L 5 AS 643/15 B ER

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 6 AS 1587/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 5 AS 643/15 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg vom 7. September 2015 wird aufgehoben.

Der Antragsgegner wird verpflichtet, den Antragstellern vom 9. Juni bis 30. November 2015 vorläufig Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende in Höhe von 360 EUR/Monat/Person zu zahlen.

Der Antragsgegner hat die den Antragstellern entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu tragen.

Gründe:

I.

Die Antragsteller begehren in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Bewilligung von Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II) für die Zeit ab 9. Juni 2015.

Der am ... 1981 geborene Antragsteller und die am ... 1984 geborene Antragstellerin haben die syrische Staatsangehörigkeit. Sie sind miteinander verheiratet.

Nachdem der Bruder des Antragstellers unter dem 28. Januar 2014 eine Verpflichtungserklärung nach § 68 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (AufenthG) unterzeichnet hatte, reisten die Antragsteller in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Verpflichtungserklärung sollte vom voraussichtlichen Tag der Einreise am 28. Januar 2014 bis zur Beendigung des Aufenthalts oder bis zur Erteilung eines Aufenthaltstitels zu einem anderen Aufenthaltszweck gelten. Den Antragstellern wurde eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG erteilt. Sie wohnen bei dem Bruder des Antragstellers kostenfrei.

Nach Stellung eines Asylantrages wurde den Antragstellern mit Bescheid vom 19. Februar 2015 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Unter dem 24. März 2015 erteilte ihnen die Ausländerbehörde der Landeshauptstadt M. mit sofortiger Wirkung gemäß § 81 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 25 Abs. 2, 1. Alt. AufenthG die Aufenthaltserlaubnis.

Der Antragsgegner bewilligte ihnen mit Bescheid vom 10. April 2015 Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 24. März bis 31. Mai 2015 in Höhe von 720 EUR/Monat.

Unter dem 8. Mai 2015 beantragten die Antragsteller die Zustimmung zu einem Umzug in eine Wohnung in der J.-straße 40 in M. Der Antragsgegner lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 19. Mai 2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 17. September 2015 ab. Eine Übernahme der Unterkunftskosten könne nicht erfolgen, da sie keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II hätten.

Unter dem 5. Mai 2015 stellten die Antragsteller beim Antragsgegner einen Antrag auf Fortzahlung der Leistungen, den dieser mit Bescheid vom 9. Juli 2015 ablehnte. Sie hätten keinen Anspruch auf Bezug von Grundsicherungsleistungen, da der Bruder des Antragstellers eine Verpflichtungserklärung abgegeben habe, die weiterhin ihre Gültigkeit habe.

Bereits am 9. Juni 2015 haben die Antragsteller beim Sozialgericht Magdeburg einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt mit dem Begehren, den Antragsgegner zu verpflichten, ihnen vorläufig weiterhin Leistungen nach dem SGB II zu bewilligen und die Kosten der Unterkunft für die Wohnung in der J.-str. 40 in M. vorläufig zu übernehmen. Durch die Änderung des Aufenthaltstitels hätte die Verpflichtungserklärung des Bruders des Antragstellers ihre Wirkung verloren. Der Bruder des Antragstellers habe die Zahlungen eingestellt und sie lebten derzeit von Darlehen Dritter.

Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 7. September 2015 den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Regelungsanordnung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Zweck des Aufenthalts der Antragsteller hätte sich durch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht geändert. Die Verpflichtungserklärung des Bruders des Antragstellers gelte weiterhin. Im Übrigen hätten die Antragsteller keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Die vorgelegten Bescheinigungen über den Erhalt von finanziellen Mitteln von Mitgliedern der islamischen Gemeinde in M. ließen nicht hinreichend deutlich erkennen, dass es sich um Darlehen im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches handele.

Die Antragsteller haben am 21. September 2015 Beschwerde gegen den Beschluss eingelegt. Die Annahme des Sozialgerichts, der Aufenthaltszweck der Antragsteller habe sich nicht geändert, stehe im Widerspruch zur ständigen Rechtsprechung der Verwaltungs- und Sozialgerichtsbarkeit.

Der Antragsgegner hat bereits am 17. September 2015 den Widerspruch der Antragsteller gegen den Ablehnungsbescheid vom 9. Juli 2015 als unbegründet zurückgewiesen.

Der Prozessbevollmächtigte der Antragsteller hat auf telefonische Nachfrage der Berichterstatterin am 8. Oktober 2015 erklärt, der Antrag auf Verpflichtung des Antragsgegners zur vorläufigen Übernahme der Unterkunftskosten für die Wohnung in der J.-straße 40 in M. habe sich erledigt.

Die Antragsteller beantragen nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,

ihnen unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Magdeburg vom 7. September 2015 und des Bescheides des Antragsgegners vom 7. Juli 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. September 2015 ab 9. Juni 2015 vorläufig Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu bewilligen.

Der Antragsgegner beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er verweist zur Begründung auf die den angegriffenen Beschluss tragenden Gründe.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Antragsgegners Bezug genommen.

II.

Die nach § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG nicht ausgeschlossen. Die Berufung im Hauptsacheverfahren wäre statthaft, da der Streitwert über 750 EUR liegt (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG). Die Antragsteller begehren die Weiterbewilligung von Leistungen nach dem SGB II für mindestens sechs Monate (§ 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II). Der Antragsgegner hatte ihnen bis Mai 2015 Leistungen in Höhe von 720 EUR/Monat bewilligt.

Die Beschwerde ist begründet. Das Sozialgericht hat zu Unrecht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Regelungsanordnung abgelehnt.

Das Gericht kann nach § 86b Abs. 2 SGG eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragsstellers erschwert oder wesentlich vereitelt wird. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung ist gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) stets die Glaubhaftmachung des Vorliegens sowohl eines Anordnungsgrunds (also die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile), als auch eines Anordnungsanspruchs (die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Hauptsache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs). Grundsätzlich soll wegen des vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung die endgültige Entscheidung der Hauptsache nicht vorweg genommen werden.

Der Beweismaßstab im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes erfordert im Gegensatz zu einem Hauptsacheverfahren für das Vorliegen der anspruchsbegründenden Tatsachen nicht die volle richterliche Überzeugung. Dies erklärt sich mit dem Wesen dieses Verfahrens, das wegen der Dringlichkeit der Entscheidung regelmäßig keine eingehenden, unter Umständen langwierigen Ermittlungen zulässt. Deshalb kann im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur eine vorläufige Regelung längstens für die Dauer des Klageverfahrens getroffen werden, die das Gericht in der Hauptsache nicht bindet.

Ein Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft gemacht, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen überwiegend wahrscheinlich sind. Dies erfordert, dass mehr für als gegen die Richtigkeit der Angaben spricht (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. § 86b Rn. 16b).

Die Antragsteller haben nicht ausdrücklich angegeben, ab welchem Zeitpunkt sie die Bewilligung vorläufiger Leistungen beanspruchen. Grundsätzlich kommt eine Verpflichtung zur Bewilligung von Leistungen für die Zeit vor Stellung des Antrags auf Erlass einer Regelungsanordnung nicht in Betracht. Das Rechtsmittel des einstweiligen Rechtsschutzes hat vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) die Aufgabe, in den Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung in dem grundsätzlich vorrangigen Verfahren der Hauptsache zu schweren und unzumutbaren, nicht anderes abwendbaren Nachteilen führen würde, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 22. November 2001, Az. 1 BvR 1586/02, NJW 2003 S. 1236 u. vom 12. Mai 2005, Az. 1 BvR 569/05, Breithaupt 2005, S. 803). Es beruht auf dem sozialhilferechtlichen, auch für das Recht des SGB II geltenden Grundsatz, dass Hilfe zum Lebensunterhalt im Wege der einstweiligen Anordnung nur zur Behebung einer gegenwärtigen Notlage zu erfolgen hat und grundsätzlich nicht rückwirkend zu bewilligen ist. Dies gilt nur dann nicht, wenn glaubhaft gemacht ist, dass eine in der Vergangenheit eingetretene Notlage in die Gegenwart hinein wirkt, wenn also fehlende oder unzulängliche Leistungen in der Vergangenheit wirtschaftliche Auswirkungen in der Gegenwart zeitigen. Eine insoweit rückwirkende Verpflichtung des Leistungsträgers zur vorläufigen Leistungsgewährung ist daher grundsätzlich vom Fortbestehen der Notlage oder von einem aktuell noch bestehenden Nachholbedarf abhängig (vgl. Beschluss des erkennenden Senats vom 26. August 2010, L 5 AS 353/10 B ER, Rn. 33, Juris).

Da die Antragsteller eine bereits vor Antragstellung eingetretene Notlage nicht geltend gemacht haben, geht der Senat davon aus, dass sie zulässigerweise die Gewährung vorläufiger Leistungen ab dem 9. Juni 2015 (Tag des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Regelungsanordnung beim Sozialgericht Magdeburg) begehren.

Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Sie erfüllen die Voraussetzungen der §§ 19, 7, 8 und 9 SGB II. Sie sind insbesondere hilfebedürftig nach § 9 SGB II, da sie nicht in der Lage sind, ihren Bedarf durch Einkommen oder Vermögen zu decken. Sie haben keinen Anspruch auf Sicherung des Lebensunterhaltes gegen den Bruder des Antragstellers aus der von ihm abgegebenen Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG.

Zum einen entfaltete diese mit Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG keine Wirkung mehr.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts endet die mit der Erklärung übernommene Unterhaltsverpflichtung nach Maßgabe der Auslegung im Einzelfall erst mit dem Ende des vorgesehenen Aufenthalts oder dann, wenn der ursprüngliche Aufenthaltszweck durch einen anderen ersetzt und dies aufenthaltsrechtlich anerkannt worden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. November 1998, 1 C 33.97, Rn. 34, Juris), bzw. wenn der Ausländer ein von der Sicherung des Lebensunterhaltes unabhängiges Aufenthaltsrecht erwirbt (vgl. BSG, Beschluss vom 16. Oktober 2010, B 8 AY 1/09 R, Rn. 7. Juris).

Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Nach § 23 Abs. 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass Ausländern aus bestimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Die Anordnung kann unter der Maßgabe erfolgen, dass eine Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG abgegeben wird. Die Regelung beinhaltet eine Anordnungsbefugnis auf Erteilung einer Aufnahmezusage (vgl. BVerwG, Urteil vom 11. November 2011, 1 C 21/10, Rn. 11, Juris). Sie ist allerdings daran gekoppelt ist, dass der Lebensunterhalt des Ausländers gesichert ist, hier durch die Abgabe der Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG. Mit Bescheid vom 24. März 2015 erhielten die Antragsteller eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 1. Alt. AufenthG, mithin einen neuen Aufenthaltstitel. Das Vorhandensein einer Verpflichtungserklärung setzt dieser Aufenthaltstitel gerade nicht voraus.

Zum anderen bietet die Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG für die Antragsteller keine Anspruchsgrundlage auf Zahlungen vom Bruder des Antragstellers. Gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 AufenthG hat, wer sich der Ausländerbehörde oder einer Auslandsvertretung gegenüber verpflichtet hat, die Kosten für den Lebensunterhalt eines Ausländers zu tragen. Er hat sämtliche öffentlichen Mittel zu erstatten, die für den Lebensunterhalt des Ausländers einschließlich der Versorgung mit Wohnraum und der Versorgung im Krankheitsfalle und bei Pflegebedürftigkeit aufgewendet werden, auch soweit die Aufwendungen auf einem gesetzlichen Anspruch des Ausländers beruhen. Nach Absatz 2 der Vorschrift bedarf die Verpflichtung der Schriftform; sie ist nach Maßgabe des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes vollstreckbar. Diese Regelung setzt die Befugnis der erstattungsberechtigten Stelle voraus, den Erstattungsanspruch durch Verwaltungsakt (Leistungsbescheid) geltend zu machen (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Februar 2014, 1 C 4/13, Rn. 8, Juris). Der Gesetzgeber hat mit dieser Vorschrift die Regressmöglichkeit der Behörden dem Garantiegeber gegenüber ausgestaltet (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 2013, Rn. 30, Juris), nicht Ansprüche zwischen ihm und den die Garantie betreffenden Ausländer regeln wollen.

Es besteht für den Erlass der begehrten einstweiligen Regelungsanordnung auch ein Anordnungsgrund. Da der Bruder des Antragstellers bestätigt hat, nicht mehr zu Zahlungen an die Antragsteller in der Lage zu sein, stehen ihnen mithin keine Mittel zur Verfügung, die ihnen das Bestreiten ihres Lebensunterhaltes ermöglichen. Die Antragsteller können auch nicht darauf verwiesen werden, sie erhielten Leistungen von Mitgliedern der islamischen Gemeinde. Nach den sich in den Akten befindlichen Bestätigungen handelt es sich um darlehensweise gewährte Zuwendungen. Sie mindern die Hilfebedürftigkeit der Antragsteller nicht (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 17. Juni 2010, B 14 AS 46/09). Der Senat hat - anders als offensichtlich das Sozialgericht - keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Mitglieder der islamischen Gemeinde den Antragstellern das Geld ohne Rückzahlungsverpflichtung, mithin in Form einer Schenkung, überlassen hätten.

Der Senat hat die Anordnung bis 30. November 2015 begrenzt. Nach § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II sollen Leistungen nach dem SGB II jeweils für sechs Monate bewilligt werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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