S 2 SO 146/15 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 2 SO 146/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller ab dem 01.05.2015 vorläufig Grundsicherungsleistungen unter Anrechnung eines Einkommens von 19,99 Euro aus der deutschen Rentenversicherung und ihn Höhe von 260 Euro aus dem Rentenfonds der Russischen Föderation nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu leisten. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.
Der Antragsteller begehrt einstweiligen Rechtsschutz im Hinblick auf die Versagung von Grundsicherungsleistungen unter Hinweis auf die Möglichkeit eine Rente in Russland geltend machen zu können.

Dem Antragsteller wurden mit Bescheid vom 11.03.2014 seinerzeit gemeinsam mit seiner Ehefrau ergänzende Grundsicherungsleistungen zu den Altersrenten aus der Deutschen Rentenversicherung bis September 14 einschließlich bewilligt.

Sodann wurde der Antragsgegnerin bekannt, dass der Antragsteller Anspruch auf die Leistung einer Rente aus Russland habe, diese aber nicht geltend mache. Die Ehefrau des Antragstellers ist Spätaussiedlerin und bekommt Rentenleistungen aus der Deutschen Rentenversicherung unter Anrechnung der in der ehemaligen Sowjetunion zurückgelegten Rentenzeiten nach Maßgabe des Fremdrentengesetzes. Der Antragsteller ist Ehegatte einer Spätaussiedlerin im Sinne des § 7 Abs.2 Bundesvertriebenengesetzes, kann aber mangels eigenen Spätaussiedlerstatus keine Anrechnung der in der ehemaligen Sowjetunion zurückgelegten Zeiten in der Deutschen Rentenversicherung erreichen.

Mit Bescheid vom 30.04.2014 lehnte die Antragsgegnerin die Grundsicherungsleistungen für die Eheleute N mangels Mitwirkung ab. Auf den Inhalt des Bescheids (Bl. 224 ff. der Verwaltungsakte) wird Bezug genommen. Durch Teilabhilfebescheid vom 06.08.2014 wurden nur noch der Ehefrau des Antragstellers ergänzende Grundsicherungsleistungen bis September 2014 bewilligt. Auf den Inhalt des Bescheids wird Bezug genommen. Dagegen erhob der Antragsteller Widerspruch. Durch Bescheid vom 02.09.2014 wurden für das Zeitintervall vom Oktober 2014 bis September 2015 in gleicher Weise nur der Ehefrau ergänzende Grundsicherungsleistungen bewilligt. Auf den Inhalt des Bescheids (Bl. 224 ff. der Verwaltungsakte) wird Bezug genommen. Dagegen erhob der Antragsteller ebenfalls Widerspruch. Mit Widerspruchsbescheid vom 16.09.2014 wurden die Widersprüche zurückgewiesen. Dagegen hat der Antragsteller Klage erhoben, die unter dem Aktenzeichen S 2 SO 271/14 hier anhängig ist.

Der Antragsteller begehrt nun mit dem hiesigen Verfahren einstweiligen Rechtsschutz.

Er beantragt,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts mindestens in Höhe der Regelleistung ab dem Monat 2014 zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Zur Begründung verweist sie auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid. Der Antragsteller könne eine Rente in Russland beantragen. Dies habe er nicht getan. Somit habe er seine Mitwirkungspflicht im Antragsverfahren über die Gewährung der Grundsicherung verletzt, weswegen ihm die Leistungen mangels Mitwirkung zu versagen seien.

Für die weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte, die Gerichtsakte des Verfahrens S 2 SO 271/14 und die beigezogenen Akten des Verwaltungsverfahrens.

II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Gemäß § 86 b Abs. 2 S. 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus.

Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander, es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung derart, als die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG - Kommentar, 8. Auflage, § 86 b Rdnrn. 27 und 29 m. w. N.). Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an einen Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sind insbesondere die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müssen sich die Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. zuletzt Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05).

Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. m. § 86 b Abs. 2 S. 4 SGG glaubhaft zu machen. Die Glaubhaftmachung bezieht sich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes (vgl. Meyer-Ladewig, a. a. O., Rdnrn. 16 b, 16 c, 40).

Hiervon ausgehend hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund in Bezug auf die aus dem Tenor angeordnete Leistung glaubhaft gemacht.

Soweit die Antragsgegnerin die Leistungen mangels Mitwirkung abgelehnt hat, ist die Vorgehensweise unzutreffend. Es handelt sich nicht um einen Fall mangelnder Mitwirkung.

Kommt derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 nicht nach und wird hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert, kann der Leistungsträger gemäß § 66 Abs.1 SGB I ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind. Dies gilt entsprechend, wenn der Antragsteller oder Leistungsberechtigte in anderer Weise absichtlich die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert.

Wer Sozialleistungen beantragt oder erhält, hat gemäß § 60 Abs.1 SGB I 1. alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind, und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers der Erteilung der erforderlichen Auskünfte durch Dritte zuzustimmen, 2. Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind oder über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abgegeben worden sind, unverzüglich mitzuteilen, 3. Beweismittel zu bezeichnen und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers Beweisurkunden vorzulegen oder ihrer Vorlage zuzustimmen. § 61 SGB I formuliert, wann der Antragsteller persönlich zu erscheinen hat, § 62 SGB I formuliert die Duldung von medizinischen Untersuchungen und § 63 SGB I die Obliegenheit zur Heilbehandlung.

Hiervon ausgehend hat der Antragsteller keine Mitwirkungspflicht verletzt. Er hat offengelegt, dass er Rentenansprüche in Russland haben könnte. Er hat insofern den Standpunkt eingenommen, dass er diese nicht beantragen könne. Das erfüllt keinen der oben dargestellten Tatbestände aus § 60 ff SGB I.

Der Antragsteller hat jedoch keinen Anspruch auf Zahlung von Grundsicherung ohne jede Beachtung seiner Möglichkeit, die russische Rente zu beanspruchen.

Denn die Leistung der Grundsicherung nach dem 4. Kapitel des SGB XII setzt auch eine Bedürftigkeit des Antragstellers voraus.

Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel dieses Buches ist gemäß § 19 Abs. 2 SGB XII Personen zu leisten, die die Altersgrenze nach § 41 Absatz 2 erreicht haben oder das 18. Lebensjahr vollendet haben und dauerhaft voll erwerbsgemindert sind, sofern sie ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen, bestreiten können. Die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gehen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel vor.

Zum Einkommen gehören gemäß § 82 Abs. 1 SGB XII alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert mit Ausnahme der Leistungen nach diesem Buch, der Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz und nach den Gesetzen, die eine entsprechende Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes vorsehen und der Renten oder Beihilfen nach dem Bundesentschädigungsgesetz für Schaden an Leben sowie an Körper oder Gesundheit, bis zur Höhe der vergleichbaren Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz. § 82 Abs.2 SGB XII beschreibt dann das Schonvermögen.

Einzusetzen ist gemäß § 90 SGB XII ferner das gesamte verwertbare Vermögen. Die Sozialhilfe darf dabei nach § 90 Abs.2 SGB XII nicht abhängig gemacht werden vom Einsatz oder von der Verwertung 1. eines Vermögens, das aus öffentlichen Mitteln zum Aufbau oder zur Sicherung einer Lebensgrundlage oder zur Gründung eines Hausstandes erbracht wird, 2. eines Kapitals einschließlich seiner Erträge, das der zusätzlichen Altersvorsorge im Sinne des § 10a oder des Abschnitts XI des Einkommensteuergesetzes dient und dessen Ansammlung staatlich gefördert wurde, 3. eines sonstigen Vermögens, solange es nachweislich zur baldigen Beschaffung oder Erhaltung eines Hausgrundstücks im Sinne der Nummer 8 bestimmt ist, soweit dieses Wohnzwecken behinderter (§ 53 Abs. 1 Satz 1 und § 72) oder pflegebedürftiger Menschen (§ 61) dient oder dienen soll und dieser Zweck durch den Einsatz oder die Verwertung des Vermögens gefährdet würde, 4. eines angemessenen Hausrats; dabei sind die bisherigen Lebensverhältnisse der nachfragenden Person zu berücksichtigen, 5. von Gegenständen, die zur Aufnahme oder Fortsetzung der Berufsausbildung oder der Erwerbstätigkeit unentbehrlich sind, 6. von Familien- und Erbstücken, deren Veräußerung für die nachfragende Person oder ihre Familie eine besondere Härte bedeuten würde, 7. von Gegenständen, die zur Befriedigung geistiger, insbesondere wissenschaftlicher oder künstlerischer Bedürfnisse dienen und deren Besitz nicht Luxus ist, 8. eines angemessenen Hausgrundstücks, das von der nachfragenden Person oder einer anderen in den § 19 Abs. 1 bis 3 genannten Person allein oder zusammen mit Angehörigen ganz oder teilweise bewohnt wird und nach ihrem Tod von ihren Angehörigen bewohnt werden soll. Die Angemessenheit bestimmt sich nach der Zahl der Bewohner, dem Wohnbedarf (zum Beispiel behinderter, blinder oder pflegebedürftiger Menschen), der Grundstücksgröße, der Hausgröße, dem Zuschnitt und der Ausstattung des Wohngebäudes sowie dem Wert des Grundstücks einschließlich des Wohngebäudes, 9. kleinerer Barbeträge oder sonstiger Geldwerte; dabei ist eine besondere Notlage der nachfragenden Person zu berücksichtigen.

Die Sozialhilfe darf gemäß § 90 Abs.3 SGB XII ferner nicht vom Einsatz oder von der Verwertung eines Vermögens abhängig gemacht werden, soweit dies für den, der das Vermögen einzusetzen hat, und für seine unterhaltsberechtigten Angehörigen eine Härte bedeuten würde. Dies ist bei der Leistung nach dem Fünften bis Neunten Kapitel insbesondere der Fall, soweit eine angemessene Lebensführung oder die Aufrechterhaltung einer angemessenen Alterssicherung wesentlich erschwert würde.

Hiervon ausgehend stellt die Rentenanwartschaft aus der Tätigkeit in der damaligen Sowjetunion eine Vermögensposition dar, mit der der Antragsteller seinen Bedarf zumindest anteilig decken kann. Der Antragssteller verfügt über ein russisches Arbeitsbuch mit dem er die in der damaligen Sowjetunion zurückgelegten Zeiten gegenüber dem Rentenfonds der Russischen Föderation geltend machen kann. Das Eintrittsalter in die Regelrente liegt dort für Männer bei 60 Jahren. Der Antragsteller hat im hiesigen Verfahren dargelegt, dass er diesen Anspruch letztmalig im Jahre 2003 verfolgt hat. Seit dem haben sich die Möglichkeiten, die russische Rente auch aus der Bundesrepublik Deutschland heraus geltend zu machen, deutlich verbessert. Dem Antragsteller ist es daher zumutbar, seinen sozialhilferechtlichen Bedarf aus dieser Vermögensposition zu decken. Die Rente aus dem Rentenfonds der Russischen Föderation wird dabei nicht den vollständigen sozialhilferechtlichen Bedarf decken können. Der Bedarf aus Regelsatz und anteiligen Kosten der Unterkunft liegt orientiert an der damaligen Bewilligung aus März 2014 bei rund 650 Euro für den Antragsteller. Die Durchschnittsrente aus dem russischen Rentenfonds lag im Jahre 2008 bei umgerechnet 130 Euro. Da der Antragsteller die Ungewissheit, wie hoch der Rentenanspruch genau ist, im Sinne der Darlegung der Bedürftigkeit, zu vertreten hat, ist hier unter freier Schätzung im Sinne des § 287 Abs. 2 ZPO i. V. m. § 202 SGG eine Bedürftigkeit in Höhe des doppelten der Durchschnittsrente aus dem Rentenfonds der russischen Föderation wegen der dortigen qualifizierten und langjährigen Tätigkeit nicht nachgewiesen bzw. hier dargelegt.

Soweit dieser Betrag von 260 Euro nicht zuzüglich der in Deutschland gewährten Rente zur Bedarfsdeckung reicht, waren dem Antragsteller laufende Leistungen zu gewähren.

Soweit der Antragsteller Leistungen für die Vergangenheit begehrt, fehlt es an einer Eilbedürftigkeit.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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