L 1 KR 16/19 B ER

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 18 KR 1736/18 ER
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 1 KR 16/19 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 20. Dezember 2018 wird zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin trägt auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im Beschwerdeverfahren. Dem Antragsteller wird auch für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin J. gewährt.

Gründe:

Die am 28. Januar 2019 fristgerecht eingelegte Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den ihr am 10. Januar 2019 zugestellten Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 20. Dezember 2018 ist statthaft und zulässig (§ 172 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. §§ 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Sie ist jedoch nicht begründet.

Einstweilige Anordnungen sind zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (§ 86 b Abs. 2 S. 2 SGG). Der durch den beantragten vorläufigen Rechtsschutz zu sichernde Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit einer vorläufigen Sicherung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung - ZPO).

Die mit der Beschwerde von der Antragsgegnerin geltend gemachten Argumente gegen den zugrundeliegenden Beschluss des Sozialgerichts überzeugen nicht. Das Sozialgericht hat dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung - soweit es zugesprochen hat - sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung zutreffend entsprochen. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat nach eigener Prüfung der Sach- und Rechtslage gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG insoweit Bezug auf den ausführlich begründeten Beschluss des Sozialgerichts. Zu Recht hat das Sozialgericht darauf abgestellt, dass ein Anordnungsgrund (hierzu unter b)) ebenso besteht wie dem Begehren des Antragstellers der erforderliche Anordnungsanspruch im Wege der Folgenabwägung bei offenen Erfolgsaussichten in der Hauptsache zuzubilligen (hierzu unter a)) ist.

a) Die Antragsgegnerin gründet ihre Beschwerde unter Bezugnahme auf ihren Widerspruchsbescheid, ihre Argumente vor dem Sozialgericht und die Ausführungen des MDK im Wesentlichen darauf, dass es für den Antragsteller mit dem Medikament Sativex eine vertragliche Alternative zu den vom Antragsteller präferierten Cannabisblüten gäbe und er bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens auch hierauf verwiesen werden könne.

Diese Argumentation dürfte auf einem fehlerhaften Verständnis der zugrundeliegenden Norm des § 31 Abs. 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch – SGB V – beruhen. Nach dieser Bestimmung haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn 1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung a) nicht zur Verfügung steht oder b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann, 2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht. Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist.

Die vorgenannten gesetzlichen Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 SGB V sind von dem Antragsteller auch zur Überzeugung des Senats insoweit hinreichend glaubhaft gemacht worden, als eine Folgenabwägung zu seinen Gunsten ausfällt. Vom Sozialgericht wurde insoweit zunächst zutreffend festgestellt, dass der Antragsteller bereits seit Jahren an einer schwerwiegenden Erkrankung in Form der Multiplen Sklerose leidet. Bei der Definition der schwerwiegenden Erkrankung schließt sich der Senat dem LSG Nordrhein-Westfalen an, welches dieses Tatbestandsmerkmal an den in § 35c Abs. 2 S. 1 SGB V beim sogenannten Off-Label-Use verwendeten Erkrankungsbegriff angelehnt hat. Es müsse sich daher um eine Erkrankung handeln, die sich durch ihre Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt der Erkrankungen abhebt und die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.1.2019, L 11 KR 442/18 B ER, Rn. 26, juris). Dass Multiple Sklerose – MS – eine schwere sich vom Durchschnitt abhebende Erkrankung ist, ist zwischen den Beteiligten – wohl – unstreitig.

Der Antragsgegnerin ist zuzugeben, dass Sativex ein in diesem Kontext probates verschreibungsfähiges Medikament ist, um die in Verbindung mit Multipler Sklerose stehenden Symptome der Muskelsteife (Spastik) zu lindern. Insoweit dürfte Sativex auch unter die Regelung von § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 SGB V fallen, als es ein allgemein anerkanntes, dem medizinischen Standard entsprechendes Medizinprodukt für diese Fälle darstellt (vgl. in diesem Sinne auch Hessisches LSG, Beschluss vom 27. November 2017, L 8 KR 396/17 B ER, Rn. 14,15, juris - umgekehrt zu dem hier zu entscheidenden Fall wehrte sich die Krankenkasse dort gerade gegen die Verordnung von Sativex als Fertigarzneimittel im Verhältnis zu Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität).

Nicht folgen kann der Senat der Antragsgegnerin jedoch in ihrer Einschätzung, dass ein Fertigarzneimittel der Verordnung von Cannabis in alternativen Darreichungsformen vorzugehen hat. Denn § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 SGB V stellt den Anspruch auf Versorgung mit Cannabis unter zwei alternative Voraussetzungen. Gemäß lit. a) von S. 1 besteht der Anspruch, wenn eine allgemein anerkannte dem medizinischen Standard entsprechende Leistung fehlt "oder" diese nach lit. b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann. Vorliegend teilt der Senat die Auffassung des Sozialgerichts, wonach es sich hier um einen Fall von lit. b) handeln dürfte und auch die in S.1 Nr. 2 der Norm postulierte weitere Voraussetzung einer nicht ganz entfernt liegenden Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.

Maßgebend hierfür sind zunächst die bereits vom Sozialgericht aufgeführten medizinischen Ausführungen der behandelnden (Vertrags-) Ärzte des Antragstellers, insbesondere derjenigen von Frau Dr. K. vom 8. Februar, 8. Juni und 28. September 2018, letztere auf Anforderung des Sozialgerichts. Dass es hierauf, anders als bei anderen leistungsbegründenden Normen des SGB V, bei denen die Einschätzung des Vertragsarztes nicht tatbestandsmäßig benannt ist, in besonderer Weise ankommt, wird schon aus der Formulierung der Vorschrift deutlich. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass die Einführung von § 31 Abs. 6 SGB V auch den Zweck gehabt hat, die Therapiehoheit der behandelnden Ärzte zu stärken. Mit der Einfügung des lit. b) im Gesetzgebungsverfahren sollte nämlich ausdrücklich klargestellt werden, dass auch dann vom Fehlen der Behandlungsalternativen auszugehen ist, wenn im konkreten Fall zwar abstrakt noch andere, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen in Erwägung gezogen werden können, der behandelnde Vertragsarzt im konkreten Fall aber zu der begründeten Einschätzung kommt, dass diese anderen Maßnahmen unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen können (BT-Drs 18/10902 S. 19). Erforderlich ist insoweit eine Beurteilung des behandelnden Arztes unter Auseinandersetzung mit den individuellen Verhältnissen des Versicherten unter Abwägung der bisherigen Therapieversuche, konkret zu erwartender Nebenwirkungen der Standardtherapie und Nebenwirkungen der Cannabinoidtherapie. Soweit die Antragsgegnerin in ihrem Beschwerdeschriftsatz 28. Januar 2019 auf ein Gutachten von Prof. Dr. T., Direktor der neurologischen Universitätsklinik B. in B1, Bezug nimmt und darauf hinweist, dass dieser einen positiven Effekt von Medizinal-Cannabisblüten auf die schmerzhafte Spastik bei fehlendem Ansprechen auf Sativex als unwahrscheinlich erachte, überzeugt dies nicht. Eine medizinische Würdigung der Begründung für die streitbefangene Verordnung durch die Antragsgegnerin kommt nicht in Betracht. Das LSG Nordrhein-Westfalen hat in seinem Beschluss vom 30. Januar 2019 (a.a.O.) hierzu überzeugend ausgeführt:

"Der Gesetzgeber verfolgt mit § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 b) SGB V ein anderes Konzept. Die Krankenkasse hat nur zu prüfen, ob es sich um eine "begründete Einschätzung" des behandelnden Vertragsarztes handelt, nicht aber, ob diese nach ihrer Auffassung im Einzelfall zutrifft. Der Wortlaut des § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 b) ist insoweit eindeutig. Die Gesetzmaterialien bestätigen dies. Der Ausschuss für Gesundheit formuliert (BT-Drucks. 18/10902 S. 20): "Die Versorgung von Versicherten mit schwerwiegenden Erkrankungen soll durch den Anspruch auf Versorgung mit Cannabis nach Satz 1 verbessert werden. Die Genehmigungsanträge bei der Erstverordnung der Leistung sind daher nur in begründeten Ausnahmefällen von der Krankenkasse abzulehnen. Damit wird auch der Bedeutung der Therapiehoheit des Vertragsarztes oder der Vertragsärztin Rechnung getragen.

Der Hinweis auf die Therapiehoheit des Arztes erweist sich zwar als fehlerhaft, denn eine solche gibt es nicht. Die insoweit laienhafte Gesetzesbegründung greift auf ein überholtes paternalistisches Verhältnis von Arzt und Patient zurück. Der Gesetzgeber der mit dem Patientenrechtegesetz vom 20.02.2013 (BGBl I 277) in das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) eingefügten Vorschriften über den Behandlungsvertrag (§§ 630a ff. BGB) sieht dieses Verhältnis deutlich anders (zum Problem, wer den Willen des Gesetzgebers formuliert s. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 10. Auflage, S. 23 f.). Die Therapiefreiheit hat der Patient, was unmissverständlich aus Art. 1 Abs. 2 Grundgesetz (GG) folgt. Notwendig ist hiermit verbunden, dass er die Hoheit über die ihn treffende Therapie hat. Nicht der Arzt bestimmt die Therapie, er schlägt vor und der Patient entscheidet (so der Grundgedanke der §§ 630a ff. BGB). Dem Arzt verbleibt die Therapieverantwortung (hierzu u.a. Senat, Urteil vom 22.10.2014 - L 11 KA 18/13 - m.w.N.; Frehse in Peters, Handbuch der Krankenversicherung - Teil II, SGB V, 19. Auflage, 79. Lfg., Januar 2013, § 28 Rn. 34 f.). Letztlich kommt es auf diesen Fehlgriff des Ausschusses nicht an. Entscheidend ist der hinter der betreffenden Formulierung stehende Gedanke. Dem behandelnden Vertragsarzt wird eine Einschätzungsprärogative eingeräumt, die von der Krankenkasse und im Gerichtsverfahren nur sehr begrenzt auf inhaltliche Richtigkeit zu überprüfen ist. Der Vertragsarzt muss kein Gutachten vorlegen. Ausreichend ist es, wenn er seine Einschätzung abgibt und diese begründet. Sofern nachvollziehbar, schlüssig und in sich widerspruchsfrei, ist diese Einschätzung hinzunehmen. Das ist der Fall.

Die Antragsgegnerin hat sich hiermit im Verwaltungsverfahren nicht auseinandergesetzt. Zwar hat das SG den Bericht von Dipl. med. I vom 12.06.2018 angefordert, indessen war das Widerspruchsverfahren erst mit dem Widerspruchsbescheid vom 03.08.2018 abgeschlossen. Demzufolge hätte die Antragsgegnerin prüfen und bewerten müssen, ob der Bericht eine "begründete Einschätzung" darstellt. Das ist nicht geschehen. Ihr Widerspruchsbescheid vom 03.08.2018 verhält sich hierzu nicht. Infolgedessen hat sie schon die Anspruchsvoraussetzungen des § 36 Abs. 6 Satz 1 SGB V nicht vollständig erfasst. Im Übrigen neigt der Senat zur Auffassung, dass eine begründete Einschätzung nur im Verwaltungsverfahren vorgelegt werden und nicht durch nachgängige Ermittlungen eines Gerichts nachgeholt oder gar substituiert werden kann. Insoweit gilt, dass das Gericht nicht und insbesondere nicht durch eine aufwändige Beweisaufnahme zu klären hat, ob die Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes zutrifft. Ein solches Vorgehen würde die Konzeption des § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 b) SGB V schon nach seinem eindeutigen Wortlaut verkennen. Im Gerichtsverfahren ist allein entscheidungserheblich, ob der behandelnde Vertragsarzt eine "begründete Einschätzung" abgegeben hat. Fehlt es daran, ist die in § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 b) SGB V genannte Anspruchsvoraussetzung nicht erfüllt. Nachgängige Ermittlungen von Amts wegen können hieran nichts mehr ändern. Insbesondere etwaige Sachverständigengutachten sind schon begrifflich nicht in der Lage, die fehlende "begründete Einschätzung" des Vertragsarztes zu substituieren. Sie sollen dies auch nicht, denn auch die Gesetzesbegründung stellt auf den behandelnden Vertragsarzt und nicht auf etwaige Sachverständige oder Gutachter ab (vgl. BT-Drucks. 18/10902, S. 19)."

Dieser rechtlichen Einschätzung schließt der Senat sich an, insbesondere auch unter Berücksichtigung von § 31 Abs. 6 S. 2 SGB V, wonach die Leistung bei der ersten Verordnung für einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse bedarf. Der Gesetzgeber wollte hier erkennbar im Vergleich zu den sonstigen Leistungsvoraussetzungen im SGB V dem Vertragsarzt einen weiten Verordnungsspielraum geben, nicht zuletzt um Erkenntnisse über die Wirkung von Cannabis zu medizinischen Zwecken zu gewinnen, um so eine Grundlage für die Entscheidung über die dauerhafte Aufnahme in die Versorgung zu schaffen (BT-Drucksache 18/8965, S. 24). Entsprechend folgt in S. 4 von Abs. 6 der Norm auch die Vorgabe einer nichtinterventionellen Begleiterhebung und in S. 5 bis S. 9 von Abs. 6 wird das Verfahren zur Datenbeschaffung und Auswertung nach Ablauf von 60 Monaten nach Inkrafttreten der Vorschrift auch im Verhältnis zu den Vertragsärzten normiert. Damit hat der Gesetzgeber sich für eine Testphase für die Verwendung von Cannabisarzneimitteln entschieden, die gemessen daran, dass es sich dabei ausschließlich um Fälle schwerwiegender Erkrankungen handeln darf, nicht zu beanstanden ist.

Vom Bestehen der in § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 lit b) SGB V geforderten begründeten Einschätzung der Vertragsärztin ist hier – gerade noch – auszugehen.

Frau Dr. K. hat Cannabis in der hier streitbefangenen Form gegen folgende MS-Symptome verordnet: Chronisches Schmerzsyndrom sowohl in Bezug auf die Schmerzintensität als auch auf die Schmerzcharakteristik, ADHS, Fatique-Syndrom, Konzentrationsstörungen und andere neuropsychologische Einschränkungen. Daneben hat sie darauf hingewiesen, dass der Antragsteller seit der Einnahme von Cannabis besser ein-und durchschlafe, dass die Medikation gute Erfolge ohne beeinträchtigende Nebenwirkungen erziele und dass es bei der Verwendung von Cannabisblüten die Möglichkeit gebe, die Zusammensetzung von THC und CBD und weitere Inhaltsstoffe (Terpene) individuell dem Tagesrhythmus und den Bedürfnissen des Antragstellers anzupassen. Eine Sorte mit mehr CBD-Gehalt am Abend würde z.B. den Schlaf des Antragstellers noch weiter verbessern können. Dies sei bei MS entscheidend, da sich Stärke und Qualität der Beschwerden teilweise stark und von Tag zu Tag ändern könne. Dagegen führt der Beipackzettel ebenso wie die Fachinformation von Sativex (recherchiert unter Beipackzettel von Sativex, Spray zur Anwendung in der Mundhöhle, und Fachinformation zu Sativex, beide im Internet) als Indikation nur die Muskelsteife (Spastik) als in Verbindung stehendes Symptom bei MS auf. Insofern ist davon auszugehen, dass die Vertragsärztin die Verordnung von Cannabisblüten im Verhältnis zu Sativex indikationsübergreifend nicht nur gegen die Muskelsteife, sondern gegen eine Vielzahl von MS-bedingten Symptomen einsetzt. Führt man sich diese Zielrichtung vor Augen, dürfte eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung, die diese Vielzahl von Symptomen lindert, als Fertigarzneimittel derzeit nicht zur Verfügung stehen. Schließlich hat Dr. K. sich auch dazu geäußert, warum sie dem Antragsteller das Medikament Sativex nicht verschrieben hat, indem sie betont hat, dass die Compliance des Patienten in Bezug auf die verordneten Cannabisblüten ausgesprochen gut sei und ein Wechsel der bestehenden und sehr gut funktionierenden Therapie als nicht sinnvoll angesehen werde. Zwar hätte man sich eine ausführlichere Begründung, die noch deutlicher die zu erwartenden Nebenwirkungen unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten bei Verordnung von Sativex abwägt, wünschen können. Unter Zugrundelegung der hier vorzunehmenden Folgenabwägung reicht die Begründung dem Senat jedoch gerade noch aus.

Das Vorliegen der von § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 2 SGB V geforderte Voraussetzung einer nicht ganz entfernt liegenden Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome hat das Sozialgericht in dem angefochtenen Beschluss überzeugend dargelegt. Auch die Antragsgegnerin bestreitet nicht die positiven Wirkungen von Cannabis bei an MS Erkrankten, sonst würde sie den Antragsteller nicht auf das Fertigarzneimittel Sativex, welches im Wesentlichen ein Extrakt aus Cannabis enthält, verweisen.

b) Auch das Vorliegen eines Anordnungsgrundes hat das Sozialgericht zu Recht bejaht. Im Hinblick auf die erheblichen Kosten der Therapie mit Cannabisblüten hat der Senat keine Zweifel, dass der Antragsteller diese als Empfänger von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – SGB II – nicht auslegen kann. Angesichts der von Seiten der behandelnden Ärzte bestätigten positiven Ergebnisse der Behandlung mit Cannabisblüten auf Privatrezept in der Vergangenheit und die erheblichen Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit des Antragstellers bei fortschreitenden Symptomen überwiegen die Nachteile des Antragstellers bei fehlender vorläufiger Versorgung deutlich gegenüber dem Nachteil der Antragsgegnerin, dass die durch die vorläufige Versorgung entstehenden Kosten ggf. nicht zurückerlangt werden können. Schließlich würde die Antragsgegnerin ansonsten auch die Kosten des von ihr präferierten Fertigarzneimittels Sativex zu leisten haben. Abhängig von der Anzahl der täglichen Sprühstöße wären hiermit auch nicht unerhebliche Kosten verbunden: Einer Internetrecherche auf kvhh.net zufolge kostet SativexR: 3 x 10 ml 310,64 EUR, 12 Sprühstöße = 1,2 ml = 12,43 EUR hingegen Cannabis Blüten (Fagron): 5 g ca. 120 EUR.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

II. Dem Antragsteller war für das vorliegende Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe zu gewähren Nach § 73 a Abs. 1 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 114 Abs. 1 S. 1 Zivilprozessordnung erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Als Empfänger von Leistungen nach dem SGB II waren die wirtschaftlichen Voraussetzungen gegeben. Zur Annahme einer hinreichenden Erfolgsaussicht genügt eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit im Sinne einer guten Möglichkeit, im Prozess zu obsiegen. Diese Voraussetzungen liegen hier zum einen schon deshalb vor, weil der Antragsteller mit seinem Antrag vor dem Sozialgericht erfolgreich war und die Antragsgegnerin Beschwerde erhoben hat. Zum anderen blieb die Beschwerde der Antragsgegnerin auch erfolglos wie unter I. des vorliegenden Beschlusses ausgeführt worden ist.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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