L 10 AS 193/15 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
10
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 206 AS 29229/14 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 10 AS 193/15 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 08. Januar 2015 wird geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, den Antrag des Antragstellers auf Mietschuldenübernahme unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden. Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt 2/3 der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt die Übernahme von Mietschulden (einschließlich Mahnkosten) in Höhe von 1021,10 EUR aus den Jahren 2011, 2012 und 2013, die gegenüber seinem Vermieter bestehen (zum Verfahren gereichte Aufstellung vom 23. Juni 2015). Er ist allein stehend, steht seit dem 01. Januar 2005 im Leistungsbezug des Antragsgegners und er wohnt (und wohnte im gesamten Zeitraum) in der 53,66 qm großen 2-Zimmer-Wohnung in der Fstr., bzgl derer der Mietrückstand entstanden ist. Die monatlichen Aufwendungen für diese Wohnung betragen derzeit 413,38 EUR (288,15 EUR Nettokaltmiete, 74,76 EUR kalte Betriebskosten und 50,67 EUR Heizkostenvorschuss). Sie werden vom Antragsgegner für angemessen iSv § 22 Abs 1 Satz 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) erachtet und dem Antragsteller in voller Höhe als Leistung für Unterkunft und Heizung bewilligt. So war die Sachlage auch in allen früheren Bezugszeiträumen. Seit Januar 2014 wird der entsprechende Betrag direkt an den Vermieter bzw die ihn vertretende Hausverwaltung gezahlt.

Der Antragsteller hat am 15. Dezember 2014 einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung des Inhalts gestellt, ihm ein Darlehen zur Tilgung seiner Mietschulden zu gewähren. Diesen Antrag hat das Sozialgericht (SG) Berlin mit Beschluss vom 08. Januar 2015 im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, die Mietschuldenübernahme sei nicht gerechtfertigt, da der Antragsteller nicht ausreichend erklärt habe, wie die Mietschulden entstanden seien, und deshalb davon auszugehen sei, dass er die für Unterkunft und Heizung bestimmten Leistungen anderweitig verbraucht habe, was einer Mietschuldenübernahme entgegenstehe.

Nach weiteren Bemühungen des Antragsgegners zur Klärung dieses Sachverhalts, an denen der Antragsteller nur unzureichend mitgewirkt hat, hat der Antragsgegner mit Bescheid vom 25. Juni 2015, auf dessen Begründung Bezug genommen wird, die Mietschuldenübernahme abgelehnt.

II.

Die zulässige Beschwerde ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet; insoweit bestehen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch iSv § 86b Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Ein Anspruch auf darlehensweise Mietschuldenübernahme, der sich – so zu Recht bereits das SG – hier allein aus § 22 Abs 8 SGB II ergeben kann, da der primäre Leistungsanspruch des Antragstellers auf Leistungen für Unterkunft und Heizung immer in vollem Umfang erfüllt worden ist (vgl Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 22. März 2010 – B 4 AS 62/09 R, juris), kann im Rahmen einstweiligen Rechtsschutzes mit dem Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung nach § 86b Abs 2 Satz 2 SGG durchgesetzt werden. Danach kann das Gericht auf Antrag zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Anordnungsanspruch – die Rechtsposition, deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren beabsichtigt ist – sowie der Anordnungsgrund – die Eilbedürftigkeit der begehrten sofortigen Regelung – sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs 2 Satz 4 SGG iVm § 920 Abs 2 Zivilprozessordnung (ZPO)). Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in der jeweiligen Instanz; im Beschwer-de¬verfahren kommt es demnach auf den Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung an.

Der Senat sieht nunmehr – nachdem in der Zahlungsaufstellung der den Eigentümer vertretenden Wohnungsverwaltung vom 23. Juni 2015 erstmals ein außerordentliche Kündigung angedroht wurde, deren Voraussetzungen gemäß § 543 Abs 2 Satz 1 Nr 3b Bürgerliches Gesetzbuch vorliegen dürften – die Eilbedürftigkeit als gegeben an, da eine konkrete Gefährdung des Mietverhältnisses zu bestehen scheint (die Voraussetzungen, die der Senat insoweit im Beschluss vom 22. Juli 2014 – L 10 AS 1393/14 B ER, juris – für maßgeblich erachtet hat, haben immer vorgelegen, allerdings bestand hier die dort nicht entscheidungserheblich in die Betrachtung einbezogene Situation, dass der Vermieter passiv bleibt).

Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus § 22 Abs 8 Satz 1 SGB II. Danach können Mietschulden übernommen werden, "soweit dies zur Sicherung der Unterkunft ...gerechtfertigt ist"; nach § 22 Abs 8 Satz 2 SGB II sollen – gebundenes Ermessen – sie übernommen werden, wenn sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht.

Hier besteht keine hinreichende tatsächliche Grundlage, diese Voraussetzung des § 22 Abs 8 Satz 2 SGB II anzunehmen, denn drohende Wohnungslosigkeit bedeutet den drohenden Verlust der bewohnten, kostenangemessenen Wohnung bei fehlender Möglichkeit, ebenfalls angemessenen Ersatzwohnraum zu erhalten (BSG, Urteil vom 17. Juni 2010 – B 14 AS 58/09 R, juris RdNr 28ff). Dass der Antragssteller (in kurzer Frist) im gesamten Stadtgebiet Berlin keine andere kostenangemessene Wohnung finden kann, ist – jedenfalls ohne konkreten und durch Fehlanzeigen belegten Vortrag – nicht zu unterstellen; er ist alleinstehend und nicht durch gesundheitliche oder sonstige Defizite an der Suche gehindert oder in einer Weise belastet, die seine Chancen am Wohnungsmarkt entscheidend mindern. Die fehlende Mietschuldenfreiheit ist insoweit kompensiert, als eine Direktzahlung durch den Antragsgegner vereinbart werden kann.

Der Senat teilt im Weiteren den Ansatz des Antragsgegners in dem Bescheid vom 25. Juni 2015, wonach die Sachlage § 22 Abs 8 Satz 1 SGB II unterfällt, wobei ersichtlich "das gerechtfertigt sein" einer Darlehensgewährung – auch dies ist zu teilen, da insoweit insbesondere die Eignung der Darlehensgewährung zum Erhalt angemessenen Wohnraumes Gegenstand der Prüfung ist (vgl BSG, Urteil vom 17. Juni 2010 – B 14 AS 58/09 R, juris RdNr 26; Luik in Eicher, SGB II, 3. Auflage 2013, RdNr 248 zu § 22) – nicht in Frage gestellt wird.

Der Bescheid vom 25. Juni 2015 ist aber rechtswidrig, weil die Ermessensausübung an wesentlichen Abwägungsmängeln leidet. Diese bestehen darin, dass der unzureichenden Mitwirkung des Antragstellers entscheidende Bedeutung zugemessen wird. Damit werden seine Verhaltensdefizite überbewertet, hingegen werden die für eine Anspruchsbegründung sprechenden Gesichtspunkte nicht in die Betrachtung eingestellt.

Zunächst ist hinreichend klar, dass die Rückstände darauf beruhen, dass der Antragsteller in den Monaten, in denen sie entstanden sind, anderweitige Verpflichtungen erfüllt hat bzw Pfändungsmaßnahmen ausgesetzt war, die Überweisungen oder Abbuchungen zugunsten des Vermieters entgegenstanden. Bzgl der Rückstände aus dem Jahre 2011 ist dies dokumentiert (Bl 163/183ff Verwaltungsakte), bzgl der weiteren rückstandsbefangenen Zeiträume vorgetragen, ohne dass erkennbar wäre, warum dem Antragsteller, der damit nichts unmittelbar Entlastendes vorträgt, nicht gefolgt werden könnte. Damit ist zunächst der Vorwurf mangelnder Mitwirkung relativiert, denn diese ist kein Selbstzweck, sondern unter Bewertung der Bedeutung der fehlenden Information bedeutsam, und es ist wenig nahe liegend, dass aus einer weiteren Konkretisierung der Verhältnisse ein wesentlicher Erkenntnisgewinn für den Antragsgegner folgen kann. Soweit die Verantwortlichkeit des Leistungsberechtigten für das Entstehen der Rückstände die Ermessensentscheidung als Gesichtspunkt zu Lasten des Antragstellers (mit-)bestimmt (zur Problematik Luik, aaO, RdNr 249), dürfte die vorliegende Konstellation keine durchschlagende Bewertung zulasten des Antragstellers rechtfertigen, denn sie scheint eher fehlender Übersicht und einer gewissen Unbedarftheit geschuldet zu sein; jedenfalls ist sie (auch dem Umfang nach) nicht als gezielte Zweckentfremdung der erhaltenen Leistung zu bewerten, noch werden Tendenzen erkennbar, sich durch eine mehr oder weniger gezielte Herbeiführung von Rückständen Vorteile zu verschaffen. In der Abwägung fehlt die Berücksichtigung von dem Antragsteller günstigen Momenten. Zunächst handelt es sich um den typischen Fall, zu dem die Mietschuldenübernahme nach der § 22 Abs 8 SGB II zugrunde liegenden Vorstellung einzusetzen ist. Der Antragsteller wohnt (bei langjährig stabilen Verhältnissen) in einer Wohnung, die nicht mehr als angemessene Kosten verursacht und idS erhaltenswert ist. Dazu ist die Ablösung der Rückstände geeignet und notwendig, denn sie schließt die Kündigungsmöglichkeit des Vermieters aus. Die Rückstände bleiben in überschaubarem Rahmen und sind nicht durch eine systematische oder kontinuierliche Vernachlässigung der Zahlungspflichten entstanden, wobei weiteren Rückständen durch die Direktzahlung vor¬gebeugt ist. Es ist zu relativieren, wenn der Antragsgegner im Bescheid vom 25. Juni 2015 seine Verpflichtung zu wirtschaftlichem Handeln als einen die ablehnende Entscheidung stützenden Gesichtspunkt anspricht, denn die Gewährung erfolgt als Darlehen, das hier in Ansehung der Höhe der Rückstände und des Umstandes. dass dem Antragsteller die Regelleistung derzeit ungekürzt ausgezahlt wird, durchaus einbringlich sein dürfte.

Nach den bisherigen Ausführungen sind die Voraussetzungen eines Darlehensanspruchs aus § 22 Abs 8 Satz 1 SGB II vorbehaltlich einer positiven Ermessensausübung gegeben, für die aus den aufgezeigten Gründen eine überwiegende Wahrscheinlichkeit spricht, wobei eine Verdichtung des Abwägungsprozesses iS einer "Ermessensreduzierung auf Null" nicht überzeugend begründbar ist. Dieser Situation führt im Rechtschutzverfahren auf Erlass einer Regelungsanordnung zu einen Entscheidungssatz, der zur Neubescheidung verpflichtet (zustimmend Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage 2014, RdNr 30a aE zu § 86b; Meßling in Hennig, SGG, RdNr 158 zu § 86b (Stand der Einzelkommentierung Dezember 2014); HK-SGG-Binder, 4. Auflage 2012, RdNr 48 zu § 86b; Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 3. Auflage 2011, RdNr 388; zur Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), Schoch in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, RdNr 161b, 162 zu § 123 (Stand der Einzelkommentierung März 2014), Funke-Kaiser in Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, RdNr 60 zu § 123 VwGO (Stand der Einzelkommentierung November 2014); Finkelnburg/Dombert/Külpmann; Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 5. Aufl 2008, RdNr 214; aus der Rspr Oberverwaltungsgericht (OVG) des Saarlandes, Beschluss vom 14. September 2010 – 3 B 268/10, juris RdNr 4; Hamburgisches OVG, Beschluss vom 19. Februar 1996 – Bs IV 288/95, juris RdNr 6; Verwaltungsgericht Berlin, 35 A 473.03, juris RdNr 18f). Nur ein Bescheidungstenor ist geboten, da "außerhalb der Ermessensreduzierung auf Null" ein Entscheidungssatz, der zur Leistung verpflichtet, über das in der Hauptsache erreichbare hinausginge (Meßling aaO) und im Ergebnis das Gericht seine Ermessenserwägungen an die Stelle derer der Verwaltung setzen würde (Binder aaO). Des Bescheidungstenors bedarf es, da ansonsten entgegen dem Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art 19 Abs 4 Grundgesetz das subjektive Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung – eben dies wird einstweilig gesichert bzw vorläufig durchgesetzt – ungeschützt wäre, wobei der vorliegende Fall zeigt, dass der Umfang der drohenden Beeinträchtigung (aufgrund der Kündigungslage) nicht davon abhängt, ob der öffentlich-rechtliche Anspruch, der diese Gefährdung beseitigen kann, als Pflicht- oder als Ermessensleistung ausgestaltet ist. Soweit für eine Regelungsanordnung, die zur Neubescheidung verpflichtet, verlangt wird, dass eine Entscheidung zugunsten des Antragstellers nahe liegend ist (Schoch, aaO, RdNr 161b; Hamburgisches OVG, aaO) ist diese Voraussetzung erfüllt, auf die Ausführungen zu den relevanten Ermessensgesichtspunkten wird Bezug genommen.

Der Senat weist darauf hin, dass er den Bescheid vom 25. Juni 2015 nicht aufgehoben hat, da er die Kompetenz dazu im einstweiligen Verfahren nicht hat. Falls der Antragsteller den Bescheid vom 25. Juni 2015 bindend werden lässt (Widerspruch nicht einlegt) entfällt die Wirkung dieses Beschlusses, da dann kein einstweilig zu regelndes Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten (mehr) besteht. Soweit der Antragsgegner mit diesem Beschuss zur Neubescheidung verpflichtet wird, betrifft die von ihm zu treffende Regelung nach allgemeinen Grundsätzen (vgl dazu (für pflichtige Geldleistungsansprüche) Senatsurteil vom 11. November 2009 – L 10 AS 1801/09 –, juris RdNr 19; Happ in Eyermann, VwGO, 14. Auflage 2014, RdNr 66d zu § 123; für den vorliegenden Zusammenhang Funke-Kaiser in Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, aaO) die Zwischenzeit bis zum Abschluss der Hauptsache, sofern ein solches Verfahren geführt wird und der Antragsgegner seinen Bescheid vom 25. Juni 2015 "verteidigt" bzw dieser Bescheid bindend wird.

Die Beschwerde war zurückzuweisen, soweit der Antragsteller die unmittelbare Verpflichtung des Antragsgegner zur Darlehensgewährung nach § 22 Abs 8 SGB II begehrt, da es – wie dargelegt – an den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 22 Abs 8 Satz 2 SGB II bzw – was § 22 Abs 8 Satz 1 SGB II betrifft – an den Voraussetzungen einer "Ermessensreduzierung auf Null" fehlt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit einer Beschwerde an das BSG anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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