S 10 AS 4323/14 ER

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
10
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 10 AS 4323/14 ER
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
- Kein Leistungsausschluss für EU-Ausländer bei einem Aufenthalt als Arbeitnehmer.
- Zu den Kriterien, nach denen eine Beschäftigung als „völlig untergeordnet und unwesentlich“ im Sinne der EuGH-Rechtsprechung zu beurteilen ist.
1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für die Zeit vom 11. Dezember 2014 bis zum 31. Mai 2015 den Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu gewähren.

2. Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

Gründe:

Der zulässige Antrag vom 11.12.2014, mit dem die Antragstellerin b. Staatsangehörigkeit die vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners begehrt, ihr den Regelbedarf nach § 20 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu gewähren, ist auch begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, d.h. einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft zu machen.

Bei der Prüfung des Anordnungsanspruchs sind die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Jedenfalls dann, wenn die Erfolgsaussichten in der Hauptsache nach überschlägiger Prüfung deutlich überwiegen, liegt ein Anordnungsanspruch vor, wobei aber auch in diesem Fall nicht auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG-Komm., 11. Aufl. 2014, § 86b Rn. 29). Andererseits fehlt es am Anordnungsanspruch, wenn Widerspruch oder Klage offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet sind. Letztlich ist bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- oder Rechtslage im einstweiligen Rechtsschutz nicht möglich ist, im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher zuzumuten ist. Dabei sind grundrechtliche Belange der Antragsteller umfassend in der Abwägung zu berücksichtigen. Insbesondere bei Ansprüchen, die darauf gerichtet sind, als Ausfluss der grundrechtlich geschützten Menschenwürde das soziokulturelle Existenzminimum zu sichern (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz), ist ein nur möglicherweise bestehender Anordnungsanspruch dann, wenn er eine für die soziokulturelle Teilhabe unverzichtbare Leistungshöhe erreicht und nicht absehbar ist, dass kurzfristig die notwendige Klärung über das Vorliegen des Anspruches herbeigeführt werden kann, in der Regel vorläufig zu befriedigen, wenn sich die Sach- oder Rechtslage im Eilverfahren nicht vollständig klären lässt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05).

Vorliegend hat die Antragstellerin nach diesem Maßstab sowohl Anordnungsanspruch (I.) als auch Anordnungsgrund (II.) glaubhaft gemacht.

I. Die Antragstellerin hat nach dem Erkenntnisstand des Eilverfahrens einen Anspruch auf den allein beantragten Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach § 20 SGB II.

Anspruch auf Arbeitslosengeld II, darunter den Regelbedarf (§ 19 Abs. 1 Satz 3 SGB II), haben nach § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB II erwerbsfähige Leistungsberechtigte. Erwerbsfähige Leistungsberechtigte sind nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II Personen, die 1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben, 2. erwerbsfähig sind, 3. hilfebedürftig sind und 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben.

Die 1988 geborene Antragstellerin hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht.

Sie ist auch erwerbsfähig. Nach § 8 Abs. 2 SGB II können Ausländerinnen und Ausländer nur erwerbsfähig sein, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. Als bulgarische Staatsangehörige benötigt die Antragstellerin wegen der ihr zustehenden uneingeschränkten Arbeitnehmerfreizügigkeit zur Beschäftigungsaufnahme keine Arbeitsgenehmigung (vgl. BSG, Beschluss vom 12.12.2013 – B 4 AS 9/13 R). Ihr ist als freizügigkeitsberechtigter Unionsbürgerin die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt.

Nach derzeitigem Erkenntnisstand bestehen auch an der Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin keine durchgreifenden Zweifel. Die Antragstellerin hat im Verwaltungsverfahren erklärt, über kein Vermögen zu verfügen und ein Netto-Einkommen von 150 EUR monatlich als Aushilfskraft bei der Fastfood-Kette "L." nachgewiesen. Soweit in dem zuletzt von der Antragstellerin übersandten, von ihr am 29.09.2014 unterschriebenen und offenbar für die Entgeltunterlagen des Arbeitgebers nach § 8 Abs. 2 Nr. 7 Beitragsverfahrensordnung bestimmten "Feststellungsbogen" die Tätigkeit bei "L." als "weiterer Minijob" bezeichnet wird, hat die Tante der Antragstellerin dem Vorsitzenden gegenüber telefonisch erklärt, dass die Antragstellerin tatsächlich lediglich dieser einen Beschäftigung nachgehe; die Antragstellerin selbst hat im Telefonat den Umfang mit "zehn Stunden in der Woche" bezeichnet. Auch ergibt sich aus den beigereichten Abrechnungen, dass die im Feststellungsbogen als "Arbeitgeber 1" genannte Frau E.C. die Filiale des "L." (als "Arbeitgeber 2" bezeichnet) in der S. führt. Der Feststellungsbogen dürfte mithin lediglich missverständlich ausgefüllt worden sein und tatsächlich keine Mehrfachbeschäftigung vorliegen. Den Umstand, dass bei der von der Antragstellerin genannten wöchentlichen Arbeitszeit ein höherer Monatslohn zu erwarten sein sollte, mag der Antragsgegner zum Anlass nehmen, bei Umsetzung dieses Beschlusses weitere Ermittlungen zum Einkommen durchzuführen, ggf. durch eine Arbeitgeberanfrage.

Die Antragstellerin hat auch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Der gewöhnliche Aufenthalt ist nach der Legaldefinition in § 30 Abs. 3 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch dort begründet, wo sich jemand unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Die Antragstellerin hält sich nicht nur vorübergehend in der Bundesrepublik auf. Sie ist nach eigenen Angaben am 08.08.2014 aus B. nach D. eingereist und wohnt seither bei ihrer Tante in H. (s. auch Meldebestätigung des Bezirksamtes E. vom 11.08.2014, Bl. 10 Verwaltungsakte), hat also in H. eine Unterkunft. Sie hat zudem im Leistungsantrag angegeben, wegen mangelnder Aussichten auf einen Arbeitsplatz ihre Heimat verlassen und sich für ein Leben in D. entschieden zu haben. Hinzu tritt, dass die Antragstellerin werktags einen Deutschkurs belegt und am Wochenende den bereits genannten Aushilfsjob ausübt. Es liegen damit in der Gesamtschau hinreichende objektive Momente vor, die im Wege einer vorausschauenden Prognose auf ein längeres Verweilen der Antragstellerin in D. schließen lassen.

Letztlich ist die Antragstellerin auch nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 3 SGB II von Leistungen ausgeschlossen.

Danach sind von Leistungen ausgenommen 1. Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts, 2. Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen, 3. Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.

Die Antragstellerin, die Ausländerin im Sinne dieser Vorschrift und offenkundig nicht leistungsberechtigt nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ist, kann sich nach summarischer Prüfung auf ein Aufenthaltsecht als Arbeitnehmerin berufen und unterfällt daher im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II nicht dem Leistungsausschluss.

Ihr Recht zum Aufenthalt dürfte sich aus § 2 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) ergeben. Danach sind unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt u.a. Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer aufhalten wollen. Auf die – weiterhin in Rechtsprechung und Literatur umstrittene – Frage der Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses für bloße Arbeitsuchende nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit Unionsrecht kommt es daher vorliegend nicht an (s. dazu zuletzt EuGH, Urteil vom 11.11.2014 – C-333/13 – Dano, und das noch anhängige Vorabentscheidungsverfahren des BSG vom 12.12.2013 – B 4 AS 9/13 R –, Az. beim EuGH: C -67/14; für die Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bei "wirtschaftlich inaktiven Unionsbürgern" s. zuletzt LSG Hamburg, Beschluss vom 01.12.2014 – L 4 AS 444/14 B ER; weitergehend, für die Zulässigkeit des Leistungsausschlusses und unter ausdrücklicher Bezugnahme auf EuGH vom 11.11.2014 im Falle des Aufenthalts allein zur Arbeitsuche SG Frankfurt, Beschluss vom 04.12.2014 – S 32 AS 1815/14 ER).

Da durch das FreizügG/EU europarechtliche Vorgaben in innerstaatliches Recht umgesetzt werden, ist der Begriff des Arbeitnehmers in § 2 Abs. 1 Nr. 1 FreizügG/EU gemeinschaftsrechtlich und – da er den Geltungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union – AEUV) als einer der vom AEUV garantierten Grundfreiheiten festlegt – nach der maßgeblichen Rechtsprechung des EuGH weit auszulegen, wohingegen die Ausnahmen und Abweichungen vom Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer eng auszulegen sind (so bereits EuGH, Urteil vom 03.06.1986 – C-139/85 – Kempf, Rn. 13 und Leitsatz).

Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält (u.a. EuGH, Urteil vom 14.06.2012 – C-542/09 –, Rn. 68; Urteil vom 14.10.2010 – C-345/09 – van Delft u.a., Rn.89). Weder die begrenzte Höhe der Vergütung noch der Umstand, dass der Betreffende die Vergütung durch andere Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhaltes, wie eine aus öffentlichen Mitteln des Wohnmitgliedsstaates gezahlte finanzielle Unterstützung, zu ergänzen sucht, kann irgendeine Auswirkung auf die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Unionsrechts haben (EuGH, Urteil vom 04.02.2010 – C-14/09 – Genc, Rn. 19 ff.). Auch der Umstand, dass die normale Arbeitszeit selbst zehn Stunden pro Woche nicht übersteigt, hindert nicht, die Person, die diese Tätigkeit ausübt, als Arbeitnehmer im Sinne des § 45 AEUV anzusehen (vgl. EuGH, Urteil vom 18.07.2007 – C-213/05 – Geven, Rn. 27; Urteil vom 14.12.1995 – C-444/93 – Megner und Scheffel, Rn. 18; Urteil vom 04.02.2010 aaO Rn. 25). Auch Teilzeitbeschäftigungen fallen deshalb in den Geltungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit, wobei aber solche Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen (EuGH, Urteil vom 26.02.1992 – C-357/89 – Raulin, Rn. 13; A. Loose, in: GK-SGB II, Stand: 09/2012, § 7 Rn. 46). Zwar kann nach dem EuGH der Umstand, dass im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses nur sehr wenige Arbeitsstunden geleistet werden, ein Anhaltspunkt dafür sein, dass die ausgeübten Tätigkeiten nur untergeordnet und unwesentlich sind, doch lässt sich unabhängig vom geringen Entgelt oder der Zahl der Arbeitsstunden nicht ausschließen, dass die Tätigkeit aufgrund einer Gesamtbewertung – beispielsweise unter Berücksichtigung eines Anspruchs auf bezahlten Urlaub, der Geltung von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, der Anwendung eines Tarifvertrags sowie der Dauer des Arbeitsverhältnisses – von den nationalen Stellen als "tatsächlich und echt" angesehen werden kann (EuGH, Urteil vom 04.02.2010 aaO Rn. 26). Die Ermittlung der dafür erforderlichen Tatsachen ist Aufgabe der nationalen Gerichte (EuGH, Urteil vom 26.02.1992 aaO).

Diesen Maßstab zugrunde gelegt, ist die Antragstellerin als Arbeitnehmerin anzusehen. Sie ist unstreitig weisungsgebunden gegen Vergütung tätig. Nach Auffassung des Gerichts führt die Höhe ihres Einkommens auch nicht dazu, die Beschäftigung als "völlig untergeordnet und unwesentlich" im o.g. Sinne zu qualifizieren. 150 EUR stellen rund 38 % des bis 31.12.2014 und rund 37 % des ab 01.01.2015 anerkannten und von der Antragstellerin hier allein begehrten Regelbedarfs nach § 20 Abs. 2 Satz 1 dar. Auch die wöchentliche Arbeitszeit der Antragstellerin kann, ausgehend von den genannten zehn Stunden, nicht als Indiz für eine unwesentliche Tätigkeit herangezogen werden, denn es würde sich dabei um immerhin rund 26 % der Arbeitszeit eines voll Erwerbstätigen von 38,5 Stunden handeln (s. zu dieser Überlegung LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24.07.2014 – L 15 AS 202/14 B ER).

Das Gericht sieht sich bei diesem Maßstab zudem im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu dieser Frage. So hat BSG in seinem Urteil vom 19.10.2010 (B 14 AS 23/10 R, juris Rn. 18) die dort in Rede stehende Tätigkeit als Handwerkshelfer mit einem monatlichen Verdienst von 100 EUR bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 7,5 Stunden als ausreichend für die Arbeitnehmereigenschaft angesehen.

II. Ein Anordnungsgrund ergibt sich daraus, dass existenzsichernde Leistungen im Streit stehen und die Antragstellerin nicht über ausreichende eigene finanzielle Mittel verfügt. Ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache ist ihr nicht zumutbar.

III. Leistungen für die Antragstellerin waren ab dem Tag der Antragstellung bei Gericht zuzusprechen. Der Ausspruch war, orientiert am Regelbewilligungszeitraum (§ 41 Abs. 1 Satz 3 SGB II), auf sechs Monate ab Antragstellung bei Gericht zu begrenzen. Der Antragsgegner wird die Leistungshöhe in eigener Zuständigkeit zu ermitteln haben.

IV. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG und berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits.
Rechtskraft
Aus
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