L 19 AS 909/15 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 37 AS 342/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 19 AS 909/15 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 20.04.2015 geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage (S 37 AS 1228/15) gegen den Bescheid vom 26.01.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.03.2015 wird angeordnet. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu erstatten. Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt X, C, beigeordnet.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Aufforderung des Antragsgegners, einen Antrag auf vorgezogene Altersrente zu stellen.

Der am 00.00.1952 geborene Antragsteller bezieht Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, zuletzt in Höhe von 789,90 EUR monatlich. Bei ihm ist ein GdB von 30 anerkannt.

Mit Schreiben vom 15.05.2014 forderte der Antragsgegner den Antragsteller auf, ihm bis zum 08.06.2014 eine Bescheinigung des Rentenversicherungsträgers nach § 109 SGB VI vorzulegen, aus der hervorgeht, zu welchem Zeitpunkt er frühestens eine Rente beziehen könne. Mit Schreiben vom 06.11.2014 erinnerte der Antragsgegner den Antragsteller unter Berufung auf §§ 60,66,67 SGB I an die Vorlage der Bescheinigung. Daraufhin legte der Antragsteller dem Antragsgegner die erste Seite einer Rentenauskunft vom 14.11.2014 vor, wonach er die Regelaltersgrenze am 14.08.2017 erreichen und sich die Regelaltersrente voraussichtlich auf 873,19 EUR belaufen werde, sowie die Anlage "Versicherungsverlauf". Die übrigen Anlagen zur Rentenauskunft legte der Antragsteller nicht vor.

Mit Bescheid vom 26.01.2015 forderte der Antragsgegner den Antragsteller auf, einen Antrag auf Altersrente zu stellen. Der Antragsteller sei nach § 12a SGB II verpflichtet eine vorgezogene Altersrente bei Erreichen des 63. Lebensjahres in Anspruch zu nehmen, auch wenn dies mit Abschlägen verbunden sein sollte. Unter Abwägung aller Gesichtspunkte sei er zur Entscheidung gekommen, den Antragsteller zur Beantragung vorrangiger Leistungen aufzufordern. Er sei gehalten, wirtschaftlich und sparsam zu handeln. Der Antragsteller sei verpflichtet, die Hilfebedürftigkeit zu beseitigen und zu verringern. Es seien keine maßgeblichen Gründe ersichtlich, welche gegen die Beantragung der vorrangigen Leistungen spreche. In Abwägung der Interessen des Antragstellers mit dem Interesse an wirtschaftlicher und sparsamer Verwendung von Leistungen nach dem SGB II sei dem Antragsteller die Beantragung der genannten vorrangigen Leistung zumutbar, da die Hilfebedürftigkeit beseitigt bzw. verringert werde. Bei seiner Ermessenentscheidung habe er die Voraussetzungen der Unbilligkeitsverordnung geprüft. Die Ausnahmen aus der Unbilligkeitsverordnung lägen im Fall des Antragstellers nicht vor. Auch wenn die vorzeitige Inanspruchnahme einer Altersrente eine finanzielle Einbuße beinhalte, könne nach Prüfung und Abwägung mit den Gründen der Unbilligkeitsverordnung in Verbindung mit §§ 12a, 5 Abs. 3 SGB II nicht auf vorzeitige Inanspruchnahme einer Altersrente verzichtet werden. Es seien keine weiteren, nicht von der Unbilligkeitsverordnung umfassten Gründe, die gegen eine solche Aufforderung sprächen, ersichtlich.

Hiergegen legte der Antragsteller am 29.01.2015 Widerspruch ein. Er rügte eine fehlende Anhörung nach § 24 SGB X. Er werde durch eine vorzeitige Verrentung zum dauerhaften Sozialhilfefall, obwohl seine abschlagsfreie Altersrente zur Deckung seines Bedarfs ausreichen würde. Dies stelle ein Fall der unbilligen Härte dar. Die Ermessensentscheidung sei fehlerhaft. Es handele sich lediglich um eine Ansammlung von Textbausteinen ohne Prüfung des Einzelfalls. Der Antragsgegner unternehme keinen Versuch mehr, ihn in Arbeit zu vermitteln. Der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers nahm Akteneinsicht. Der Antragsgegner setzte ihm eine Frist bis zum 20.02.2015 zur weiteren Widerspruchsbegründung.

Am 29.01.2015 hat der Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen den Bescheid vom 26.01.2015 beantragt. Er wiederholt sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren. Ergänzend trägt er vor, der Antragsgegner habe seiner Amtsermittlungspflicht nicht genügt.

Der Antragsgegner hat dargelegt, der Antragsteller werde bei Inanspruchnahme der vorgezogenen Altersrente bei Erreichen des 63. Lebensjahres eine Rente von 810,32 EUR erhalten. Eine solche Rente sei bedarfsdeckend. Der Antragsteller habe weder eine geeignete, aussagekräftige Rentenauskunft vorgelegt noch die Vorlage einer solchen angekündigt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 11.03.2015 wies der Antragsgegner den Widerspruch als unbegründet zurück. Er führte u.a. aus, dass der Antragsteller trotz mehrfacher Aufforderung und Kenntnis über die Notwendigkeit die seit Mai 2014 angeforderte Rentenauskunft nicht in geeigneter Form vorgelegt habe. Aus den zum Zeitpunkt der Entscheidung erkennbaren Umständen ergebe sich kein Fall einer generellen Unbilligkeit. Bei einem Renteneinkommen von 810,32 EUR müsse der Antragsteller unter Zugrundelegung eines aktuellen Bedarfs von 789,90 EUR keine ergänzenden Leistungen nach dem SGB XII beziehen. Es sei nicht ersichtlich, dass der Antragsteller auf weitere staatliche Leistungen im Fall des Rentenbezuges angewiesen sein werde. Am 20.03.2015 hat der Antragsteller Klage erhoben.

Mit Schreiben vom 12.03.2015 hat der Antragsteller angegeben, ihm stehe möglicherweise eine Altersrente wegen Schwerbehinderung zu. Er habe sich mit dem Versorgungsamt und dem Rentenversicherungsträger in Verbindung gesetzt. Der Antragsgegner hätte ihm auf die Möglichkeit einer vorgezogenen Altersrente wegen Schwerbehinderung hinweisen müsse. Mit Schreiben vom 17.03.2015 hat der Antragsteller dem Sozialgericht eine Rentenauskunft vom 06.01.2015 mit Anlagen übersandt, wonach bei einem Rentenbetrag von 873,19 EUR sich der vom Antragsteller zu tragende Krankenversicherungsbeitragsanteil auf 71,60 EUR belaufen und die Rente sich bei Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente für langjährig Versicherte zum 01.03.2015 um 9% mindern werde.

Durch Beschluss vom 20.04.2015 hat das Sozialgericht Dortmund den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung abgelehnt. Auf die Gründe wird Bezug genommen.

Gegen den am 29.04.2015 seinem Prozessbevollmächtigten zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 19.05.2015 Beschwerde eingelegt. Er trägt vor, dass er nicht angehört worden sei i.S.v. § 24 SGB X. Auch habe das Sozialgericht bei der Interessenabwägung nicht berücksichtigt, dass ihm bei Ablehnung seines Antrags schwerwiegende Nachteile drohen, die für ihn nicht mehr reversibel seien. Er sei dann verpflichtet, einen Rentenantrag zu stellen und eine entsprechende Minderung in Kauf zu nehmen. Auch sei die Unbilligkeitsverordnung verfassungswidrig.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 26.01.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.03.2015, mit dem der Antragsteller zur Stellung eines Antrags auf vorzeitige Altersrente nach §§ 5 Abs. 3, 12a SGB II aufgefordert worden ist, ist nach § 86b Abs. 1 SGG zulässig (vgl. hierzu Beschluss des Senats vom 22.05.2013 - L 19 AS 291/13 B ER -, m.w.N.) und begründet.

Bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebende Wirkung hat das Gericht eine Abwägung des Interesses des Antragstellers, die Wirkung des angefochtenen Bescheides (zunächst) zu unterbinden (Aussetzungsinteresse), mit dem Vollzugsinteresse des Antragsgegners vorzunehmen. Dabei besteht ein Regel-Ausnahmeverhältnis. In der Regel überwiegt das Vollzugsinteresse des Antragsgegners. Die aufschiebende Wirkung der Klage ist anzuordnen, wenn das Aussetzungsinteresse das Vollzugsinteresse überwiegt. Dies ist der Fall, wenn mehr gegen als für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes spricht.

Vorliegend überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Vollzugsinteresse des Antragsgegners.

Rechtsgrundlage für die hier streitige Aufforderung des Antragsgegners an den Antragsteller, eine vorzeitige Altersrente in Anspruch zu nehmen, ist § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II. Danach können die Leistungsträger nach diesem Buch einen Antrag auf Leistungen eines anderen Trägers stellen sowie Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen, wenn der Leistungsberechtigte einen solchen Antrag trotz Aufforderung nicht selbst stellt. Auch die Aufforderung zur Stellung des Rentenantrags steht im Ermessen des Leistungsträgers (vgl. Beschluss des Senats vom 26.01.2015 - L 19 AS 1969/14 B - m.w.N.).

§ 5 Abs. 3 S. 1 SGB II setzt dabei eine Pflicht des Leistungsberechtigten zur Inanspruchnahme vorrangiger Leistungen - hier der Rente - voraus. Diese bereits zuvor in §§ 5,7, und 9 SGB II vorausgesetzte Pflicht zur Inanspruchnahme vorrangiger Leistungen wird durch § 12a SGB II konkretisiert (vgl. BT-Drs 16/7460 S 12 zu § 12a). § 12a SGB II betrifft unter Berücksichtigung von § 65 Abs. 4 SGB II alle Leistungsberechtigten, die nach dem 01.01.2008 das 58. Lebensjahr vollendet haben und damit nicht mehr in den Genuss der sog. 58er-Regelung kommen (vgl. Beschluss des Senats vom 22.05.2013 - L 19 AS 291/13 B ER m.w.N.). Gemäß § 12a S. 1 und S. 2 Nr. 1 SGB II sind Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist. Bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres gilt dies aber nicht für eine vorzeitige Inanspruchnahme einer Altersrente. Auch nach Vollendung des 63. Lebensjahres muss eine Rente ausnahmsweise dann nicht vorzeitig in Anspruch genommen werden, wenn dies eine "Unbilligkeit" auf Grundlage von § 13 Abs. 2 SGB II mit Wirkung ab dem 01.01.2008 erlassenen Unbilligkeitsverordnung darstellt. Nach der gesetzlichen Konzeption stellt die Verpflichtung zur Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente den Grundsatz und die fehlende Pflicht bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres bzw. bei Unbilligkeit die Ausnahme dar (vgl. zu letzterem BT-Drs 16/7460 S 12 zu § 13).

Die Voraussetzungen zur Pflicht zur vorzeitigen Rentenantragstellung sind vorliegend erfüllt. Der Antragsteller hat am 15.02.2010 (also nach dem 01.01.2008) das 58. Lebensjahr und am 15.02.2015 das 63. Lebensjahr vollendet. Die Eingliederung in den Arbeitsmarkt ist gescheitert. Es liegt kein Fall von §§ 2 - 5 der Unbilligkeitsverordnung vor. Das gilt auch für § 3 Unbilligkeitsverordnung, der eine Inanspruchnahme einer Rente dann für unbillig erklärt, wenn der Leistungsberechtigte in nächster Zukunft die Altersrente abschlagsfrei in Anspruch nehmen kann. Ausweislich der Verordnungsbegründung ist ein Zeitraum von längstens drei Monaten gemeint (vgl. Referentenentwurf zur Unbilligkeitsverordnung Seite 8, http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Gesetze/unbilligkeitsverordnung-begruendung.pdf?-blob=publicationFile; LSG NRW Urteil vom 04.12.2014 - L 7 AS 1775/14). Der vom Antragsteller geltend gemachten Möglichkeit des Bezuges einer abschlagsfreien vorgezogenen Altersrente wegen Schwerbehinderung ab Erreichen des 63. Lebensjahres steht schon entgegen, dass bislang bei ihm keine Schwerbehinderung anerkannt ist bzw. dass er erst kurz vor Erreichen des 63. Lebensjahres einen Verschlimmerungsantrag mit dem Ziel der Anerkennung einer Schwerbehinderung bei zuständigen Leistungsträger gestellt hat. Die in den §§ 2-5 der Unbilligkeitsverordnung geregelten Fälle sind abschließend (vgl. LSG NRW Urteil vom 04.12.2014 - L 7 AS 1775/14; siehe auch Beschluss des Senats vom 22.05.2013 - L 19 AS 291/13 B ER). Der Antragsteller wird die Regelaltersrente erst ab dem 01.09.2017 beziehen können.

Der Bescheid ist auch formell rechtmäßig. Das Erfordernis einer eigenständigen, nicht notwendigerweise förmlichen Anhörung ist durch das Widerspruchsverfahren gewahrt (vgl. zur Heilung von Anhörungsfehlern im Widerspruchsverfahren BSG Urteile vom 29.11.2012 - B 14 AS 196/11 R, SozR 4-1300 § 33 Nr. 2 und vom 22.08.2012 - B 14 As 165/11 R, SozR 4-1300 § 50 Nr. 3 m.w.N.).

Die Regelung des § 12a SGB II und der Unbilligkeitsverordnung sind verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl. hierzu LSG NRW Urteil vom 04.12.2014 - L 7 AS 1775/14 m.w.N.; LSG Sachsen-Anhalt Beschluss vom 28.04.2015 - L 4 AS 63/15 B ER m.w.N.).

Jedoch ist der Bescheid vom 26.01.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.03.2015 wegen fehlerhafter Ermessensausübung rechtswidrig. Die Aufforderung eines Leistungsberechtigten zur Stellung eines Antrags auf vorzeitige Altersrente nach §§ 5 Abs. 3, 12a SGB II steht im Ermessen des Leistungsträgers (vgl. hierzu Beschluss des Senats vom 26.01.2015 - L 19 AS 1969/14 B ER-, m.w.N.). Bei dem in § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II enthaltenen Wort "können" handelt es sich nicht um ein bloßes "Kompetenz-Kann" (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18.11.2014 - L 10 AS 2254/14 B -, m.w.N.). Vielmehr hat der Leistungsträger das Ermessen nach dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (§ 39 Abs. 1 S. 1 SGB I). Damit korrespondierend hat der Leistungsberechtigte einen Anspruch auf die pflichtgemäße Ausübung des Ermessen (§ 39 Abs. 1 S. 2 SGB I).

Der Bescheid vom 26.01.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.03.2015 verletzt den Antragsteller in seinem Recht auf fehlerfreien Ermessensgebrauch. Die im Widerspruchsbescheid vom 11.03.2015 erfolgte Ermessensausübung ist fehlerhaft, (vgl. zur Möglichkeit der Heilung von Ermessenfehlern BSG Urteile vom 22.08.2000 - B 2 U 33/99 R, SozR 3-2200 § 712 Nr. 1 und vom 01.03.2011 - B 7 AL 2/10 R, BSG Beschluss vom 14.02.1991 - 10 RKg 10/89, SozR 3-1300 § 45 Nr. 24; BSG Großer Senat Beschluss vom 06.10.1994 - GS 1/91, BSGE 75, 159).

Vorliegend sind keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Ermessensreduzierung auf Null zu Gunsten des Antragstellers oder des Antragsgegners erkennbar und ergeben sich auch nicht aus dem Vortrag der Beteiligten. Allein die Tatsache, dass infolge der Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente auf Dauer eine Hilfebedürftigkeit nach dem SGB XII verursacht wird, begründet keine Ermessensreduzierung auf Null zu Gunsten des Antragstellers. Diese Wertung bestätigen §§ 12a, 5 Abs. 3 S. 1 SGB II. Hiernach besteht die Obliegenheit, andere Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen, grundsätzlich auch dann, wenn hierdurch die Hilfebedürftigkeit lediglich vermindert wird und nicht vollständig entfällt. Allein der Umstand, dass bei Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente gegebenenfalls die Hilfebedürftigkeit nicht entfällt, bedingt demnach keine gebundene Entscheidung zugunsten des Antragstellers (siehe auch LSG Sachsen Beschluss vom 19.02.2103 - L 8 As 1232/14 ER).

Bei der Überprüfung einer Ermessensentscheidung hat ein Gericht nur zu prüfen, ob der Träger sein Ermessen überhaupt ausgeübt, er die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder ob er von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (BSG Urteil vom 09.11.2010 - B 2 U 10/10 R, SozR 4-2700 § 76 Nr 2 m.w.N.). Ein Ermessensnichtgebrauch oder eine Ermessensüberschreitung liegt hier nicht vor. Jedoch besteht ein Ermessenfehlgebrauch.

Ein Ermessensfehlgebrauch liegt zum einen vor, wenn die Behörde ein unsachliches Motiv oder einen sachfremden Zweck verfolgt (Ermessensmissbrauch). Zum anderen liegt der Fehlgebrauch als Abwägungsdefizit vor, wenn sie nicht alle Ermessensgesichtspunkte, die nach der Lage des Falls zu berücksichtigen sind, in die Entscheidungsfindung einbezogen hat. Der Fehlgebrauch kann zudem als Abwägungsdisproportionalität vorliegen, wenn der Grundsicherungsträger die abzuwägenden Gesichtspunkte rechtlich fehlerhaft gewichtet hat. Des Weiteren kann ein Fehlgebrauch erfolgt sein, wenn er seiner Ermessensbetätigung einen unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt zugrunde gelegt hat. Deshalb haben die Tatsacheninstanzen in tatsächlicher Hinsicht zu überprüfen, ob die Behörde die Tatsachen, die sie ihrer Ermessensentscheidung zugrunde gelegt hat, zutreffend und vollständig ermittelt hat (BSG, Urteil vom 09.11.2010, a.a.O., m.w.N.)

Der Grundsicherungsträger ist bei der Ermessensausübung gehalten, sich mit den vorgetragenen Einwänden des Betroffenen auseinanderzusetzen (Wagner in: jurisPK-SGB I, 2. Aufl. 2011, § 39 SGB I, Rn. 29, der von einer gewissen "Spiegelbildlichkeit von Einwänden des Betroffenen und Ermessenserwägungen" ausgeht). Er hat die individuellen Verhältnisse des Einzelfalles abzuwägen, d. h. er ist gehalten, auf die für die Ermessensentscheidung relevanten Verhältnisse des Einzelfalles einzugehen, auch wenn er sich für eine Ermessensentscheidung auf allgemeine Grundsätze berufen will (BSG, Urteil vom 14.11.1985 - 7 RAr 123/84, BSGE 59, 157). Den für seine Entscheidung benötigten Sachverhalt hat er ggf. von Amts wegen zu ermitteln; er kann sich dabei u.a. der Mitwirkung der Beteiligten bedienen (§§ 20, 21 SGB X; BSG Urteile vom 23.08.2013 - B 8 SO 7/12 R, SozR 4-5910 § 92c Nr. 2 - und vom 14.11.1985, a.a.O.; vgl. Beschluss des Senats vom 10.02.2014 - L 19 AS 54/14 B ER - zum Recht des Grundsicherungsträgers, einen Leistungsempfängers zur Vorlage einer aktuellen Rentenauskunft aufzufordern).

Unter Zugrundelegung der Ausführungen im Widerspruchsbescheid hat der Antragsgegner einen unvollständig ermittelten Sachverhalt zugrunde gelegt. Er hat zu diesem Zeitpunkt weder die voraussichtliche Höhe der abschlagsfreien Nettoaltersrente (Bruttorente minus Beitrag zur Krankenversicherung- und Pflegeversicherung) noch die voraussichtliche Höhe der vorgezogenen Nettoaltersrente (Bruttorente minus Kranken- und Pflegeversicherungsbeitrag) ermittelt. Der Antragsgegner hat sich bei der im Widerspruchsbescheid unterstellten Annahme, dass der Antragsteller durch den Bezug der vorgezogenen Altersrente nicht sozialhilfebedürftig werde, lediglich auf die vom Antragsteller vorgelegte Renteninformation über die Höhe der Bruttoaltersrente gestützt und eine eigene Berechnung der Abschläge vorgenommen, ohne zu berücksichtigen, dass Rentnern in der Regel von der Rente Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung abgehalten werden. Beim Abzug der Krankenversicherungsbeiträge von der Rente handelt es sich auch um eine allgemein bekannte Tatsache. Daher wäre der Antragsgegner gehalten gewesen, sich bei seinen Berechnung nicht nur auf die vom Antragsteller unvollständig vorgelegte Renteninformation vom 24.11.2014 zu stützen, sondern im Verwaltungsverfahren, spätestens im Widerspruchsverfahren, in dem sich der Antragsteller darauf berufen hat, dass er durch den Bezug einer vorgezogenen Altersrente sozialhilfebedürftig wird, konkret den Antragsteller aufzufordern, ihm umgehend die der Renteninformation beigefügten Anlagen zur Klärung des Sachverhalts vorzulegen. Aus der im November 2014 vorgelegten Renteninformation ist ersichtlich gewesen, dass weitere Anlagen zur Rentenberechnung vorhanden sind. Dies hat der Antragsgegner unterlassen, so dass der Sachverhalt, der der Ermessenabwägung im Widerspruchsbescheid zugrundegelegt wurde, unvollständig ermittelt und falsch bewertet wurde.

Der Senat hat berücksichtigt, dass der Antragsteller augenscheinlich dem Antragsgegner von sich aus nicht die vollständige Renteninformation vom 24.11.2014 vorgelegt hat bzw. in der Widerspruchsbegründung vom 29.01.2015 nur pauschal behauptet hat, dass er durch den Bezug einer vorgezogenen Altersrente sozialhilfebedürftig werde, ohne dass er dies detailliert dargelegt oder belegt hätte, obwohl ihm dies aufgrund der ihm vorliegenden Renteninformationen vom 24.11.2014 und 06.01.2015 möglich gewesen wäre. Diese das Verfahren verzögernde Verhaltensweise rechtfertigt aber nicht, dass der Antragsgegner seiner aus §§ 20, 21 SGB X ergebenden Amtsermittlungspflicht nicht nachkommt. Vielmehr hätte er den Antragsteller unter Hinweis auf seine Mitwirkungspflichten aus § 60 SGB I und den daraus ergebenden Beweisnachteilen im Fall ihrer Verletzung, zur Vorlage der vollständigen Renteninformation einschließlich aller Anlagen, ggf. unter kurzer Fristsetzung, auffordern können und müssen.

Damit liegt ein Abwägungsdefizit vor. Dieses Defizit kann nicht durch eigene Abwägungen des Gerichts nachgeholt oder geheilt werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Nach § 73a Abs. 1 S. 1 SGG i. V. m. §§ 114, 115 ZPO erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten für die Prozessführung nicht aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Die hinreichende Erfolgsaussicht liegt nach den obigen Ausführungen vor. Der Antragsteller ist nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen auch außerstande, die Kosten der Prozessführung aufzubringen, so dass die Prozesskostenhilfe ratenfrei zu bewilligen ist.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved