S 27 AS 274/13

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
27
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 27 AS 274/13
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Der Besuch einer Fachoberschule, durch den ein Anspruch auf Arbeitslosengeld I wegfällt und die Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II begründet wird, ist jedenfalls dann nicht sozialwidrig i. S. d. § 34 SGB II, wenn der Betroffene mit Ausbildungsförderung nach dem BAföG gerechnet hat, dies nicht abwegig war und das Motiv für den Schulbesuch eine berufliche Weiterbildung angesichts gesundheitlicher Probleme bei der Ausübung des früheren Berufes (hier: Krankenschwester und Altenpflegerin) war.

2. Die Geltendmachung eines Ersatzanspruches nach § 34 SGB II kann prinzipiell nicht gerichtlich in eine Rücknahme- und Erstattungsentscheidung nach §§ 45, 50 SGB X umgedeutet werden.
Die Bescheide vom 21. Januar 2013 und 22. Januar 2013 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 25. März 2013 werden aufgehoben.

Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen einen von dem Beklagten geltend gemachten Ersatzanspruch nach § 34 Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II).

Die 1986 geborene Klägerin arbeitete bis Juni 2010 als Krankenschwester und von Juli 2010 bis Juli 2011 als Altenpflegerin. Anschließend besuchte sie die Fachoberschule der C-Schule in B-Stadt, brach den Schulbesuch aber aufgrund einer tödlichen Erkrankung ihrer Mutter ab und bezog Arbeitslosengeld I. Mit Änderungsbescheid vom 4. Juli 2012 bewilligte die Bundesagentur für Arbeit der Klägerin Arbeitslosengeld I ab 1. Juni 2012 (Anspruchsdauer ab Änderungsbeginn: 152 Tage) in Höhe von 23,88 EUR täglich ab 1. August 2012. Am 25. Juli 2012 beantragte die Klägerin Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) beim Landkreis B-Stadt hinsichtlich eines erneuten Besuches der Fachoberschule der C-Schule. Am 31. Juli 2012 zog sie von A Stadt in das Haus ihres Vaters in D-Stadt, wo sie zum 1. August 2012 mehrere Räume anmietete. Ab dem 13. August 2012 besuchte sie die C-Schule in B-Stadt, Klasse 12 F 111 Schulform Fachoberschule Form B - Vollzeit.

Mit Bescheid vom 13. August 2012 lehnte der Landkreis B-Stadt die Bewilligung von Leistungen nach dem BAföG ab. Zur Begründung führte er aus, an der C-Schule würden in der 12. Klasse der Fachoberschule Schüler, die – wie die Klägerin – zuvor eine Berufsausbildung abgeschlossen hätten, gemeinsam mit Schülern unterrichtet, bei denen dies nicht der Fall sei. In der Verwaltungsvorschrift 2.1.23 zu § 2 BAföG sei geregelt, dass Schüler einer Klasse förderungsrechtlich gleich zu behandeln seien. Schüler einer "Mischklasse", die zuvor eine Berufsausbildung abgeschlossen hätten, dürften nicht besser behandelt werden als Mitschüler, die die Fachoberschule-Organisationsform A besuchten. Ausbildungsförderung für den Besuch von Fachoberschulklassen, deren Besuch eine abgeschlossene Berufsausbildung nicht voraussetze, werde aber nach § 2 Abs. 1a BAföG nur gewährt, wenn die Schüler nicht bei den Eltern wohnten und von der Wohnung der Eltern bzw. eines Elternteils aus eine zumutbare Ausbildungsstätte nicht erreichbar sei. Von der Wohnung des Vaters der Klägerin sei indes die C-Schule zumutbar erreichbar.

Mit Bescheid 13. August 2012 hob die Bundesagentur für Arbeit die Bewilligung von Arbeitslosengeld I ab dem 13. August 2012 wegen des Schulbesuches der Klägerin auf.

Mit Bescheid vom 15. August 2012 bewilligte die Deutsche Rentenversicherung Hessen der Klägerin Halbwaisenrente ab 1. August 2012 in Höhe von 163,57 EUR monatlich.

Am 24. August 2012 beantragte die Klägerin Leistungen nach dem SGB II bei dem Beklagten.

Gegen den ablehnenden BAföG-Bescheid erhob sie am 12. September 2012 Widerspruch, den sie unter anderem damit begründete, dass andere Schüler in ihrer Klasse BAföG-Leistungen erhielten.

Mit Bescheid vom 5. Oktober 2012 bewilligte der Beklagte der Klägerin Leistungen nach dem SGB II für September 2012 bis Januar 2013 (vorläufig), und zwar den Regelbedarf, in Höhe von 240,43 EUR monatlich. Eine Bewilligung von Leistungen für Unterkunft und Heizung erfolgte aufgrund von Zweifeln des Beklagten an der Wirksamkeit des Mietvertrages der Klägerin mit ihrem Vater nicht. Mit Änderungsbescheid vom 24. November 2012 bewilligte der Beklagte für Januar 2013 Leistungen in Höhe von 248,43 EUR.

Mit Schreiben vom 28. November 2012 hörte der Beklagte die Klägerin hinsichtlich einer beabsichtigten Geltendmachung eines Ersatzanspruches nach § 34 SGB II an. Mit Bescheid vom 21. Januar 2013 stellte der Beklagte fest, die Klägerin habe durch die Aufnahme einer nicht notwendigen Zweitausbildung ihre Hilfebedürftigkeit herbeigeführt. Sie habe durch den Bezug von Arbeitslosengeld I ihren Bedarf decken können. Dieser Anspruch sei durch die Aufnahme der nicht notwendigen Zweitausbildung entfallen. Die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II seien deshalb von der Klägerin zumindest grob fahrlässig herbeigeführt worden. Durch ihr Verhalten habe sie die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt. Sie habe erkennen können, dass dadurch Leistungen zur Sicherstellung ihres Lebensunterhaltes erbracht werden müssten. Daher sei sie zum Ersatz der deswegen gezahlten Leistungen verpflichtet (§ 34 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Mit Bescheid vom 22. Januar 2013 forderte der Beklagte die Klägerin zum Ersatz der im Zeitraum September 2012 bis Januar 2013 gezahlten Leistungen in Höhe von insgesamt 1.828,59 EUR auf. Gegen beide Bescheide legte die Klägerin am 31. Januar 2013 Widerspruch ein. Mit Widerspruchsbescheiden vom 25. März 2013 wies der Beklagte die Widersprüche zurück.

Am 8. April 2013 hat die Klägerin gegen beide Widerspruchsbescheide jeweils Klage erhoben (S 27 AS 274/13, S 27 AS 275/13), die mit Beschluss vom 7. Juli 2014 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung unter der Führung des Verfahrens S 27 AS 274/13 verbunden wurden.

Die Klägerin ist der Auffassung, ihr Verhalten sei nicht sozialwidrig im Sinne des § 34 SGB II gewesen. Dies sei nach der Rechtsprechung z. B. bei Arbeitsscheu oder Verschwendungssucht des Unterhaltspflichtigen der Fall. Eine vergleichbare Konstellation liege hier indes nicht vor. Die Beweggründe für ihren Entschluss, das Abitur nachzuholen, hätten vor allem im tragischen Tod ihrer Mutter und in der Tatsache gelegen, dass sie sich nicht in der Lage gesehen habe, im Krankenhaus oder Altersheim zu arbeiten, weswegen sie eine andere Tätigkeit angestrebt habe. Aufgrund körperlicher Leiden, insbesondere Rückenbeschwerden und Allergien gegen Desinfektionsmittel, sei ihr klar gewesen, dass sie die Tätigkeit als Krankenschwester oder Altenpflegerin nicht bis zur Rente werde ausüben können.

Die Klägerin beantragt,
die Bescheide vom 21. Januar 2013 und 22. Januar 2013 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 25. März 2013 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,
die Klagen abzuweisen.

Er hält an seiner Auffassung aus dem Vorverfahren fest. Ergänzend führt er aus, die Klägerin habe die Möglichkeit gehabt, den angestrebten Schulabschluss z. B. an einer Abendschule neben der Berufstätigkeit zu erlangen. Sie habe sich insofern sozialwidrig verhalten, denn sie habe sich selbst in die Lage gebracht, von der Solidargemeinschaft aufzubringende Mittel in Anspruch nehmen zu müssen. Die Klägerin habe bedingt vorsätzlich gehandelt, indem sie auf die vorrangig in Anspruch zu nehmenden Leistungen nach dem SGB III dadurch verzichtet habe, dass sie sich dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung gestellt habe. Ihr sei klar gewesen, dass sie damit eine Situation herbeigeführt habe, in der sie auf steuerfinanzierte Sozialleistungen angewiesen sein würde. Die Klägerin habe offenbar die Form einer Ganztagsschule gewählt, ohne sich vorher darüber zu informieren, ob sie in der Zeit der Ausbildung einen BAföG-Anspruch habe, wobei sie gewusst habe, dass ein Anspruch auf Arbeitslosengeld I nicht bestehe, solange sie dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Behördenakte Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

1. Die als (isolierte) Anfechtungsklagen (§ 54 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) statthaften und auch im Übrigen zulässigen Klagen sind begründet. Die angegriffenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten.

Weder hat der Beklagte den geltend gemachten Ersatzanspruch (a) noch können die Bescheide von der Kammer in rechtmäßige Entscheidungen umgedeutet werden (b).

a) Der Beklagte hat keinen Ersatzanspruch gegen die Klägerin nach § 34 Abs. 1 SGB II (in der hier anwendbaren ab 1. April 2011 geltenden Fassung).

Nach dieser Vorschrift ist derjenige, der nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach diesem Buch ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat, zum Ersatz der deswegen gezahlten Leistungen verpflichtet, wobei der Ersatzanspruch auch die geleisteten Beiträge zur Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung umfasst.

(1) Ob die ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung der rechtmäßigen Gewährung von Leistungen nach dem SGB II vorliegt, kann offen bleiben. Die Ersatzpflicht nach § 34 Abs. 1 SGB II n. F. begründen – im Gegensatz zu dem hier nicht einschlägigen § 34a SGB II – nur rechtmäßig gewährte Leistungen (Grote-Seifert, in: jurisPK-SGB II, § 34 Rn. 16, Stand: 10. März 2015; Link, in: Eicher, SGB II, 3. Aufl. 2013, § 34 Rn. 6; zu § 34 SGB II a. F. noch offen gelassen von BSG, Urteil vom 16.04.2013 - B 14 AS 55/12 R -, juris, Rn. 26). Nach Auffassung des Beklagten in dem noch beim Sozialgericht Gießen anhängigen Verfahren S 27 AS 276/13 soll allerdings § 9 Abs. 5 SGB II der Hilfebedürftigkeit der Klägerin ab Februar 2013 entgegenstehen, weil sie in einer Haushaltsgemeinschaft mit ihrem Vater gelebt habe. Dies kann indes vorliegend dahinstehen, denn die angegriffenen Bescheide sind bereits aus anderen Gründen rechtswidrig.

(2) Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 34 SGB II liegen schon deshalb nicht vor, weil die Klägerin sich nicht sozialwidrig verhalten hat.

§ 34 SGB II setzt als objektives Tatbestandsmerkmal ein sozialwidriges Verhalten voraus. Diese ungeschriebene eingrenzende Tatbestandsvoraussetzung ist erforderlich, weil es sich bei § 34 SGB II um eine Ausnahme von dem Grundsatz handelt, dass existenzsichernde und bedarfsabhängige Leistungen, auf die ein Rechtsanspruch besteht, regelmäßig unabhängig von der Ursache der entstandenen Notlage und einem vorwerfbaren Verhalten in der Vergangenheit zu leisten sind. Dieser Grundsatz der verschuldensunabhängigen Deckung des Existenzminimums darf nicht durch eine weitreichende und nicht nur auf begründete und eng zu fassende Ausnahmefälle begrenzte Ersatzpflicht konterkariert werden (BSG, Urteil vom 02.11.2012 - B 4 AS 39/12 R -, juris, 19). Die Sozialwidrigkeit des Verhaltens ist deshalb auch nicht erst eine Frage des Nichtvorliegens eines wichtigen Grundes im Einzelfall (BSG, Urteil vom 16.04.2013 - B 14 AS 55/12 R -, juris, Rn. 18). Die Notwendigkeit einer einschränkenden Voraussetzung ergibt sich auch aus dem Umstand, dass der Ersatzanspruch nach § 34 SGB II dem Wortlaut nach nicht höhenmäßig begrenzt ist, wobei der Gesetzgeber zum 1. April 2011 § 34 SGB II ausdrücklich als Ersatzanspruch "wegen sozialwidrigem Verhalten" bezeichnet hat und dieses Merkmal in den Gesetzesmaterialien (vgl. BT-Drucks. 17/3404 S. 113) explizit erwähnt worden ist (BSG, Urteil vom 16.04.2013 B 14 AS 55/12 R -, juris, Rn. 19).

Ein sozialwidriges Verhalten in diesem Sinne liegt nur dann vor, wenn das Verhalten in seiner Handlungstendenz auf die Einschränkung oder den Wegfall der Erwerbstätigkeit oder Erwerbsmöglichkeit oder die Herbeiführung von Hilfebedürftigkeit oder der Leistungserbringung gerichtet war oder hiermit in spezifischem Zusammenhang stand oder wenn ein spezifischer Bezug zu anderen nach den Wertungen des SGB II zu missbilligenden Verhaltensweisen bestand (BSG, Urteil vom 02.11.2012 - B 4 AS 39/12 R -, juris, 16; Urteil vom 16.04.2013 - B 14 AS 55/12 R -, juris, Rn. 20). Erforderlich für die Annahme eines sozialwidrigen Verhaltens ist, dass die Existenzgrundlage, deren Erhalt das SGB II vor allem auch mit aktiven Leistungen schützt, durch das maßgebliche Verhalten selbst unmittelbar beeinträchtigt wird oder wegfällt (BSG, Urteil vom 16.04.2013 - B 14 AS 55/12 R -, juris, Rn. 21).

Unter Anwendung dieser Maßstäbe war das Verhalten der Klägerin nicht sozialwidrig.

Das Verhalten der Klägerin – der Schulbesuch – war in seiner Handlungstendenz nicht darauf gerichtet, die Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II herbeizuführen und stand auch hiermit nicht in einem spezifischen Zusammenhang. Die Klägerin hat die Schule nicht deshalb besucht, um Leistungen nach dem SGB II zu beziehen. Sie hat auch offenbar bei Schulbeginn nicht daran gedacht, auf Leistungen nach dem SGB II angewiesen zu sein. Das zeigt sich bereits darin, dass sie zunächst einen BAföG-Antrag gestellt und erst elf Tage nach dessen Ablehnung einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II gestellt hat, wobei sie die Ablehnung von BAföG-Leistungen nicht akzeptiert, sondern mit plausibler Begründung Widerspruch dagegen eingelegt hat. Es war für die Klägerin auch nicht naheliegend, dass sie keinen BAföG-Anspruch haben würde. Denn nach dem Wortlaut von § 2 Abs. 1a BAföG gilt die einschränkende Anspruchsvoraussetzung, dass der Auszubildende nicht bei den Eltern wohnt und von deren Wohnung eine zumutbare Ausbildungsstätte nicht erreichbar ist, nur für Ausbildungsstätten nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 BAföG, d. h. gerade nicht für Fachoberschulen, die eine abgeschlossene Berufsausbildung voraussetzen (§ 2 Abs. 1 Nr. 3 BAföG). Die Schulform, die die Klägerin besuchte – Fachoberschule B Vollzeit – war aber eine solche i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 3 BAföG. Ob die Entscheidung des Landkreises rechtmäßig ist, kann dahinstehen. Denn dies ändert nichts an dem Umstand, dass die Handlungstendenz der Klägerin nicht auf die Erlangung von SGB II – Leistungen abzielte.

Der Schulbesuch war auch nicht auf eine Beeinträchtigung der Existenzgrundlage der Klägerin gerichtet. Sie stand nicht in einem unbefristeten, zur Sicherstellung des Lebensunterhaltes ausreichenden Beschäftigungsverhältnis, sondern sie war arbeitslos und bezog Arbeitslosengeld I mit einer Restanspruchsdauer von weniger als zwei Monaten. Die vorliegende Konstellation unterscheidet sich damit deutlich von derjenigen, in der ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis, mit dem der Lebensunterhalt sichergestellt wurde, ohne konkrete Aussicht auf eine Anschlusstätigkeit mit der Folge einer Sperrzeitverhängung gekündigt wird. Diese Fälle werden als grundsätzlich sozialwidrig eingeordnet (vgl. z. B. LSG Nordrhein-Westfalen, NZS 2013, 794; LSG Hessen, Urteil vom 16.03.2012 - L 7 AS 314/11 -), wobei allerdings sogar dort ein wichtiger Grund vorliegen kann, der das Unwerturteil der Sozialwidrigkeit ausschließt, z. B. dann, wenn der Betroffene eine ungelernte Tätigkeit aufgibt, um durch den Abschluss einer Berufsausbildung den Lebensunterhalt bzw. die wirtschaftliche Stellung für sich und seine Familie zu sichern oder zu verbessern (SG Freiburg, NSZ 2010, 591).

Das Verhalten der Klägerin läuft auch nicht den Wertungen des SGB II zuwider. Motivation der Klägerin war, sich fortzubilden, eine Arbeitsstelle zu finden und damit ihre Existenzgrundlage zu sichern. Dieses Verhalten wird vom SGB II nicht missbilligt. Jedenfalls nach dem Ende des Bezuges von Arbeitslosengeld I wäre die Klägerin mit hoher Wahrscheinlichkeit leistungsberechtigt nach dem SGB II gewesen. Der Schulbesuch der Klägerin steht daher mit dem Grundsatz des Forderns in § 2 SGB II in Einklang, weil sie beabsichtigte, die Hilfebedürftigkeit zu verhindern oder jedenfalls zeitlich zu begrenzen. Anders als der Beklagte meint, ist eine Ausbildung zudem nicht nur zum erstmaligen Erlangen eines Berufsabschlusses gerechtfertigt (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 04.03.2014 - L 29 AS 814/11 - juris, Rn. 48).

Zudem wird in der Rechtsprechung ein sozialwidriges Verhalten bereits dann nicht verneint, wenn der Betroffene für die Aufgabe einer Beschäftigung plausible Gründe anführen kann, etwa gesundheitliche Probleme durch die Berufsausübung, oder wenn eine berufliche Neuorientierung durch eine zusätzliche Aus- und Weiterbildung angestrebt wird (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 04.03.2014 - L 29 AS 814/11 - juris, Rn. 46 ff.). Auch unter diesem Gesichtspunkt hat sich die Klägerin nicht sozialwidrig verhalten. Denn Grund für ihre schulische Weiterbildung waren auch gesundheitliche Probleme, die mit der Ausübung ihres Berufes als Krankenschwester und als Altenpflegerin offenbar schwer zu vereinbaren waren. Nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 SGB II ist eine Arbeit, zu der eine Person körperlich, geistig oder seelisch nicht in der Lage ist, unzumutbar. Die Einschätzung der Klägerin, sie werde den anstrengenden Beruf einer Krankenschwester oder Altenpflegerin aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkungen nicht bis zum Rentenalter ausüben können, ist für die Kammer nachvollziehbar.

(3) Auf die Frage, ob das Verhalten der Klägerin deren Hilfebedürftigkeit herbeigeführt hat, kommt es daher ebenso wenig an wie darauf, ob sie sich auf einen wichtigen Grund berufen kann und ihr Vorsatz oder zumindest grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann.

b) Die angegriffenen Bescheide können auch nicht durch das Gericht in rechtmäßige Verwaltungsakte umgedeutet werden.

Nicht nur Behörden (§ 43 SGB Zehntes Buch Sozialgesetzbuch Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - SGB X), sondern auch Gerichte haben die Befugnis zur Umdeutung von Verwaltungsakten. Die Grundsätze des § 43 SGB X sind mithin auch im gerichtlichen Verfahren anwendbar (BSG, Urteil vom 02.04.2014 - B 67 KA 15/13 R -, juris, Rn. 29).

Eine Umdeutung der angegriffenen Bescheide in eine Rücknahmeentscheidung nach § 45 SGB X und eine Erstattungsentscheidung nach § 50 SGB X scheidet indes aus. Zwar vertritt der Beklagte in dem Verfahren S 27 AS 276/13 die Auffassung, dass die Klägerin bereits nach § 9 Abs. 5 SGB II wegen des Zusammenlebens mit ihrem Vater nicht bedürftig war, sodass danach die Bewilligung der Regelleistung rechtswidrig wäre und unter den weiteren Voraussetzungen des § 45 SGB X zurückgenommen werden könnte.

Eine gerichtliche Umdeutung scheidet aber (nach § 43 Abs. 2 SGB X entsprechend) aus, wenn der Verwaltungsakt, in den der fehlerhafte Verwaltungsakt umzudeuten wäre, der erkennbaren Absicht der erlassenden Behörde widerspräche. Dies ist vorliegend der Fall. Ein auf § 34 SGB II gestütztes Verlangen auf Erstattung rechtmäßig gewährter Leistungen kann nicht in einen Rücknahmebescheid nach § 45 SGB X umgedeutet werden, wenn sich herausstellt, dass die Leistungen tatsächlich zu Unrecht erbracht wurden. Eine solche Auslegung widerspräche bereits der erkennbaren Absicht des Behörde (in diesem Sinne Grote-Seifert, in: jurisPK-SGB II, § 34 Rn. 60, Stand: 10.03.2015; Link, in: Eicher, SGB II, 3. Aufl. 2013, § 34 Rn. 60; vgl. zu § 92c Bundessozialhilfegesetz BVerwG, Urteil vom 21.10.1987 - 5 C 39/85 -, juris, Rn. 12). Der Beklagte hat zudem offenbar bewusst die bewilligten Leistungen nicht aufgehoben, da er am 23. Januar 2013 einen Weiterbewilligungsantrag der Klägerin unter Heranziehung von § 9 Abs. 5 SGB II abgelehnt hat und nicht ersichtlich ist, inwiefern sich die rechtliche Bewertung des Weiterbewilligungsantrages von der des bereits bewilligten Antrages unterscheiden könnte.

Zudem würde eine Umdeutung auch deshalb nicht in Betracht kommen, weil es an einer notwendigen Ermessensausübung des Beklagten fehlt (vgl. § 43 Abs. 3 SGB X). Denn die Rücknahme der Leistungsbewilligung setzt vorliegend eine Ermessensbetätigung nach § 45 Abs. 1 SGB X voraus, weil ein Fall des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X nicht vorliegt.

2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved