S 10 AS 18/13

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
10
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 10 AS 18/13
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 534/14 NZB
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Das Sanktionsregime des SGB II ist – jedenfalls für Sanktionen bis zu 30 % – von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.
2. Aus dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums folgt kein Anspruch auf ein bedingungsloses Grundeinkommen.
1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

3. Die Berufung wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen einen Sanktionsbescheid.

Ihr bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 28.08.2012 Leistungen nach dem SGB II für die Zeit von September 2012 bis einschließlich Februar 2013.

Mit eine Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsakt vom 17.07.2012, welcher per Postzustellungsurkunde am 18.07.2012 zugestellt wurde, wurde die Klägerin unter anderem verpflichtet, in der Zeit ab 02.08.2012 pro Monat zumindest zwei Bewerbungsbemühungen zu unternehmen und unaufgefordert alle drei Monate, erstmals spätestens am 01.11.2012, einen Nachweis darüber vorzulegen. Dem kam die Klägerin nicht nach.

Mit Schreiben vom 05.11.2012 hörte der Beklagte die Klägerin zu einer beabsichtigten Sanktion an, weil die Klägerin ihre Eigenbemühungen nicht nachgewiesen habe. Es sei beabsichtigt, den Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 30 % des Regelbedarfs für die Zeit vom 01.12.2012 – 28.02.2013 abzusenken.

Die Klägerin hat auf die Anhörung nicht reagiert.

Mit Bescheid vom 20.11.2012 setzte der Beklagte die Sanktion um.

Dagegen erhob die Klägerin mit Schreiben vom 14.12.2012 Widerspruch. Zur Begründung führte sie aus, dass sie in der Zeit vom 15.10.2012 bis 21.11.2012 arbeitsunfähig erkrankt gewesen sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 27.12.2012 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Zur Begründung führte er aus, selbst wenn man die Arbeitsunfähigkeit als geeigneten Nachweis dafür ansehen wolle, dass es der Klägerin nicht möglich gewesen sei, zwei Bewerbungsbemühungen nachzuweisen, liege jedenfalls im Zeitraum 02.08. – 01.09.2012 und 02.09. – 01.10.2012 ein entsprechender Pflichtverstoß vor, so dass die Voraussetzungen für eine Minderung des Arbeitslosengeldes erfüllt gewesen seien.

Dagegen hat die Klägerin am 10.01.2013 Klage zum SG Kassel erhoben. Die Klägerin verfolgt ihr Anliegen weiter. In der Klagebegründung trägt die Klägerin vor, aus medizinischen Gründen gehindert gewesen zu sein, Bewerbungsbemühungen vorzunehmen und nachzuweisen.

Die Klägerin beantragt (wörtlich):
1. Der Bescheid der Beklagten vom 20.11.2012, in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.12.2012, zugegangen am 28.12.2012, wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verpflichtet, die Leistungen des SGB II für den Zeitraum vom 01.12.2012 bis 28.02.2013 ungekürzt an die Klägerin auszuzahlen.

Der Beklagte beantragt:
Die Klage abzuweisen.

Er verteidigt den angegriffenen Sanktionsbescheid.

Mit Verfügung vom 12.02.2013 hat das Gericht die Klägerin darauf hingewiesen, dass die Klage auf der Basis des aktuellen Sach- und Streitstandes keine Aussicht auf Erfolg hat. Der Klägerin wurde aufgegeben, ein ärztliches Attest vorzulegen, aus dem sich ergibt, dass sie ihren Verpflichtungen aus der durch Verwaltungsakt umgesetzten Eingliederungsvereinbarung aus medizinischen Gründen nicht nachkommen konnte.

Mit Schreiben vom 07.05.2013 legte die Klägerin eine Bescheinigung ihrer Arbeitsunfähigkeitszeiten vom 22.10.2012 bis 07.05.2013 vor.

Auf den Hinweis des Gerichts vom 22.05.2013, dass die Bescheinigung nicht geeignet sei, den Nachweis dafür zu führen, dass die Klägerin ihre Pflichten aus der Eingliederungsvereinbarung nicht habe nachkommen können, hat sie mit Schreiben vom 21.06.2013 eine Bescheinigung der Gemeinschaftspraxis der Ärztin für Allgemeinmedizin/Palliativmedizin/Psychotherapie/Akupunktur Dr. C., des Arztes für Allgemeinmedizin/Tauchmedizin Dr. D. und Arzt für Allgemein/Naturheilverfahren Dr. E. vom 19.06.2013 mit folgendem Inhalt vorgelegt:

Pat war vom 15.10. – 21.11.2012 arbeitsunfähig erkrankt und sah sich aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage, das Jobcenter aufzusuchen.

Mit Schreiben vom 24.06.2013 hat das Gericht die Klägerin darauf hingewiesen, dass das vorgelegte Attest nicht geeignet sei, eine andere Bewertung der Sach- und Rechtslage zu begründen. Dies gelte insbesondere, weil die Klägerin nicht für die Versäumung eines Meldetermins sanktioniert worden sei, sondern weil sie keine zwei Eigenbemühungen im Monat nachgewiesen habe.

Mit Schreiben vom 16.07.2013 hat sich – nach erfolgtem Anwaltswechsel – die jetzige Prozessbevollmächtigte der Klägerin gemeldet und vorgetragen, die Klägerin habe sich in dem geforderten Umfang beworben. Der Nachweis sei nur deshalb nicht geführt worden, weil die Klägerin "zum fraglichen Zeitpunkt krankgeschrieben war". Auch stünden der Klägerin, weil sie Leistungen nach dem SGB II beziehe, kein Faxgerät und kein Kopierer oder Scanner zur Verfügung. Eine Liste der Bewerbungen könne aber nachgereicht werden. Insgesamt sei das Sanktionsrecht verfassungswidrig.

Mit Verfügung vom 14.08.2013 hat die Kammer der Klägerin unter Fristsetzung aufgegeben, binnen zwei Wochen einen Nachweis für die Bewerbungsbemühungen zu erbringen. Die Kammer hat weiterhin darauf hingewiesen, dass weder abstrakte Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des Sanktionsregimes im Allgemeinen noch in dessen konkreter Anwendung auf den Einzelfall bestünden.

Mit Schreiben vom 21.08.2013 hat die Klägerin eine Liste vorgelegt, aus der sich ihre Bewerbungsbemühungen für die Zeit von August bis Dezember 2012 ergeben sollen. Der Liste ist weder zu entnehmen, wann genau entsprechende Bewerbungen erfolgt sind, noch in welcher Form.

Mit Beschluss vom 01.10.2013 hat die Kammer den Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt und u.a. ausgeführt:

Die Kammer hat keine Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der Sanktionsvorschriften des SGB II. Es bestehen weiterhin keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des Einzelaktes. Den vorgeworfenen Pflichtverstoß hat die Klägerin selbst eingeräumt. Gründe, die den Pflichtverstoß zu rechtfertigen vermögen, sind weder ersichtlich noch vorgetragen.

Mit Schreiben vom 01.11.2013 hat die Prozessbevollmächtigte der Klägerin ihre verfassungsrechtlichen Bedenken vertieft. Im Hinblick darauf, dass die Differenzen vorliegend im rechtlichen und nicht tatsächlichen Bereich lägen, hat die Bevollmächtigte angeregt, im schriftlichen Verfahren zu entscheiden.

Auf Nachfrage des Gerichts hat der Beklagte mit Schreiben vom 19.11.2013 seine Zustimmung zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erteilt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Rechtsstreit konnte gem. § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, nachdem die Klägerin eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren ausdrücklich beantragt und der Beklagte seine Zustimmung zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erteilt hat.

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid vom 20.11.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.12.2012 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in subjektiven Rechten.

Zur Begründung wird zunächst inhaltlich auf den Widerspruchsbescheid Bezug genommen, da dieser die Sach- und Rechtslage vollständig und richtig darstellt und die Kammer seiner Begründung folgt, so dass zur Vermeidung von Wiederholungen gem. § 136 Abs. 3 SGG die Bezugnahme geboten ist.

Ergänzend weist die Kammer darauf hin, dass sie die verfassungsrechtlichen Bedenken der Klägerin gegen das Sanktionsregime des SGB II nicht teilt. Das Bundessozialgericht hat sich zur Frage der Verfassungsmäßigkeit von Sanktionen bereits im Urteil vom 09.11.2010 (B 4 AS 27/10 R, juris, Rn. 34) geäußert und Folgendes ausgeführt:

"Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Absenkung des Alg II für den hier auf vier Monate begrenzten Zeitraum vom 1.11.2007 bis 29.2.2008 um 20 vH bzw 30 vH der für den Kläger maßgebenden Regelleistung bestehen im hier zu entscheidenden Fall nicht. Die für eine wiederholte Verletzung der Meldepflicht vorgesehenen Sanktionen sind wegen der damit verbundenen Absenkung des Leistungsniveaus vorliegend allein an dem aus Art 1 Abs 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip des Art 20 Abs 1 GG hergeleiteten Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zu messen (BVerfG Urteil vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - BVerfGE 125, 175, 223 = NJW 2010, 505, 508; BVerfG Nichtannahmebeschluss vom 7.7.2010 - 1 BvR 2556/09 - NJW 2010, 2866, 2868). Durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken bestehen hier nach Überzeugung des Senats bereits deshalb nicht, weil die Beklagte dem Kläger nach dem konkreten Geschehensablauf im streitigen Zeitraum bereits mit dem Bescheid vom 2.11.2007 ergänzende Sachleistungen "in angemessenem Umfang" angeboten und der Kläger von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hat. Es bedurfte vor diesem Hintergrund hier keiner Entscheidung darüber, ob die gesetzlich geregelten Absenkungsmöglichkeiten als ein dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns genügender Ausdruck der verfassungsrechtlich bestehenden Selbsthilfeobliegenheit als Kehrseite der Gewährleistungspflicht des Staates anzusehen sind."

Auch wenn der Klägerin im vorliegenden Verfahren keine Sachleistungen beispielsweise in Form von Lebensmittelgutscheinen angeboten wurden, sieht die Kammer keine Veranlassung zu einer anderen Bewertung zu kommen.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem grundlegenden Urteil vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09 u.a., juris) die herausragende Bedeutung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG herausgearbeitet. Bereits aus dem Leitsatz 1b der Entscheidung der 3. Kammer des 1. Senates vom 07.07.2010 (1 BvR 2556/09, juris) ergibt sich indessen, dass die Verfassung es nicht gebietet, Sozialleistungen bedarfsunabhängig und voraussetzungslos zu gewähren (dem BVerfG insoweit folgend S. KNICKREHM/HAHN, in: Eicher, SGB II, 3. Aufl. 2013, § 31 Rn. 7; BERLIT, in: LPK-SGB II, 5. Aufl. 2013, § 31 Rn. 13).

Das Gericht hat keinen Zweifel, dass es dem parlamentarischen Gesetzgeber gestattet ist, den Leistungsumfang nach dem SGB II normativ zu begrenzen. Aus der Verfassung lässt sich kein Anspruch auf ein bedingungsloses Grundeinkommen herleiten (BERLIT, info also 2013, 195 [199] m.w.N). Die gegenteilige Ansicht (NESKOVIC/ERDEM, SGb 2012, 134 ff. u. 326 ff.; NESKOVIC, info also 2013, 205 f.) verkennt, dass es sich bei dem Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht um ein klassisches, staatsgerichtetes Abwehrgrundrecht handelt (überzeugend BURKICZAK, SGb 2012, 324 ff.; BERLIT, info also 2013, 195 [197] m.w.N.). Das Bundesverfassungsgericht hat das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht ausschließlich und unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG entwickelt, sondern betont, dass dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip herzuleiten ist. Es verbietet sich daher, insoweit einen absoluten, nicht einschränkbaren Geltungsanspruch einzufordern. Bei Sanktionen handelt es sich im Übrigen bereits grundrechtsdogmatisch nicht um einen Eingriff, sondern um eine abgesenkte Form der Leistungsgewährung (BERLIT, info also 2013, 195 [198] m.w.N).

Nicht entschieden werden muss an dieser Stelle, ob Fälle denkbar sind, in denen gebundene Sanktionsentscheidungen im Wege der verfassungskonformen Auslegung (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz) zu korrigieren sind (in dieser Richtung S. KNICKREHM, in: Kommentar zum Sozialrecht, Kreikebohm/Spellbrink/Waltermann [Hrsg.], SGB II, § 31a Rn. 13; vgl. auch S. KNICKREHM/HAHN, in: Eicher, SGB II, 3. Aufl. 2013, § 31a Rn. 34 m.w.N., zu verfassungsrechtlichen Bedenken insbesondere gegen 100%-Sanktionen). Denn im vorliegenden Fall ist die Sanktionierung offensichtlich verhältnismäßig.

Die Klage konnte daher keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache. Gem. § 183 S. 1 SGG ist das Verfahren für die Klägerin gerichtskostenfrei.

Vorliegend hätte die Berufung gem. § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG der Zulassung durch die Kammer bedurft. Die Rechtssache hat aber weder grundsätzliche Bedeutung – nachdem das BSG die Frage bereits entschieden hat – noch wird mit dem vorliegenden Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des gemeinsamen Senates der obersten Bundesgerichte oder des Bundesverfassungsgerichts abgewichen, so dass die Voraussetzungen für eine Zulassung nicht vorlagen.
Rechtskraft
Aus
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