L 7 AS 401/13

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 5 AS 769/11
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 401/13
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz enthält nicht generell eine Klage. Es handelt sich inhaltlich um zwei völlig verschiedene Verfahren.
Eine Rechtsbehelfsbelehrung eines Widerspruchsbescheids, die auch Vorgaben der §§ 92 und 93 SGG enthält, ist nicht deswegen unrichtig i.S.v. § 66 SGG. An der gegenteiligen Rechtsprechung im Beschluss vom 06.02.2012, L 7 AS 21/12 B ER, hält der erkennende Senat nicht mehr fest.
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 15. Mai 2013 wird zurückgewiesen.

II. Die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.



Tatbestand:


Streitig ist die Rechtmäßigkeit einer weiteren wiederholten Sanktion, wodurch der Anspruch des Klägers auf Auszahlung von Arbeitslosengeld II in den Monaten September, Oktober und November 2011 vollständig entfallen ist.

Der 1977 geborene alleinstehende Kläger bezog bis Frühjahr 2001 Arbeitslosengeld, danach Arbeitslosenhilfe bzw. Sozialhilfe. Seit 01.01.2005 bezieht er Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom Beklagten. Der Kläger ist gelernter Tischler. Wegen Meldeversäumnissen, fehlenden Eigenbemühungen und Verweigerung von Bewerbungen auf konkrete Stellenangebote erfolgten seit dem Jahr 2008 zahlreiche Absenkungen, Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes und Klagen.

Dem Kläger wurde zuletzt mit Bescheid vom 04.03.2011 Arbeitslosengeld II für die Zeit bis einschließlich Juni 2011 bewilligt. Mit Bescheid vom 08.04.2011 erfolgte eine Absenkung um 30 % des maßgeblichen Regelbedarfs für die Monate Mai, Juni und Juli 2011. Der Kläger habe sich nicht auf ein Vermittlungsangebot bei der H.-GmbH beworben. Mit Bescheid vom 30.06.2011 erfolgte eine Absenkung um 60 % des maßgeblichen Regelbedarfs für die Monate August, September und Oktober 2011. Der Kläger habe die im Eingliederungsverwaltungsakt (Eingliederungsvereinbarung durch Verwaltungsakt) vom 17.01.2011 festgelegten Eigenbemühungen von zwei Bewerbungen pro Woche zum Einladungstermin am 06.06.2011 nicht nachgewiesen. Der dagegen erhobene Widerspruch wurde als unbegründet zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 21.07.2011). Eine Klage wurde dagegen nicht erhoben.

Mit Bescheid vom 26.07.2011 wurde der vollständige Wegfall des Auszahlungsanspruchs für Arbeitslosengeld II für die Monate September, Oktober und November 2011 festgestellt. Der Kläger habe die im Eingliederungsverwaltungsakt vom 17.01.2011 festgelegten Eigenbemühungen von zwei Bewerbungen pro Woche zum Einladungstermin am 05.07.2011 nicht nachgewiesen. Der dagegen erhobene Widerspruch wurde als unbegründet zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 16.08.2011 mit zutreffender Rechtsbehelfsbelehrung zur Klage). Eine Klage wurde nicht erhoben.

Dem Kläger wurde mit Schreiben vom 30.06.2011 ein Vermittlungsvorschlag für eine Tätigkeit als Tischler bei der Zeitarbeitsfirma T. unterbreitet. Er habe sich umgehend zu bewerben. Der Vermittlungsvorschlag enthält eine Rechtsfolgenbelehrung zu einer dreimonatigen Sanktion mit vollständigem Wegfall des Leistungsanspruchs. Die Firma teilte am 14.07.2011 mit, dass der Kläger sich nicht beworden habe. Auf die schriftliche Anhörung zur beabsichtigten Sanktion erfolgte keine Reaktion des Klägers.

Mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 22.08.2011 wurde der vollständige Wegfall des Auszahlungsanspruchs auf Arbeitslosengeld II für die Monate September, Oktober und November 2011 festgestellt. Der Kläger habe sich bei der Firma T. nicht beworben. Mit Bescheid vom 14.09.2011 wurden antragsgemäß Lebensmittelgutscheine gewährt. Der Kläger erhob gegen den Sanktionsbescheid Widerspruch. Eine hundertprozentige Absenkung sei eine Mordandrohung und strafbar.

Am 25.08.2011 stellte der Kläger beim Sozialgericht Landshut unter Verwendung eines selbst erstellten Formblattes (Schreiben vom 24.08.2011) einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (Az. S 5 AS 586/11 ER). Der Antragsgegner solle im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden, die Leistungen weiterhin zu gewähren. Über den Widerspruch sei noch nicht entschieden worden. In dem Schreiben verwendete er die Formulierung "In dem Eilverfahren [Vor- und Nachname] - Kläger gegen Arge - Beklagter". Der Eilantrag wurde mit Beschluss vom 15.11.2011 abgewiesen.

Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 01.09.2011 als unbegründet zurückgewiesen. Der Widerspruchsbescheid enthält eine zutreffende Rechtsbehelfsbelehrung zur Klage. Er wurde laut Aktenvermerk am 02.09.2011 zur Post gegeben.

Das Sozialgericht ließ das Schreiben vom 24.08.2011 am 09.11.2011 als Klage eintragen. Dies wurde dem Kläger mit gerichtlichem Schreiben vom 10.11.2011 mitgeteilt. Eine weitere Äußerung des Klägers erfolgte nicht. Nach mündlicher Verhandlung, zu der der Kläger nicht erschien, wies das Sozialgericht die Klage mit Urteil vom 15.05.2013 ab. Der Sanktionsbescheid vom 22.08.2011 sei rechtmäßig. Der Kläger habe sich im Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zwar als "Antragsteller" bezeichnet, aber auch als "Kläger". Dies habe das Gericht dahingehend ausgelegt, dass der Kläger auch habe Klage erheben wollen. Die Absenkung entspreche § 31 Abs. 1, § 31a SGB II. Es handle sich um eine weitere wiederholte Absenkung. Der Kläger habe sich trotz schriftlicher zutreffender Belehrung über die Rechtsfolgen geweigert, eine zumutbare Arbeit aufzunehmen. Ein wichtiger Grund für dieses Verhalten sei nicht erkennbar. Beginn, Dauer und Höhe der Sanktion seien zutreffend. Es bestünden keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die vollständige Absenkung. Das Grundgesetz verpflichte nicht zu voraussetzungslosen Sozialleistungen. Der Kläger könne ergänzende Leistungen erhalten und habe diese auch erhalten.

Der Kläger hat am 22.05.2013 Berufung gegen das Urteil eingelegt. Ihm stehe das Geld zu. Er sei nicht bereit, Einschränkungen seiner Grund- und Menschenrechte hinzunehmen. Es sei möglich, Strafanzeige wegen Mordes, Nötigung und Unterschlagung zu stellen. Ein Eingliederungsverwaltungsakt sei nach einem Gerichtsbeschluss aus dem Jahr 2007 keine Grundlage für eine Sanktion.

Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 15.05.2013 sowie den Sanktionsbescheid vom 22.08.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01.09.2011 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihm für die Zeit von 01.09.2011 bis 30.11.2011 Arbeitslosengeld II zu gewähren.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf die Akten des Beklagten, die Akte des Sozialgerichts und die Akte des Berufungsgerichts verwiesen.



Entscheidungsgründe:


Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet, weil das Sozialgericht die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen hat. Es fehlte bereits an einer Klageerhebung.

Streitgegenstand ist zumindest der Bescheid vom 22.08.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.05.2013 in dem für die Monate September, Oktober und November 2011 der vollständige Wegfall des Arbeitslosengelds II festgestellt wurde. Ob die Neufassung von § 31b Abs. 1 Satz 1 SGB I, wonach durch eine Sanktion nur der Auszahlungsanspruch gemindert wird, bedeutet, dass eine Sanktion einen einzelnen Streitgegenstand bildet (so Groth/Luik/Siebel-Huffmann, Das neue Grundsicherungsrecht, 2011, Rn. 421, Berlit in LPK-SGB II, 5. Auflage 2013, § 31b Rn. 2, Gagel, SGB II § 31b Rn. 2; Oestreicher, SGB II/SGB XII, § 39 Rn. 42; a.A. Eicher SGB II, § 31b Rn. 7 und Hauck-Noftz, § 31b Rn. 13) braucht hier nicht entschieden werden. Es fehlte bereits an einer Klageerhebung.

Die Berufung ist zurückzuweisen, weil es keine rechtzeitige Klageerhebung gab. Die Klage war unzulässig und die strittige Sanktion wurde bestandskräftig.

Gemäß § 87 Abs. 1 Satz 1 SGG ist die Klage binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsaktes zu erheben, bzw. wenn ein Vorverfahren stattgefunden hat, gemäß § 87 Abs. 2 SGG binnen eines Monats ab Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids.

Der Kläger erhielt mit dem Widerspruchsbescheid vom 01.09.2011 die korrekte Rechtsbehelfsbelehrung, wonach gegen den Widerspruchsbescheid innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe beim Sozialgericht Landshut schriftlich oder zur Niederschrift Klage erhoben werden kann. Diese Rechtsbehelfsbelehrung entspricht § 90 SGG, so dass die Klagefrist auch nicht gemäß § 66 SGG zu verlängern ist. Dass die Rechtsbehelfsbelehrung auch die Vorgaben der §§ 92 und 93 SGG enthält, macht diese nicht unrichtig i.S.v. § 66 Abs. 1 SGG. An der gegenteiligen Rechtsprechung im Beschluss vom 06.02.2012, L 7 AS 21/12 B ER, hält der erkennende Senat nicht mehr fest.

Die Klagefrist endete mit Ablauf des 05.10.2011, weil der Widerspruchsbescheid am 02.09.2011 zur Post gegeben wurde, § 37 Abs. 2 SGB X, § 64 SGG. Eine Klageschrift ist innerhalb dieser Klagefrist nicht eingegangen.

Das Sozialgericht hat das Schreiben des Klägers vom 24.08.2011, dem Sozialgericht zugegangen am 25.08.2011, als Klage ausgelegt. Zu diesem Zeitpunkt konnte nach h.M. zwar schon Klage erhoben werden, jedoch enthält das Schreiben nur einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz und keine Klage.

Eine Klageerhebung vor Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids ist nach § 87 SGG nicht zulässig. Die Klagefrist beginnt erst danach. Trotzdem fordert die h. M. in Rechtsprechung und Kommentarliteratur, bei einer Klageerhebung vor Erlass des Widerspruchsbescheids dem Kläger die Möglichkeit zu geben, das Vorverfahren nachzuholen (vgl. Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 10. Auflage 2012, § 78 Rn. 3a; a. A. im Falle eines informierten und damit nicht schutzbedürftigen Klägers BayLSG, Urteil vom 12.08.2012, L 7 AS 455/13). Damit wird die fehlende Prozessvoraussetzung geheilt und Zwischenschritte wie eine Untätigkeitsklage nach § 88 SGG oder eine erneute Klageerhebung nach Erlass des Widerspruchsbescheids vermieden.

Das Schreiben vom 24.08.2011 enthält jedoch nur einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz und keine Klage.

Für die Frage, welcher Rechtsbehelf eingelegt wurde, kommt es gemäß § 106 Abs 1 SGG und § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zunächst auf den wirklichen Willen des Rechtsbehelfsführers und auf dessen erkennbares Prozessziel an. Entscheidend ist, welchen Sinn die Erklärung aus der Sicht des Gerichts und des Prozessgegners hat. Dabei ist der Rechtsbehelfsführer nicht allein am Wortlaut festzuhalten. In verfassungsgerechter Auslegung (Art 19 Abs 4 GG) dürfen Prozesserklärungen nicht so ausgelegt werden, dass der Zugang zu den im SGG eingeräumten Instanzen in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird (BSG, Urteile vom 14.12.2006, B 4 R 19/06 R und 08.11.2005, B 1 KR 76/05 B; BVerfGE 74, 228).

Der Kläger wollte mit seinem Schreiben vom 24.08.2011 allein einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz stellen. Nur das war das Prozessziel seines Schreibens. Dies zeigen die Überschrift, der Antrag und die Begründung seines Schreibens.

Es handelt sich bei dem Schreiben um ein Formblatt, das der Kläger wegen der Vielzahl seiner Sanktionen und Eilverfahren selbst erstellt hat. Die Überschrift lautet "Eilbedürftiger Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung". Der Kläger beantragt, dass trotz der Leistungskürzung in der Zeit von 01.09.2011 bis 30.11.2011 die Leistungen zu gewähren sind. Hierzu beantragt er weiter ausdrücklich, dass der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten ist, dem Antragsteller sämtliche Leistungen nach dem SGB II zu bewilligen. In der Begründung fordert er, dass der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz nicht abgelehnt werden dürfe. Das Schreiben zeigt weiter, dass dem Kläger klar war, dass das Vorverfahren noch offen war, weil er anführt, dass über den Widerspruch noch nicht entschieden sei. Lediglich wegen der Bezeichnung "In dem Eilverfahren [Name] Kläger gegen ARGE - Beklagter" ist das Schreiben, das sonst in jeder Beziehung ausschließlich ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist, nicht in eine Klageerhebung umzudeuten oder als solche auszulegen.

Auch angesichts der damaligen Prozesssituation bestand kein Anlass, das Schreiben als Klage auszulegen. Ein Widerspruchsbescheid war noch nicht ergangen, was dem Kläger auch bekannt war. Wegen den seit 2008 angestrengten Klage- und Eilverfahren war dem Kläger auch bekannt, dass es neben den Eilverfahren Klageverfahren gibt.

Ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz enthält auch nicht generell eine Klage (Breitkreuz / Fichte, SGG-Kommentar, 1. Auflage 2008, § 87 Rn. 6; Wündrich in SGb 2009, S. 207; auch keinen Widerspruch vgl. Beschluss BayLSG vom 11.04.11, L 7 AS 214/11 B ER; a.A. wegen des Meistbegünstigungsprinzips Hölzer in info also 2010, S. 101). Es handelt sich inhaltlich um zwei völlig verschiedene Dinge. Im Eilverfahren wird eine schnelle vorläufige Nothilfe durch das Gericht angestrebt, durch eine Klage wird eine endgültige Klärung des Rechtsstreits verfolgt. Der Klage sind ein Verwaltungsverfahren und ein Vorverfahren vorangestellt, ein Eilverfahren ist grundsätzlich auch ohne Verwaltungsentscheidung möglich.

Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 SGG sind nicht ersichtlich. An der fristgemäßen Klageerhebung wurde der Kläger insbesondere auch nicht durch das Schreiben des Sozialgerichts gehindert, dass der Eilantrag als Klageschrift betrachtet werde. Dieses Schreiben datiert vom 10.11.2011, die Klagefrist war bereits mit Ablauf des 05.10.2011 zu Ende.

Weil die Klage somit schon unzulässig war, ist die Berufung zurückzuweisen. Eigentlich gab es mangels Klageerhebung gar keine Klage, jedoch zeigt der Kläger durch die Berufungseinlegung dass er von einer Klageerhebung ausgeht und eine Entscheidung darüber begehrt. Wegen der unterschiedlichen Rechtskraft von Sachurteilen und Prozessurteilen ist - wie geschehen - in den Entscheidungsgründen darzulegen, dass die Klage bereits unzulässig war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision wurde nicht zugelassen, weil keine Gründe nach § 160 Abs. 2 SG ersichtlich sind.
Rechtskraft
Aus
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