht hat deshalb im Beschluss vom 06.11.2013 aufgrund einer einzelfallbezogenen Folgenabwägung in sehr begrenztem Umfang vorläufig Leistungen zugesprochen.

2. Im vorliegenden Fall ist, ungeachtet der vorstehenden Erwägungen, fraglich, ob die Rücknahme der ursprünglichen Bewilligung den Anforderungen des § 45 SGB X genügt.

Es ist zunächst nicht so, dass die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X bereits dann vorliegen, wenn die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X, wie der Beschwerdeführer annimmt, nicht gegeben sind. In diesem Fall beginnt erst die gerichtlich voll überprüfbare Abwägung nach Satz 1, ob der Betroffene auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen schutzwürdig ist (vgl. von Wulffen, SGB X, 7. Auflage 2010, § 45 Rn. 36). Erst danach kommt das Ermessen.

Es ist weiter zweifelhaft, ob hier nicht doch ein Regelfall des schutzwürdigen Vertrauens nach § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X vorliegt. Die Antragstellerin wohnt bei ihrem Lebensgefährten. Dieser bekommt seit Januar 2013 bei seiner Sozialhilfe - dem Gesetz und der Rechtsprechung des BSG entsprechend - nur noch die Hälfte der Unterkunftskosten als Bedarf berücksichtigt. Solange die Antragstellerin bei ihrem Lebensgefährten wohnt, wird das so bleiben. Eine andere Unterkunft für die Antragstellerin ist nicht ersichtlich. Das Beschwerdegericht neigt dazu, in dieser Konstellation eine Vermögensposition zu sehen, die nur unter Inkaufnahme erheblicher Nachteile rückgängig gemacht werden könnte.

3. Zusammenfassend ist festzustellen, dass im vorliegenden Fall vieles dafür spricht, dass die Antragstellerin gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in europarechtskonformer Auslegung von Leistungen zu Sicherung des Lebensunterhaltes ausgeschlossen ist. Jedoch bestehen erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Rücknahmebescheids, so dass es bei der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage verbleibt.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

5. Der Antragstellerin war Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung zu gewähren, weil die Antragstellerin nach ihren Angaben einkommens- und vermögenslos ist und die Erfolgsaussicht gemäß § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO ohnehin nicht zu prüfen ist.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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