L 7 AS 502/14 B ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 23 AS 507/14 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 502/14 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Nach dem Vorlagebeschluss des BSG vom 12.12.2013 (B 4 AS 9/13 R) dürfte im Rahmen eines sozialgerichtlichen Verfahrens nach § 86b Abs. 2 SGG die Verneinung eines Anordnungsanspruchs allein wegen § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht mehr in Betracht kommen, wenn die übrigen Leistungsvoraussetzungen glaubhaft gemacht worden sind.
I. Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 2. April 2014 aufgehoben.

Der Antragsgegner wird im Rahmen der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern für Mai 2014 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 975,53 EUR unter Anrechnung des in dieser Zeit erzielten Einkommens auf ihren Bedarf und vorläufig für die Zeit vom 1. Oktober 2013 bis 30. April 2014 jeweils 309,53 EUR monatlich sowie die Mietkaution als Darlehen in Höhe von 431,48 EUR zu gewähren. Der Bedarf für Unterkunft und Heizung bis 30. April 2014 ist direkt an den Vermieter der Antragsteller zu leisten. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

II. Der Antragsgegner hat den Antragstellern deren außergerichtliche Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um die vorläufige Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ab 01.10.2013, insbesondere darum, ob die Antragsteller gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II als rumänische Staatsangehörige von Leistungen nach diesem Buch ausgeschlossen ist.

Die 1956 geborenen Antragsteller leben laut Meldebescheinigung seit 02.07.2013 in D ; zunächst wohnten sie bei ihrer Tochter F P. Deren Ehemann T und die drei Kinder leben ebenfalls in D (wohl nach den Bestimmungen des Asylbewerberleistungsgesetzes). Am 16.07.2013 meldeten sich die Antragsteller erstmals beim Antragsgegner, nahmen ihren damaligen Leistungsantrag aber nach Hinwies auf § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II am 23.07.2013 zurück. Die Antragsteller sprechen kaum Deutsch.

Am 26.09.2013 beantragten die Antragsteller beim Antragsgegner Leistungen nach dem SGB II, legten die Mitgliedsbescheinigung der AOK Plus vom 24.07.2013 und eine Anfrage zum Wohnungsangebot vor. In einem persönlichen Gespräch gaben sie auf die Frage, warum sie nach Deutschland gekommen seien, an, sie seien gekommen, um Arbeit zu suchen. Am 01.10.2013 schlossen sie einen Mietvertrag für eine 46,90 m² große Zwei-Zimmer-Wohnung, für die sie monatlich insgesamt 309,53 EUR Miete zu zahlen haben.

Die Tochter der Antragsteller ist seit 01.12.2013 als Reinigungskraft befristet beschäftigt und bezieht zusätzlich Leistungen nach dem SGB II vom Antragsgegner in Höhe von monatlich 167,09 EUR.

Mit Bescheid vom 29.10.2013 lehnte der Antragsgegner den Antrag des Antragsteller auf Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II ab. Sie hätten keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, weil sie ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland allein zum Zweck der Arbeitsuche hätten. Die Entscheidung beruhe auf § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II. Am 30.10.2013 wurde der Bescheid versandt. Dagegen legte der Prozessbevollmächtigte der Antragsteller am 02.12.2013 Widerspruch ein und legte die außerordentliche fristlose Kündigung und die Aufforderung des Vermieters zur Herausgabe der Wohnung zum 25.11.2013 vor. Eine erneute Herausgabeaufforderung des Vermieters erfolgte zum 30.01.2014. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 04.02.2014 – W 3932/13). Dagegen hat der Prozessbevollmächtigte der Antragsteller am 11.02.2014 beim Sozialgericht Chemnitz Klage erhoben (S 23 AS 561/14).

Am 21.02.2014 hat die Antragstellerin zu 1 einen unbefristeten Aushilfsarbeitsvertrag ab 01.03.2014 für Putzarbeiten als Minijob für 40 Stunden für 150,00 EUR monatlich geschlossen.

Den Antrag der Antragsteller vom 07.02.2014 auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur vorläufigen Gewährung von Leistungen und der der aufgelaufenen Gesamtmietschuld hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 02.04.2014 abgelehnt, weil das Gericht sich nicht davon habe überzeugen können, dass die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen Europarecht verstoße. In den Gründen schließt sich das Sozialgericht dem Beschluss des Bayrischen Landessozialgerichts vom 06.11.2013 – L 7 AS 639/13 B ER an. Auch gäben Zweifel an der Vereinbarkeit mit Europarecht keine Berechtigung sich im Wege der Folgenabwägung über die eindeutige Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II hinweg zusetzen, weil dies eine Durchbrechung des Prinzips der Gewaltenteilung bedeuten würde. Es ergäben sich auch keine hinreichenden Anhaltspunkte, dass die Inanspruchnahme der Leistungen nach dem SGB II nicht unangemessen sei. Insbesondere führe der Wunsch, in der Nähe der Tochter zu leben, die ihre Unterstützung für die Antragsteller nicht aus "eigener Kraft" finanziere, zu keinem anderen Ergebnis. Das Europäische Fürsorgeabkommen sei nicht anwendbar.

Am 31.03.2014 hat die Antragstellerin zu 1 ihren ersten Arbeitslohn in Höhe von 150,00 EUR erhalten.

Gegen den am 04.04.2014 zugestellten Beschluss des Sozialgerichts wenden sich die Antragsteller mit der am 07.04.2014 beim Sächsischen Landessozialgericht eingegangenen Beschwerde. Ihr Prozessbevollmächtigter macht geltend, da die Antragstellerin zu 1 eine geringfügige Beschäftigung aufgenommen habe, besitze sie Arbeitnehmerstatus. Im Übrigen seien die Antragsteller zu ihrer Tochter gezogen, von der sie finanzielle Unterstützung erhielten, sodass der Gesichtspunkt der Familienzusammenführung zum Tragen komme. Selbst wenn die Antragsteller als "wirtschaftlich nicht aktiv" eingestuft würden, würden sie das Sozialhilfesystem nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Es habe eine umfassende Einzelfallabwägung stattzufinden. Vorliegend erfolge eine teilweise Bedarfsdeckung durch die Einnahmen aus der geringfügigen Tätigkeit und durch die wirtschaftliche Unterstützung durch die Tochter. Diese habe die Antragsteller aus dem "Mehrbetrag" von 275,00 EUR unterstützt, der ihr von ihrem Erwerbseinkommen verblieben sei, soweit die Antragsteller nicht selbst ihren Bedarf hätten decken können. Dazu sei die Tochter jetzt nicht mehr in der Lage, weil sie die Möglichkeit habe, mit ihrem Mann und den Kindern zusammen zu ziehen, weshalb Anschaffungen nötig seien.

Die Antragsteller beantragen sinngemäß, den Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 02.04.2014 aufzuheben und den Antragsgegner zu verpflichten, den Antragstellern vorläufig Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 975,53 EUR monatlich und vorläufig Leistungen in Höhe der Gesamtmietschulden einschließlich der Mietkaution zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

Er hält den Beschluss des Sozialgerichts und die dort vertretene Rechtsauffassung für richtig.

Dem Senat haben die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die Leistungsakte des Antragsgegners (1 Band Bl. 1-57) vorgelegen. Sie sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

&8195; II.

Der Senat kann gemäß § 155 Abs. 3 und Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch die Berichterstatterin als Einzelrichter entscheiden, weil die Beteiligten hiermit ihr Einverständnis erklärt haben.

Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde der Antragsteller ist ganz überwiegend begründet. Zu Unrecht hat es das Sozialgericht mit Beschluss vom 02.04.2014 abgelehnt, den Antragsgegner zu verpflichten, den Antragstellern vorläufig Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.

Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG können die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit auf Antrag schon vor Klageerhebung (§ 86b Abs. 3 SGG) eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dazu sind gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) sowohl der geltend gemachte materielle Rechtsanspruch (Anordnungsanspruch) als auch der Grund, weshalb die Anordnung so dringlich ist, dass dieser Anspruch vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache gesichert oder geregelt werden muss (Anordnungsgrund), glaubhaft zu machen. Außerdem kann das Gericht dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und dem Antragstellerin nicht schon in vollem Umfang das gewähren, was er nur im Hauptsacheverfahren erreichen kann.

Ein Anordnungsanspruch ist gegeben, wenn nach summarischer Prüfung eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass der Antragstellerin ein Rechtsanspruch auf die begehrte Leistung zusteht und sie deshalb im Hauptsacheverfahren mit seinem Begehren Erfolg haben würde. Ein Anordnungsgrund liegt vor, wenn sich aus den glaubhaft gemachten Tatsachen ergibt, dass es die individuelle Interessenlage der Antragstellerin unter Umständen auch unter Berücksichtigung der Interessen des Antragsgegners, der Allgemeinheit oder unmittelbar betroffener Dritter unzumutbar erscheinen lässt, sie zur Durchsetzung ihres Anspruchs auf das Hauptsacheverfahren zu verweisen (vgl. Finkelnburg/¬Dombert/¬Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 5. Aufl. 2008, RdNr. 154-156 m.w.N.; ähnlich: Krodel, NZS 2002, 234 ff.). Ob die Anordnung derart dringlich ist, beurteilt sich insbesondere danach, ob sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen, ebenso schwer wiegenden Gründen nötig erscheint. Dazu müssen Tatsachen vorliegen bzw. glaubhaft gemacht sein, die darauf schließen lassen, dass der Eintritt des wesentlichen Nachteils im Sinne einer objektiven und konkreten Gefahr unmittelbar bevorsteht (Keller, a.a.O., § 86b RdNr. 27a). Dabei wird der Sachverhalt gemäß § 103 SGG von Amts wegen unter Heranziehung der Beteiligten ermittelt, soweit dies unter Berücksichtigung der Eilbedürftigkeit des Rechtsschutzbegehrens geboten ist (vgl. Krodel, NZS 2002, 234 ff.; Finkelnburg/Jank, a.a.O., RdNrn. 152, 338; jeweils m.w.N.).

Streitgegenstand des vorliegenden Beschwerdeverfahrens sind die von der Antragstellerin begehrten Leistungen nach dem SGB II ab Antragstellung beim Antragsgegner. Da der Leistungsantrag der Antragsteller am 26.09.2013 gestellt wurde, wirkt dieser gemäß § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II auf den 01.09.2013 zurück. Aufwendungen für ihre Unterkunft hatten die Antragsteller ausweislich des Mietvertrages vom 01.10.2013 frühestens ab diesem Datum.

Die Antragstellern erfüllen die Voraussetzungen der §§ 7-9 SGB II, denn sie sind älter als 15 Jahre, ohne die Altersgrenze des § 7a SGB II schon erreicht zu haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig. Als freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger ist ihnen ohne Weiteres die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt; einer Freizügigkeitsbescheinigung bedarf es seit 29.01.2013 nicht mehr (Artikel 1 Nr. 1 Buchst. c des Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer aufenthaltsrechtlicher Vorschriften vom 21.01.2013, BGBl. I S. 86). Auf dieser Grundlage übt die Antragstellerin zu 1 seit 01.03.2014 eine (geringfügige) Beschäftigung aus, so dass die Voraussetzungen des § 8 Abs. 2 SGB II vorliegen, weil die rechtliche Möglichkeit, eine Beschäftigung vorbehaltlich einer Zustimmung nach § 39 des Aufenthaltsgesetzes aufzunehmen, ausreicht (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R, juris, RdNr. 15 m.w.N.).

Die Antragsteller haben seit 02.07.2013 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners. Dass die Antragsteller sich rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhalten, ergibt sich aus § 5 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Abs. 4 FreizügG/EU verfügt. Denn es entspricht der gesetzlichen Konzeption des Freizügigkeitsrechts, von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts auszugehen, solange die Ausländerbehörde nicht von ihrer Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, den Verlust oder das Nichtbestehen des Aufenthaltsrechts nach § 5 Abs. 7 FreizügG/EU festzustellen (vgl. BSG, Urteil vom 19.10.2010 – B 14 AS 23/10 R, RdNr. 14, m.w.N.; vgl. auch Schreiber, Europäische Sozialrechtskoordinierung und Arbeitslosengeld II-Anspruch, NZS 2012, 647, 649). Auch ist dem Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II i.V.m. § 30 Abs. 3 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) kein zusätzliches rechtliches Erfordernis zum Aufenthaltsstatus zu entnehmen (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.2013, a.a.O., RdNrn. 18-19).

Die Antragsteller halten sich auch schon länger als drei Monate in der Bundesrepublik Deutschland auf, so dass sie seit 02.10.2013 nicht mehr gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen ist. Nach jener Vorschrift sind vom Leistungsbezug Ausländerinnen und Ausländer ausgenommen, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts. Dieser Leistungsausschluss erfolgt in Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Amtsblatt der Europäischen Union (ABl. EU) L 158, berichtigt in ABl. EU L 229 S. 35; in Folgenden: Richtlinie 2004/38/EG) durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007 (BGBl. I S. 1970), um vor allem die zuvor nicht erfassten Unionsbürger in diesen Leistungsausschluss einzubeziehen (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 37/12 R, RdNr. 22, m.w.N.).

Darüber hinaus sind die Antragsteller nicht gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift erhalten Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, keine Leistungen nach dem SGB II. Der Senat geht davon aus, dass dieser Ausschlusstatbestand gegen höherrangiges Recht, nämlich Art. 18 und 21 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) bzw. den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 4 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. EU L 166, S. 1 ff. (VO (EG) Nr. 883/2004)) verstößt, soweit freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger betroffen sind (vgl. Beschlüsse des Senat vom 14.04.2014 – L 7 AS 239/14 B ER, vom 21.10.2013 – L 7 AS 1144/13 B ER und vom 31.01.2013 – L 7 AS 964/12 B ER, RdNrn. 28-62, alle bei juris). Die dortigen Erwägungen treffen in vollem Umfang auch auf den Fall der hiesigen Antragsteller zu.

Hinzu kommt, dass inzwischen auch das BSG in seinem Vorlagebeschluss vom 12.12.2013 (B 4 AS 9/13 R, RdNr. 37) zu der Auffassung gelangt ist, dass – wenn eine Anwendbarkeit des Gleichbehandlungsgebots des Art. 4 VO (EG) 883/2004 auch auf beitragsunabhängige besondere Geldleistungen zu bejahen ist – die nationale Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unmittelbar diskriminierend ist. Zudem ordnet es mittlerweile Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II als Sozialhilfeleistungen i.S.d. Richtlinie 2004/38/EG ein (BSG, Beschluss vom 12.12.2013, a.a.O., RdNr. 41) und hat weiter ausgeführt, dass unabhängig von einem möglichen Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 die spezifischen Freizügigkeitsrechte der betroffenen Unionsbürger als Arbeitssuchende ihrem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II entgegenstehen könnten (a.a.O., RdNr. 44). Nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 19.09.2013 – C-140/12 ("Brey", juris, Ziff. 80) ist festzustellen, dass § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB II eine Einzelfallprüfung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit für wirtschaftlich aktive Unionsbürger weder in zeitlicher Hinsicht noch bezüglich der Verbindung zum innerstaatlichen Arbeitsmarkt noch eine Prüfung der Belastungen für das Sozialsystems vorsieht, obwohl der EuGH selbst bei wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürgern einen Ausschluss von Sozialleistungen ohne Einzelfallprüfung und ohne Prüfung der Belastungen für das Sozialhilfesystem für nicht europarechtskonform erachtet (ebenso: HessLSG, Beschluss vom 30.09.2013 – L 6 AS 433/13 B ER, RdNrn. 25 ff.; BayLSG, Beschluss vom 19.11.2013 – L 7 AS 753/13 B ER, insbesondere RdNr. 23; HessLSG, Urteil vom 20.09.2013 – L 7 AS 474/13, RdNr. 29, alle juris; Fuchs, ZESAR 2014, S. 103, 111; vgl. auch Behrend, jurisPR-SozR 3/2014, Anm. 1; Janda, ZFSH/SGB 2013, S. 453, 460). Damit dürfte spätestens nach dem Vorlagebeschluss des BSG vom 12.12.2013 (a.a.O.) eine Verneinung eines Anordnungsanspruchs im Hinblick auf § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II im Verfahren nach § 86b Abs. 2 SGG nicht mehr in Betracht kommen, wenn die Leistungsvoraussetzungen im Übrigen glaubhaft gemacht worden sind (so auch Tischler, jurisPR-SozR 8/2014 Anm. 2, Ziff. D).

An der seiner Rechtsprechung hält der Senat im Übrigen auch in Ansehung der Gründe des Beschlusses des Sozialgerichts und des Vortrages des Antragsgegners im Beschwerdeverfahren fest. Der vom Sozialgericht angeführte Verstoß gegen das Prinzip der Gewaltenteilung liegt tatsächlich nicht vor, weil die zu beachtende Normenhierarchie dem Willen des (Verfassungs-)Gesetzgebers entspricht. So regelt Artikel 23 Abs. 1 Grundgesetz ((GG) davor Artikel 24 GG) die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union, deren primäres und sekundäres Recht in den Mitgliedsstaaten unmittelbar geltendes Recht darstellt (st. Rspr. seit der Entscheidung des EuGH vom 05.02.1963 – Rs. 26/62, "Van Gend en Loos", Slg. 1963, 1; vgl. auch Tischler, a.a.O., Ziffer D). Für den Anwendungsvorrang des europäischen Gemeinschaftsrechts in der Bundesrepublik Deutschland ist dies seit dem Beschluss des Bundesverfassungsgericht vom 22.10.1986 ("Solange-II" – 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339-388 und juris) geklärt. Denn das Bundesverfassungsgericht hat Folgendes entschieden (a.a.O., RdNr. 98): "Ein innerstaatlicher Geltungs- oder Anwendungsvorrang ergibt sich allein aus einem dahingehenden innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl, und zwar auch bei Verträgen, die ihrem Inhalt zufolge die Parteien dazu verpflichten, den innerstaatlichen Geltungs- oder Anwendungsvorrang herbeizuführen. Art. 24 Abs. 1 GG ermöglicht es indessen von Verfassungs wegen, Verträgen, die Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen, und dem von solchen Einrichtungen gesetzten Recht Geltungs- und Anwendungsvorrang vor dem innerstaatlichen Recht der Bundesrepublik Deutschland durch einen entsprechenden innerstaatlichen Anwendungsbefehl beizulegen. Dies ist für die europäischen Gemeinschaftsverträge und das auf ihrer Grundlage von den Gemeinschaftsorganen gesetzte Recht durch die Zustimmungsgesetze zu den Verträgen gemäß Art. 24 Abs. 1, 59 Abs. 2 Satz 1 GG geschehen. Aus dem Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes zum EWG-Vertrag, der sich auf Art. 189 Abs. 2 EWGV erstreckt, ergibt sich die unmittelbare Geltung der Gemeinschaftsverordnungen für die Bundesrepublik Deutschland und ihr Anwendungsvorrang gegenüber innerstaatlichem Recht."

Diesem europarechtlichen Anwendungsvorrang haben auch die deutschen Gerichte Geltung zu verschaffen. Denn darin liegt weder ein Eingriff in Gesetzgebungs- noch in anderweitige Rechtsprechungskompetenzen. Die (möglicherweise) europarechtswidrige innerstaatliche Norm bleibt nämlich nur insoweit unangewendet, soweit im Einzelfall freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger betroffen sind. Sobald – etwa aufgrund einer Vorabentscheidung des EuGH – feststeht, dass die fragliche Norm (hier: § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II) europarechtswidrig ist, ist es Aufgabe des nationalen Gesetzgebers, diesen Widerspruch von Unionsrecht und innerstaatlichem Recht zu beseitigen.

Die Antragsteller unterfallen dem persönlichen Geltungsbereich der VO (EG) 883/2004. Nach Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 gilt diese Verordnung für Staatsangehörige eines Mitgliedsstaates, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedsstaaten gelten oder galten sowie für ihre Familienangehörigen. Nach der Rechtsprechung des BSG (Beschluss vom 12.12.2013, a.a.O., RdNr. 32) sind "Rechtsvorschriften" nach Art. 1 Buchst. l VO (EG) 883/2004 für jeden Mitgliedsstaat die Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durchführungsvorschriften in Bezug auf die in Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 genannten Zweige der sozialen Sicherheit. Damit wird ein Bezug des Betreffenden zu einem Sozialversicherungs- oder Familienleistungssystem in einem der Mitgliedsstaaten gefordert (BSG, Beschluss vom 12.12.2013, a.a.O., RdNr. 32). Der persönliche Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 ist bereits deshalb eröffnet, weil für die Antragsteller die bundesdeutschen Rechtsvorschriften gemäß Art. 1 Buchst. l i.V.m. Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der VO (EG) 883/2004 über Leistungen bei Krankheit gelten und er ausweislich der Bescheinigung der AOK Plus vom 24.07.2013 bei dieser seit 16.07.2013 gesetzlich krankenversichert war (vgl. auch Stellungnahme der Europäischen Kommission in dem Verfahren vor dem EuGH C 333/13 vom 27.09.2013, RdNr. 69).

Darüber hinaus ist die Antragstellerin zu 1 geringfügig beschäftigt, so dass sie auch als Arbeitnehmerin dem Grunde nach in den Genuss der Leistungen nach dem SGB II kommt. Das von ihr erzielte Einkommen ist gemäß §§ 11 ff. SGB II auf ihren Bedarf anzurechnen. Angesichts dessen und der dem EuGH vorgelegten Rechtsfragen ist davon auszugehen, dass die Antragsteller einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht haben.

Auch einen Anordnungsgrund haben die Antragsteller glaubhaft gemacht, da sie über keine ausreichenden finanziellen Mittel verfügen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Allerdings ist hier zwischen den begehrten Leistungen für ihren Bedarf für Unterkunft und Heizung einerseits und den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts andererseits zu unterscheiden.

Zwar besteht grundsätzlich ein Anordnungsgrund nicht für Leistungszeiträume vor Stellung des Antrags auf einstweilige Anordnung beim Sozialgericht (st. Rspr.; z.B. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 04.05.2007 – L 13 AS 32/06 ER). Soweit Leistungen für einen im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch nicht abgelaufenen Zeitraum beansprucht werden, ist ein Anordnungsgrund regelmäßig gegeben (SächsLSG, Beschlüsse vom 08.11.2012 – L 3 AS 1118/11 – und vom 17.09.2007 – L 2 B 291/07 AS-ER). Sofern – wie hier – für einen zu diesem Zeitpunkt in der Vergangenheit liegenden Zeitraum Leistungen geltend gemacht werden, ist ein Anordnungsgrund nur dann zu bejahen, wenn noch ein gegenwärtiger schwerer unzumutbarer Nachteil besteht, der glaubhaft gemacht wird (SächsLSG, Beschluss vom 08.11.2012, a.a.O.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12.04.2006 – L 10 B 136/06 AS-ER). Ein solcher ist nur gegeben, wenn ein besonderer Nachholbedarf besteht, d.h. wenn die Nichtgewährung der begehrten Leistungen in der Vergangenheit in Zukunft fortwirkt und eine weiterhin gegenwärtige, die einstweilige Anordnung rechtfertigende Notlage begründet (Phillip, NVwZ 1984, 489; Knorr, DÖV 1981, 79; SächsOVG, Beschluss vom 19.08.1993 – 2 S 183/93, SächsVBl. 1994, 114, 115; OVG NRW, Beschluss vom 06.05.1980 – 8 B 1376/79, DÖV 1981, 302). Dies kann gegeben sein, wenn der Antragsteller zur Bestreitung des notwendigen Lebensunterhalts Verbindlichkeiten eingegangen ist, deren Tilgung unmittelbar bevorsteht (SächsLSG, Beschluss vom 21.01.2008 – L 2 B 621/07 AS-ER; SächsOVG, a.a.O. m.w.N.).

Einen fortbestehenden schweren unzumutbaren Nachteil aus der Nichtgewährung der Leistungen für den zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in der Vergangenheit liegenden Zeitraum haben die Antragsteller vorliegend jedenfalls für die beantragten Leistungen für ihre Unterkunft in Höhe von 309,53 EUR glaubhaft gemacht. Dass diese Aufwendungen der Höhe nach unangemessen wären, ist nicht ersichtlich. So bestehen seit 01.10.2013 Mietrückstände beim Vermieter in Höhe von 2.146,71 EUR, die die Antragsteller nicht aus eigener Kraft tilgen können. Da sie auch nicht darauf verwiesen werden können, ggf. übergangsweise bei der Familie ihrer Tochter zu wohnen, weil diese selbst nicht über ausreichenden Wohnraum für sich und ihre Familie verfügt, ist aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalls zur Sicherung der Unterkunft der Antragsteller auch deren Bedarf für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II, auch soweit er vor dem Eingang des Antrages auf Erlass eine einstweiligen Anordnung am 07.02.2014 entstanden war, vorläufig zu übernehmen. Dabei hat die Einzelrichterin des Senats berücksichtigt, dass die Mietrückstände beim Vermieter überwiegend zu einer Zeit entstanden sind, als die Antragsteller auch aufgrund des Beschlusses des BSG vom 12.12.2013 eher mit einer gerichtlichen Entscheidung zu ihren Gunsten als zu ihren Lasten rechnen durften. Die vorläufige Übernahme der Mietkaution als Darlehen durch den Antragsgegner beruht auf § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II. Die Direktzahlung der rückständigen Miete an den Vermieter ist in § 22 Abs. 7 SGB II vorgesehen und entspricht dem Interesse der Antragsteller, da auf diesem Wege am schnellsten eine drohende Herausgabe der Wohnung zum 08.05.2014 verhindert werden kann.

Anders verhält es sich mit den begehrten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, also dem Regelbedarf für die Antragsteller in Höhe von jeweils monatlich 353,00 EUR. Insoweit haben die Antragsteller einen Nachholbedarf nicht glaubhaft gemacht, insbesondere nicht, dass ihre Tochter sie in der Vergangenheit nur darlehensweise unterstützt hätte. Daher hat der Antrag der Antragsteller keinen Erfolg, soweit auch der Regelbedarf für die Zeit ab 01.09.2013 bzw. 07.02.2014 gemäß § 86b Abs. 2 SGG vorläufig begehrt wird.

Bei der Dauer der vorläufigen Bewilligung im Wege der einstweiligen Anordnung für laufende Zeiträume hat die Einzelrichterin des Senats berücksichtigt, dass der ursprüngliche Bewilligungszeitraum von sechs Monaten für den Antrag vom 26.09.2013 bereits am 31.01.2014 abgelaufen gewesen wäre. Das entsprechende Hauptsacheklageverfahren S 23 AS 561/14 bezieht sich auf die Zeit der Leistungsablehnung bis zu einem neuen (Weiterbewilligungs-)Antrag und dürfte wegen der vom EuGH zu klärenden Rechtsfragen einige Zeit in Anspruch nehmen. Die Antragsteller haben nun Gelegenheit, im Mai 2014 einen Folgeantrag zu stellen und gegenüber dem Antragsgegner aktuelle Angaben zu den Einkommensverhältnissen, die sich z.B. aufgrund der Bewerbungsbemühungen auch des Antragstellers zu 2 jederzeit ändern könnten, zu machen. In Anbetracht von § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) steht dann einer vorläufigen Bewilligung von Leistungen durch den Antragsgegner nichts entgegen, wenn die übrigen Leistungsvoraussetzungen weiterhin vorliegen. Der Zugang zu Eingliederungsleistungen könnte schon allein aufgrund der Unionsbürgerschaft der Antragsteller erfolgen (vgl. EuGH, Urteil vom 25.10.2012 – Rs. C-367/11, "Prete", juris, Ziff. 49).

Da es sich um existenzsichernde Leistungen handelt, also ein grundrechtsrelevanter Bereich betroffen ist, und der Senat von der Europarechtswidrigkeit der Ausschlussnorm in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bezogen auf freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger aus den o.g. Gründen überzeugt ist, steht einer (vorläufigen) Vorwegnahme der Hauptsache nichts entgegen.

Auf den Vorbehalt der Bundesregierung zum EFA-Abkommen kommt es nach der hier vertreten Auffassung nicht an. Angesichts der Auffassung des Senats kommt auch ein Anspruch auf Sozialhilfe nicht in Betracht (vgl. Beschluss des Senats vom 31.01.2013 – L 7 AS 964/12 B ER, a.a.O., RdNr. 66 m.w.N.).

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).

Wagner Richterin am LSG
Rechtskraft
Aus
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