S 37 AS 26238/15 ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
37
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 37 AS 26238/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Nach ständiger Rechtsprechung des EUGH ist der Arbeitnehmerbegriff anhand objektiver Kriterien zu definieren, die das Arbeitsverhältnis im Hinblick auf die Rechte und Pflichten der Betroffenen kennzeichnen.

Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses liegt darin, dass eine Person während einer bestimmten Zeit für eine andere nach deren Weisung Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält.

Eine geringe Produktivität, eine verringerte Anzahl von Wochenarbeitsstunden und eine nur beschränkte Vergütung ändert die Einordnung als Arbeitnehmer nicht.

EU-Bürger mit einem Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG haben Anspruch auf Sicherung ihres Existenzminimums.

Es kann offen bleiben, ob die Zeit bis zum Beginn einer Beschäftigung auf der Grundlage eines abgeschlossenen Arbeitsvertrages schon eine Arbeitnehmer-Freizügigkeit begründet.
Streiten Jobcenter und Sozialamt über ihre Zuständigkeit, ist der erstangegangenen Träger nach § 43 SGB I zur Leistung verpflichtet.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für den Zeitraum vom 22.12.2015 bis zum 30.4.2016 SGB II-Leistungen in gesetzlich zustehender (§§ 20, 22 SGB II) Höhe zu bewilligen. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe:

I.

Der Antragsteller (Ast.) ist italienischer Staatsbürger. Er reiste im November 2013 erstmals ins Bundesgebiet ein.

In der Zeit vom 18.5.2015 bis zum 31.10.2015 war er als Service-Kraft beschäftigt. Laut Arbeitsvertrag war eine Arbeitszeit von 23,5 Stunden monatlich gegen ein Entgelt von 200 EUR vereinbart worden.

Abgerechnet und ausgezahlt wurde: Im Mai 150 EUR, im Juni 250 EUR, im Juli und August 240 EUR, im Oktober 85 EUR.

Das Arbeitsverhältnis wurde am 18.10.2015 zum 31.10.2015, dem Ende der vereinbarten Probezeit, gekündigt. Das Kündigungsschreiben enthält den Zusatz: "Die Kündigung erfolgt einvernehmlich".

Am 12. November 2015 beantragte der Ast. Alg II. Der Antragsgegner (Ag.) lehnte den Antrag mit Bescheid vom 27.11.2015 ab; der Ast. habe die Beschäftigung freiwillig beendet und sei daher nur als Arbeitsuchender freizügigkeitsberechtigt. Damit unterliege er dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB II.

Mit Eilantrag bei Gericht vom 22.12.2015 fordert der Ast. die Übernahme der Kosten für seinen laufenden Lebensunterhalt und die Miete von 261,50 EUR.

Auf einen vorsorglichen Antrag beim Sozialamt hatte er die Auskunft erhalten, dass wegen § 21 SGB XII kein Anspruch auf Sozialhilfe bestehen könne, der Antrag auf Alg II solle weiterverfolgt werden.

Der Ag. wendet ein, dass die von Mai bis Oktober 2015 ausgeübte Tätigkeit so geringfügig gewesen sei, dass schon ungeachtet der Umstände der Beendigung dieser Tätigkeit keine Arbeitnehmereigenschaft bestanden habe.

Dazu, ob ein Leistungsanspruch ab 20.1.2016 anerkannt werde – dann beginnt eine Beschäftigung des Ast. im Umfang von 10 Stunden wöchentlich mit einem Entgelt von 8,50 EUR/Std. nach einem am 17.12.2015 abgeschlossenen Arbeitsvertrag - hat sich der Ag. nicht geäußert.

II.

Der Antrag nach § 86 b Abs. 2 SGG, der auch als fristgemäßer Widerspruch gegen den Bescheid vom 27.11.2015 gewertet werden kann, ist zulässig und begründet.

Eine Notlage, d. h. fehlende Mittel zur Sicherstellung des Existenzminimums, ist hinreichend glaubhaft gemacht worden. Den ersten Lohn (in voraussichtlicher Höhe von ca. 360 EUR) wird der Ast. erst im Februar 2016 erhalten.

Nach summarischer Prüfung ist der Ast. als "Arbeitnehmer" freizügigkeitsberechtigt und unterfällt daher nicht dem Leistungsausschluss bloß arbeitsuchender Personen.

Die vom 18.5.2015 bis zum 31.10.2015 ausgeübte Tätigkeit hatte einen Arbeitnehmerstatus i. S. der Freizügigkeitsregelungen begründet.

Der Arbeitnehmerbegriff nach der Freizügigkeits-RL kann nicht durch Verweis auf Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten definiert werden, sondern muss innerhalb der Unionsrechtsordnung autonom und einheitlich ausgelegt werden.

Er ist nach ständiger Rechtsprechung des EUGH anhand objektiver Kriterien zu definieren, die das Arbeitsverhältnis im Hinblick auf die Rechte und Pflichten der Betroffenen kennzeichnen. In diesem Kontext besteht das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses darin, dass eine Person während einer bestimmten Zeit für eine andere nach deren Weisung Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält (z. B. C-596/12).

In Zusammenhang mit Entscheidungen zur Einordnung von Praktikanten als Arbeitnehmer bei Massenentlassungsanzeigen (C-229/14 vom 9.7.2015) hat der EUGH ausgeführt, dass an der Einordnung als Arbeitnehmer auch der Umstand nichts ändere, dass die Produktivität des Betreffenden gering ist, er keiner Vollzeitbeschäftigung nachgeht und deshalb nur eine verringerte Anzahl von Wochenarbeitsstunden leistet und er infolgedessen nur eine beschränkte Vergütung erhält (s. auch C-66/85; C-3/90; C-188/00; C-109/04).

Erst recht ändert der ergänzende Bezug von Alg II nicht die objektive Einordnung unter den europarechtlichen Arbeitnehmerbegriff (z. B. C-14/09). So hat jüngst das LSG Schleswig-Holstein (L 6 AS 197/15 B ER vom 11.11.2015) eine stundenweise Tätigkeit als Haushaltshelferin gegen eine Vergütung von 200 EUR als ausreichend gewertet.

Der Ast. war demnach zweifelsfrei als Arbeitnehmer beschäftigt. Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses hat den Arbeitnehmerstatus unter Berücksichtigung der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur eingeschränkten Prüfmöglichkeit (die frühere Arbeitgeberin war weder telefonisch noch postalisch zu erreichen) nicht entfallen lassen. Denn nach dem Arbeitsvertrag konnte die Probearbeitszeit mit sofortiger Kündigung von beiden Seiten beendet werden. Die Probezeit lief zum 31.10.2015 ab. Dies legt die Annahme nahe, dass mit der Kündigung zum 31.10.2015 diese erleichterte Kündigungsmöglichkeit genutzt werden sollte.

Der Zusatz "Die Kündigung erfolgt einvernehmlich" besagt nicht zwingend, dass es sich um einen Aufhebungsvertrag handelt oder der Beendigungswille vom Ast. ausging. Die Kündigungserklärung mit der vorsorglichen Kündigung zum nächstzulässigen Termin deutet eher darauf hin, dass sich die Arbeitgeberin gegen eine Kündigungsschutzklage absichern wollte.

Prima facie spricht daher mehr für eine Fortwirkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit, woraus sich ein Anspruch auf SGB II-Leistungen im Beschlusszeitraum bis zum 19.1.2016 ergibt.

Ab dem 20.1.2016 ist der Ast. aus den dargelegten Gründen in jedem Fall als Arbeitnehmer leistungsberechtigt.

Es kann offen bleiben, ob nach dem Gedanken der Freizügigkeit bereits der Abschluss des neuen Arbeitsvertrages am 17.12.2015 eine Vorwirkung zu Gunsten eines SGB II-Leistungsanspruchs begründen könnte. Geht man nicht so weit, allein den Abschluss eines Arbeitsvertrages als statusbegründend zu werten, könnte einem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB II aber ein restriktives Verständnis dieser Norm (dazu BSG vom 30.1.2013 – B 4 AS 54/12 R) in dem Sinne entgegenstehen, dass sich der Ast. neben der Arbeitsuche auch zum Zweck der in kürze bevorstehenden Arbeitsaufnahme, also nicht "allein" zur Arbeitsuche, im Bundesgebiet aufhält.

Immerhin ist der Neuregelung des Freizügigkeitsgesetzes vom 8.12.2014 (§ 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG) zu entnehmen, dass ein Freizügigkeitsrecht nach Ablauf der sechsmonatigen Arbeitsuche nach Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses erhalten bleibt, wenn der Arbeitslose weiter ernsthaft Arbeit sucht und "begründete Aussicht" auf Einstellung hat. Dies ist hier nachgewiesen.

Damit steht auch unter Berücksichtigung der EuGH-Urteile Dano und Alimanovic fest, dass sich der Ast. auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und damit im Geltungsbereich des Grundgesetzes legal und mit unangreifbarem Bleiberecht aufhält, so dass er den Grundrechtsanspruch auf Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums genießt.

Als Menschenrecht steht dieses Grundrecht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu. Der objektiven Verpflichtung aus Art 1 Abs. 1 GG korrespondiert ein individueller Leistungsanspruch, da das Grundrecht die Würde jedes einzelnen Menschen schützt und sie in der gegebenen Situation nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann.

Frerichs (ZESAR 2014, S. 279 ff) hat überzeugen und in gewissem Sinne die BSG-Urteile von Dezember 2015 vorwegnehmend aufgezeigt, dass ein Verweis auf eine Rückkehr ins Heimatland bzw. auf die Mittel, um diese Rückreise zu finanzieren, mit der Verfassungsrechtsprechung zum Recht auf Sicherstellung des Lebensunterhalts auf dem Niveau einer durch die Regelbedarfe nach §§ 20, 22 SGB II definierten Mindestsicherung nicht zu vereinbaren ist. Erst recht ist die (sozialpolitische) Absicht einer Verhinderung des Zuzugs hilfebedürftiger Menschen aus "armen" EU-Staaten kein Argument, das vor Art. 1 GG Bestand hat (dazu sehr klar Frerichs, a.a.O., S.238).

Selbst wenn man den unabweisbaren Anspruch auf Mindest-Sicherung unter Berücksichtigung des EUGH-Urteils vom 15.9.2015 (Alimanovic) im SGB XII verortet und den Ast. als bloß arbeitsuchend auf das Sozialamt verweist, steht dies unter den gegebenen Umständen einer Verpflichtung des Antragsgegners nicht entgegen. Denn die Sozialämter lehnen derzeit eine Leistungsverpflichtung für erwerbsfähige Antragsteller, wie hier, ab. So ist auch das Schreiben des Sozialamtes vom 28.12.2015 zu verstehen.

Der Ast. hat daher zumindest nach § 43 SGB I Anspruch darauf, dass sein zweifelsfrei bestehender Anspruch auf Existenzsicherung vom erstangegangenen Träger, dem Jobcenter, erfüllt wird.

Mit Zuerkennung laufender Leistungen ab 22.12.2015, dem Tag des Eingangs des Eilantrags bei Gericht bis zum Ablauf eines regulären Bewilligungsabschnitts, gerechnet vom Leistungsantrag (12.11.2015) an, ist die glaubhaft gemachte Notlage abgewendet.

Das Gericht hat auf Leistungen dem Grunde nach erkannt, weil die Höhe des Erwerbseinkommens ab Februar 2016 noch nicht feststeht.

Vorsorglich weist das Gericht darauf hin, dass der Bezug von Alg II auch als Beschlussleistung den Krankenversicherungsschutz nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V begründet und zu einer Anmeldung bei der Krankenkasse verpflichtet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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