L 4 AS 212/24 B ER

Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 30 AS 197/24 ER
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
L 4 AS 212/24 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

1. Ein missbräuchliches Berufen auf die unionsrechtliche Rechtsstellung kann im Einzelfall vorliegen, wenn eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung (Freizügigkeit, Integration in den Arbeitsmarkt) nicht erreicht wird und als subjektives Element die Absicht festgestellt wird, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen (dh die Arbeitnehmerstellung und das damit verbundene Aufenthaltsrecht) künstlich bzw willkürlich geschaffen werden sollen (vgl BSG, Urt v 27. Januar 2021, B 14 AS 25/20 R, juris RN 28). 2. Der Missbrauchstatbestand im Zusammenhang mit der Gewährleistung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist - als Ausnahme im Einzelfall - grundsätzlich eng auszulegen. Allein die Inanspruchnahme von Bürgergeld bzw Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, die aufstockend zu einer tatsächlichen und echten Arbeitnehmertätigkeit oder zur (weiteren) Integration in den Arbeitsmarkt gewährt werden, begründet keinen Missbrauch des Freizügigkeitsrechts.

Der Beschluss des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 25. Juni 2024 wird aufgehoben.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern vorläufig Bürgergeld-Leistungen für Juni 2024 in Höhe von 1.611,90 € zu gewähren.

Den Antragstellern wird für das erstinstanzliche Verfahren und das Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt D. S. bewilligt.

Der Antragsgegner hat den Antragstellern die notwendigen außergerichtlichen Kosten für beide Rechtszüge zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragsteller und Beschwerdeführer (im Weiteren: Antragsteller) machen im Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach den Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) für den Monat Juni 2024 geltend. Zugleich wenden sie sich gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe (PKH) für das einstweilige Rechtsschutzverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Dessau-Roßlau.

Der im Januar 1982 geborene Antragsteller zu 1 und die im August 1993 geborene Antragstellerin zu 2 sind bulgarische Staatsangehörige, seit dem 22. August 2022 miteinander verheiratet und haben zwei Kinder, den im Juli 2014 geborenen Antragsteller zu 3 und die im Oktober 2022 geborene Antragstellerin zu 4. Nach ihren Angaben sind sie im August 2021 nach Deutschland eingereist und wohnten zunächst in E. Sie bezogen dort keine SGB II-Leistungen.

Der Antragsteller zu 1 verfügt nach eigenen Angaben weder über einen Schul- noch über einen Berufsabschuss. Nach seiner Einreise war er in der Zeit vom 13. September bis zum 25. November 2021 bei der Firma A. P. GmbH beschäftigt. Im September 2021 erzielte er hieraus Einkommen (netto) in Höhe von 758,35 €, im Oktober 2021 in Höhe von 1.243,30 € und im November 2021 in Höhe von 424,04 €. Vom 22. November 2021 bis zum 14. Januar 2022 war der Antragsteller zu 1 bei der 3 K P. Dienste als Produktionshelfer in der Weihnachtszeit angestellt. Er erzielte im November 2021 ein Nettoeinkommen von 370,46 €, im Dezember 2021 von 1.126,96 € und im Januar 2022 von 271,70 €. In der Zeit vom 1. Februar bis zum 11. April 2022 war der Antragsteller zu 1 bei der Firma S. E.-S. GmbH für 20 Wochenstunden beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis sei durch den Antragsteller zu 1 gekündigt worden, da er nicht eingesetzt worden sei und somit kaum Einkommen habe erzielen können. Im Februar 2022 erhielt er einen Nettolohn von 192,59 € und im März 2022 von 180,83 €.

Im Zeitraum vom 17. März 2022 bis zum 29. Oktober 2022 war er wieder bei der Firma A. P. GmbH als Produktionsmitarbeiter mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 35 Stunden beschäftigt. Er erzielte monatliche Nettoeinkommen von 574,40 € im März 2022, von 1.241,67 € im April 2022, von 1.229,88 € im Mai 2022, von 1.664,57 € im Juni 2022, von 1.155,61 € im August 2022, von 1.495,01 € im September 2022 und von 1.674,14 € im Oktober 2022.

Die Antragstellerin zu 2 besuchte in Bulgarien die allgemeinbildende Schule bis zur 8. Klasse. Sie verfügt ebenfalls nicht über einen Berufsabschluss. Nach ihrer Einreise war sie in der Zeit vom 16. bis zum 20. November 2021 bei der Firma O. P. Personalmanagement GmbH beschäftigt und erzielte Einkommen in Höhe von 21,94 €. Vom 20. Dezember 2021 bis zum 11. April 2022 war sie bei der Firma S. E.-S. GmbH mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stunden beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis sei durch eine betriebsbedingte Kündigung beendet worden. Sie erzielte Einkommen (netto) von 106,60 € im Dezember 2021, von 396,72 € im Januar 2022, von 360,89 € im Februar 2022 und von 308,96 € im März 2022.

Nach der Geburt der Antragstellerin zu 4 im Oktober 2022 zogen die Antragsteller zum 1. Dezember 2022 in den Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners und mieteten eine 85 m² große Dreiraumwohnung in der H.straße 23 in J., Ortsteil H., an. Nach dem Mietvertrag vom 1. Dezember 2022 schuldeten sie hierfür monatliche Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) von 650 € (Grundmiete von 390 €, Antennengebühr von 10 €, Betriebskosten von 100 € und Heizkosten von 150 €). Ab Juni 2023 erhöhten sich die Betriebskosten um 10 €, so dass die KdUH seither 660 € betragen. Die Antragsteller zahlten zunächst lediglich den Mietzins für Dezember 2022 und erbrachten von Januar 2023 bis März 2024 keine Mietzahlungen.

Im Januar 2024 hatte der Vermieter die Antragsteller wegen des Mietrückstands von damals 8.781,64 € gemahnt und das Mietverhältnis für die Wohnung in der H.straße 23 in J. fristlos mit der Aufforderung zur Wohnungsübergabe am 29. Februar 2024 gekündigt. Daraufhin ließen die Antragsteller im April 2024 dem Mietkonto eine Kindergeldnachzahlung von 5.000 € gutschreiben und zahlten selber noch weitere 500 €, im Mai 2024 die volle Miete (660 €), im Juni 2024 650 € und im Juli 2024 500 € an den Vermieter. In einem seit Juni 2024 rechtshängigen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (ablehnender Beschluss des SG vom 12. Juli 2024), das inzwischen als Beschwerde im Senat anhängig ist (L 4 AS 238/24 B ER), begehren sie die Gewährung eines Darlehens über 3.300 € zur Begleichung der Mietrückstände, die sich nach einer Vermieterbescheinigung vom 24. Juli 2024 derzeit auf 5.431,64 € belaufen.

Nach dem Umzug arbeitete der Antragsteller zu 1 im Zeitraum vom 4. Januar bis zum 17. März 2023 bei der MB F. O. GmbH. Ausweislich des Arbeitsvertrags vom 4. Januar 2023 war eine wöchentliche Arbeitszeit von 29 Stunden sowie eine Bruttovergütung von 1.508,00 € vereinbart. Er erzielte Einkommen (netto) in Höhe von 1.188,14 € im Januar 2023, von 1.203,86 € im Februar 2023 und von 794,17 € im März 2023.

Die Antragsteller beantragten sodann am 29. Januar 2023 beim Antragsgegner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Dies lehnte der Antragsgegner ab (Bescheid vom 23. August 2023 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. Januar 2024). Dagegen haben die Antragsteller am 29. Januar 2024 Klage beim SG (S 30 AS 24/24) erhoben, über die bislang nicht entschieden worden ist.

In der Zeit vom 2. Mai bis zum 25. September 2023 war der Antragsteller zu 1 bei der Firma K. Sch. GmbH beschäftigt. Die Kündigung sei durch den Arbeitgeber ohne Angabe von Gründen erfolgt. Das Einkommen (netto) betrug für Mai 2023 1.103,59 €, für Juni 2023 908,45 €, für Juli 2023 1.054,55 €, für August 2023 1.134,89 € und für September 2023 859,10 € mit Auszahlung jeweils im Folgemonat.

Im Zeitraum vom 2. Oktober 2023 bis zum 17. Mai 2024 war der Antragsteller zu 1 erneut bei der Firma M. F. O. GmbH beschäftigt. Er erzielte Einkommen (netto) in Höhe von monatlich 1.201,93 € für Oktober bis Dezember 2023, von je 1.243,26 € für Januar und Februar 2024, von 1.253,76 € für März 2024, von 1.246,76 € für April 2024 mit Auszahlung jeweils im Folgemonat auf das Konto. Lediglich der Lohn für Mai 2024 von 1.092,53 € netto (mit Urlaubabgeltung) wurde nach Entgeltabrechnung vom 27. Mai 2024 noch im Mai 2024 bar ausgezahlt.

Seit dem 18. Mai 2024 ist der Antragsteller zu 1 nach Kündigung durch den vorherigen Arbeitgeber wieder bei der Firma K. Sch. GmbH beschäftigt. Für Mai 2024 erhielt er einen Nettolohn von 521,25 € (Entgeltabrechnung vom 7. Juni 2024), für Juni 2024 von 1.045,82 € (Entgeltabrechnung vom 1. Juli 2024) und für Juli 2024 von 1.170,94 € (Entgeltabrechnung vom 5. August 2024).

Für die Antragsteller zu 3 und 4 wurde im Mai 2023 Kindergeld für den Zeitraum von Februar bis Oktober 2022 und von Januar bis März 2023 von insgesamt 3.890 € nachgezahlt (Bescheide der Familienkasse vom 27. März 2023 in der Gestalt der Einspruchsentscheidungen). Seit Juni 2023 beziehen sie laufend Kindergeld (Bescheid der Familienkasse vom 10. April 2024). Aufgrund einer Abtretungserklärung wurde die Nachzahlung für Juni 2023 bis März 2024 in Höhe von 5.000 € (10 Monate) direkt an den Vermieter ausgezahlt.

Seit September 2023 besucht der Antragsteller zu 3 die Grundschule in Sch..

Am 14. Januar 2024 beantragten die Antragsteller beim Antragsgegner erneut Leistungen nach dem SGB II, was dieser mit Bescheid vom 7. Februar 2024 ablehnte. Zwar sei davon auszugehen, dass es sich bei der seit dem 2. Mai 2023 ausgeübten Tätigkeit des Antragstellers zu 1. bei der Firma K. Sch. um eine echte und tatsächliche Beschäftigung handle und demnach grundsätzlich ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 bzw. Nr. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) vorliege. Die Berufung auf das Recht der Arbeitnehmerfreizügigkeit sei vorliegend jedoch rechtsmissbräuchlich. Bisher hätten die Antragsteller nicht glaubhaft dargelegt, aus welchen Mitteln die Existenz der Familie seit August 2021 gesichert worden sei. Nach Wertung der Gesamtumstände sei die Erwerbstätigkeit nur aufgenommen worden, um formal Arbeitnehmerfreizügigkeit geltend machen zu können und – damit verbunden – (aufstockende) Sozialleistungen zu beziehen. Nach Aktenlage könne davon ausgegangen werden, dass die Antragsteller zu 1 und 2 von Beginn an nicht die Absicht gehabt hätten, Erwerbstätigkeiten auszuüben, die ihrer Familie ausreichende Existenzmittel sicherten. Erkennbares Ziel sei es stattdessen, mit möglichst geringem Arbeitseinsatz möglichst umfassende staatliche Hilfsleistungen zu erlangen.

Der Bescheid vom 7. Februar 2024 ging den Antragstellern zunächst nicht zu. Am 20. Februar 2024 legten sie anwaltlich vertreten dagegen Widerspruch ein, den der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 2024 als unzulässig verwarf: Ein Rechtsbehelf gegen einen noch nicht existierenden Verwaltungsakt sei nicht zulässig. Mit ihrer Klage beim SG vom 5. März 2024 (S 30 AS 70/24), über die bislang nicht entschieden worden ist, verfolgen die Antragsteller ihr Begehren weiter.

Am 24. Juni 2024 haben die Antragsteller beim SG einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt und die hier streitige Gewährung von Bürgergeldleistungen nach dem SGB II für den Monat Juni 2024 (S 30 AS 197/24 ER) gestellt und die Bewilligung von PKH für das Verfahren beantragt.

Bereits am 15. Mai 2024 machten sie mit gesonderten einstweiligen Rechtsschutzanträgen auch Leistungen für Juni 2024 (S 30 AS 162/24 ER; jetzt: L 4 AS 210/24 B ER) sowie am 24. Juni 2024 die Gewährung eines Darlehens über 3.300 € zur Begleichung ihrer Mietrückstände (S 30 AS 224/24 ER; jetzt: L 4 AS 238/24 B ER) geltend.

Zur Begründung haben sie vorgetragen, sie könnten allein von den Lohnzahlungen des Antragstellers zu 1 weder ihren Lebensunterhalt vollständig bestreiten noch ihre Mietschulden begleichen. Sie seien weiterhin bemüht, einer Vollzeitbeschäftigung nachzugehen. Der Antragstellerin zu 2 sei derzeit keine Erwerbstätigkeit möglich, da es für die Antragstellerin zu 4 aktuell keinen Platz in einer Kindertagesstätte gebe. Sie befänden sich in einer Notlage.

Das SG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf Bürgergeld für Juni 2024 mit Beschluss vom 25. Juni 2024 abgelehnt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Antragsteller hätten keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Sie seien nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Sie hätten kein Aufenthaltsrecht in Deutschland. Zwar sei der Antragsteller zu 1 bisher als Arbeitnehmer grundsätzlich freizügigkeitsberechtigt. Zu Recht gehe der Antragsgegner jedoch davon aus, dass das Berufen auf den Arbeitnehmerstatus vorliegend rechtsmissbräuchlich sei. Die Kammer gehe davon aus, dass die Antragsteller mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nach Deutschland gekommen seien, um ihren Lebensunterhalt zumindest teilweise durch Sozialleistungen zu bestreiten. Dabei könne offenbleiben, ob sie der Auffassung des Senats folge, die Berufung auf den Arbeitnehmerstatus und ein sich daraus ergebendes Aufenthaltsrecht sei dann nicht rechtsmissbräuchlich, wenn der Arbeitnehmer durch das Arbeitseinkommen zumindest seinen eigenen Bedarf decken könne (so der Beschluss des Senats vom 4. Juli 2023, L 4 AS 122/23 B ER, juris RN 44). Denn auch das aktuell bezogene Erwerbseinkommen des Antragstellers zu 1 in Höhe von 1.246,76 € netto genüge abzgl. der Freibeträge schon nicht, um seinen Bedarf (Regelsatz von 563 € zzgl. KdUH von 660 €) zu decken. Ergänzend halte die Kammer das Abstellen allein auf den Leistungsanspruch des Antragstellers zu 1 für sehr zweifelhaft. Wenn demgegenüber auf die gesamte Bedarfsgemeinschaft abgestellt würde (so Landessozialgericht [LSG] Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. Dezember 2022, L 18 AS 1084/22 B ER, juris RN 9), erübrige sich eine problematische Prüfung des Leistungsanspruchs. Denn wenn ein bedarfsdeckendes Einkommen erzielt werde, bestehe ohnehin kein SGB II-Leistungsanspruch. Zugleich hat das SG den PKH-Antrag für das einstweilige Rechtsschutzverfahren abgelehnt.

Dagegen haben die Antragsteller am 27. Juni 2024 beim SG Beschwerde eingelegt, die das SG an das LSG Sachsen-Anhalt weitergeleitet hat.

Mit weiterem Beschluss vom 25. Juni 2024 hat das SG auch den einstweiligen Rechtsschutzantrag für Mai 2024 abgelehnt. Die dagegen eingelegte Beschwerde ist beim Senat unter dem Aktenzeichen L 4 AS 210/24 B ER anhängig.

Zur Begründung ihrer hier streitigen Beschwerde, die sich sowohl gegen die Entscheidung in der Sache als auch gegen die PKH-Ablehnung richtet, haben die Antragsteller vorgetragen, sie seien im August 2021 nach Deutschland eingereist, da dem Antragsteller zu 1 eine Arbeitsstelle in Aussicht gestellt worden sei. Sie seien damals davon ausgegangen, dass monatliche Kosten von ca. 1.000 € anfallen würden. Mit der in Aussicht gestellten Vergütung und ihrem Ersparten von ca. 3.000 € hätten sie angenommen, die anfallenden Lebenshaltungskosten für ihre dreiköpfige Familie bestreiten zu können. Zum Zeitpunkt der Einreise seien die kalkulierten Kosten nachvollziehbar gewesen. Es ergebe sich kein Hinweis darauf, dass damals auch Sozialleistungen begehrt worden seien. Erst recht habe keine Absicht des Sozialleistungsbezugs bestanden. Das SG habe bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt, dass sie erst nach der Geburt der Antragstellerin zu 4 und dem Umzug nach J. den ersten Antrag auf SGB II-Leistungen gestellt hätten. Denn seitdem hätten sich die Unterkunfts- und sonstigen Lebenshaltungskosten erhöht. Der Hinweis auf die Rechtsmissbräuchlichkeit gehe fehl. Zugleich haben die Antragsteller PKH für das Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes beantragt.

Die Antragsteller beantragen sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 25. Juni 2024 aufzuheben und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihnen vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Monat Juni 2024 in gesetzlicher Höhe zu gewähren, und ihnen für das erstinstanzlichen Verfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten zu bewilligen.

Der Antragsgegner beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er hält die Entscheidung des SG für zutreffend.

Im Beschwerdeverfahren haben die Antragsteller Quittungen über Barauszahlungen von Löhnen vorgelegt: Danach ist dem Antragsteller zu 1 der Nettolohn von 1.092,53 € für die am 17. Mai 2024 beendete Tätigkeit für die MB F. O. GmbH (Lohnabrechnung vom 27. Mai 2024) noch im Mai 2024 bar zugeflossen. Der Lohn von der K. Sch. GmbH für die Beschäftigung ab 18. Mai 2024 in Höhe von 521,25 € netto (Lohnabrechnung vom 7. Juni 2024) sei dem Antragsteller zu 1 nach der vorliegenden Quittung am „07.05.2024“ in vollständiger Höhe bar ausgezahlt worden.

Auf Nachfrage der Berichterstatterin haben die Antragsteller erklärt, der in der Quittung angegebene Monat „05“ sei ein Schreibfehler. Der Antragsteller zu 1 habe nach der Lohnabrechnung am 7. Juni 2014 den quittierten Betrag erhalten. Auch für die Folgemonate habe der Antragsteller zu 1 vom Arbeitgeber K. den Lohn am Tage der Lohnabrechnung bzw. einen Tag später bar erhalten. Die Antragsteller haben dazu die Entgeltabrechnungen und Auszahlungsquittungen für Juni (Abrechnung vom 1. Juli und Auszahlung am 2. Juli) und Juli 2024 (Abrechnung vom 5. August und Auszahlung am 5. August) vorgelegt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Antragsgegners verwiesen. Diese haben bei der Beratung des Senats vorgelegen.

II.

Die Beschwerde L 4 AS 212/24 B ER ist statthaft (§ 172 Sozialgerichtsgesetz [SGG]), form- und fristgerecht eingelegt worden (§ 173 SGG) und auch im Übrigen zulässig. Der Wert von 750 € gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 1 in Verbindung mit § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG ist überschritten. Die Antragssteller begehren SGB II-Leistungen für den Monat Juni 2024 in gesetzlicher Höhe. Ihr Leistungsanspruch beläuft sich auf 1.611,90 € für diesen Monat (vgl. Berechnung Seite 14) und übersteigt die Beschwerdewertgrenze.

Die Beschwerde ist auch begründet. Der Antragsgegner ist für den Monat Juni 2024 vorläufig zur Zahlung von Leistungen nach dem SGB II zu verpflichten.

Das Gericht kann nach § 86b Abs. 2 SGG eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung einer Regelungsanordnung ist gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrunds (die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile) und eines Anordnungsanspruchs (die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Hauptsache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs). Grundsätzlich soll wegen des vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung die endgültige Entscheidung der Hauptsache nicht vorweggenommen werden. Der Beweismaßstab im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes erfordert im Gegensatz zu einem Hauptsacheverfahren für das Vorliegen der anspruchsbegründenden Tatsachen nicht die volle richterliche Überzeugung. Dies erklärt sich mit dem Wesen dieses Verfahrens, das wegen der Dringlichkeit der Entscheidung regelmäßig keine eingehenden, unter Umständen langwierigen Ermittlungen zulässt. Deshalb kann im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur eine vorläufige Regelung längstens für die Dauer des Klageverfahrens getroffen werden, die das Gericht der Hauptsache nicht bindet.

Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft gemacht, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen überwiegend wahrscheinlich sind. Dies erfordert, dass mehr für als gegen die Richtigkeit der Angaben spricht (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/ Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 86b RN 27, 41). Soweit mit einer einstweiligen Anordnung zugleich eine Vorwegnahme der Entscheidung in der Hauptsache verbunden ist, sind erhöhte Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrunds zu stellen, weil der einstweilige Rechtsschutz trotz des berechtigten Interesses des Rechtsuchenden an unaufschiebbaren gerichtlichen Entscheidungen nicht zu einer Verlagerung in das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes führen darf. Erforderlich ist das Vorliegen einer gegenwärtigen und dringenden Notlage, die eine sofortige Entscheidung unumgänglich macht. Soweit es um die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz geht, müssen die Gerichte die Sach- und Rechtslage abschließend prüfen, bzw., wenn dies nicht möglich ist, auf der Basis einer Folgenabwägung auf Grundlage der bei summarischer Prüfung bekannten Sachlage entscheiden (vgl. Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 12. Mai 2005, 1 BvR 569/05, juris).

Der Antrag auf eine einstweilige Anordnung ist zulässig. Der die begehrten Leistungen ablehnende Bescheid des Antragsgegners vom 7. Februar 2024 dürfte noch nicht bestandskräftig sein. Zwar ist bislang unklar, wann der Bescheid den Antragstellern tatsächlich zugegangen ist. Sie haben jedoch fristgerecht Widerspruch eingelegt und auch auf die Begründung des Bescheids reagiert. Insofern muss er ihnen vorgelegen haben. Zwar hat der Antragsgegner den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 2024 als unzulässig verworfen. In dem Hauptsacheverfahren beim SG S 30 AS 70/24 wird zu klären sein, wann der Bescheid tatsächlich zugegangen ist und welche Folgen dies für den Widerspruch der Antragsteller vom 20. Februar 2024 hatte.

Für den Monat Juni 2024 liegen die Voraussetzungen für die begehrte einstweilige Anordnung vor. Ausgehend von den o.g. Maßstäben ist zunächst ein auf §§ 7 ff., §§ 19 ff. SGB II (in der ab dem 1. Januar 2024 gültigen Fassung) gestützter Anordnungsanspruch auf die vorläufige Gewährung von Bürgergeld glaubhaft gemacht.

Die Antragsteller erfüllen die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Der Antragsteller zu 1 und die Antragstellerin zu 2 haben das 15. Lebensjahr vollendet, sind mangels entgegenstehender Anhaltspunkte wohl entsprechend § 8 Abs. 1 und 2 SGB II erwerbsfähig und halten sich, jedenfalls seit August 2021, dauerhaft mit zukunftsoffenem Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland auf. Mit dem Umzug zum 1. Dezember 2022 nach J. ist von einem gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners auszugehen. Die mit ihnen in einem Haushalt lebenden Antragsteller zu 3 und 4 gehören als minderjährige und unverheiratete Kinder dem Grunde nach gemäß § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II ihrer Bedarfsgemeinschaft an. Die Antragsteller sind hilfebedürftig, weil sie mit ihrem Einkommen und Vermögen ihren Bedarf nicht decken können.

Nach Auffassung des Senats liegt kein Ausschlusstatbestand nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II vor. Der Antragsteller zu 1 ist seit dem Zuzug nach J. durchgängig erwerbstätig in einem nicht unbeträchtlichen Umfang. Aus seinen Beschäftigungen in Rahmen von sog. Midi-Jobs bei den Firmen MB F. O. GmbH und aktuell K. Sch. GmbH erzielt er regelmäßig – bis auf den hier streitigen Monat nach dem Wechsel der Arbeitsstelle im Mai 2014 – ein monatliches Nettoeinkommen von mindestens 1.000 €. Er ist daher als Arbeitnehmer freizügigkeitsberechtigt und hat ein darauf beruhendes Recht auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hat (§ 2 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU). Nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung gibt es keine Hinweise darauf, dass dem Antragsteller zu 1 selbst oder seinen Familienangehörigen die missbräuchliche Berufung auf den Arbeitnehmerstatus des beschäftigten Familienmitglieds und die daran anknüpfende Freizügigkeitsberechtigung auch der anderen Familienmitglieder entgegengehalten werden könnte.

Der Antragsteller zu 1 ist als Arbeitnehmer im Sinne der europarechtlichen Vorgaben anzusehen. Sowohl sein aktuelles Arbeitsverhältnis bei der Firma K. Sch. GmbH als auch die bisherigen Beschäftigungsverhältnisse bei der Firma M. F. O. GmbH sind als „tatsächlich und echt“ – und damit umgekehrt nicht als „völlig untergeordnet und unwesentlich“ – im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu qualifizieren (vgl. zu dieser Voraussetzung für die Begründung der Arbeitnehmerfreizügigkeit aus der ständigen Rechtsprechung des EuGH: Urteil vom 6. November 2003, C-413/01, RS Ninni-Orasche, juris RN 26; vgl. auch Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 12. September 2018, B 14 AS 18/17 R, juris RN 19 m.w.N.). Die Motive für den Abschluss eines Arbeitsvertrags sowie der Suche von Arbeit in einem Mitgliedstaat sind für die Beurteilung der Arbeitnehmereigenschaft unerheblich (EuGH, Urteil vom 23. Februar 1982, C-53/81, RS Levin, juris RN 22). Es ist offensichtlich, dass Arbeitszeit und Vergütung die vom EuGH vorgezeichnete Untergrenze (EuGH, Urteil vom 4. Februar 2010, Genc C 14/09, juris – Arbeitnehmereigenschaft bejaht bei einer Arbeitsleistung von 5,5 Stunden wöchentlich und einem Verdienst von 175 EUR monatlich) deutlich überschreiten.

Nach eigener Prüfung sind für den Senat weder bei Einreise der Antragsteller im August 2021 noch bei erstmaliger Beantragung von Leistungen nach dem SGB II im Januar 2023 oder bei Inanspruchnahme des einstweiligen Rechtsschutzes im Juni 2024 belastbare Indizien für eine rechtsmissbräuchliche Berufung auf den Arbeitnehmerstatus erkennbar.

Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH kann das Berufen auf eine unionsrechtliche Rechtsstellung im Einzelfall missbräuchlich sein, was von der Begründung der Arbeitnehmerstellung zu trennen ist. Die Annahme eines Missbrauchs setzt dabei zum einen voraus, dass eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde, und zum anderen ein subjektives Element, nämlich die Absicht, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden (vgl. EuGH, Urteil vom 16. Oktober 2012,C-364/10, RS Ungarn/Slowakei, juris RN 58; EuGH, Urteil vom 12. März 2014, C-456/12, juris RN 58; zu Beispielen für ein missbräuchliches Berufen auf Rechte aus § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU im Aufenthaltsrecht OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28. März 2017, 18 B 274/17, juris; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 20. September 2016, 7 B 10406/16, 7 D 10407/16, juris). Das Berufen auf einen erlangten Arbeitnehmerstatus und ein (u.a.) darauf beruhendes Recht nach Art. 10 VO (EU) 492/2011 kann missbräuchlich sein, wenn EU-Ausländer die Freizügigkeit für Arbeitnehmer allein zu dem Zweck ausüben, in einem anderen Staat Sozialleistungen zu erhalten. Neben den Umständen der Aufnahme und Durchführung der Tätigkeit können grundsätzlich auch die Einreisegründe für oder gegen die Missbräuchlichkeit des Berufens auf formal über den erlangten Arbeitnehmerstatus bestehende Rechte sprechen. Je mehr Zeit zwischen Einreise und Beschäftigungsaufnahme vergangen ist, desto weniger Bedeutung haben die Einreisegründe (BSG, Urteil vom 27. Januar 2021, B 14 AS 25/20 R, juris RN 33). Als subjektives Element müsse die Absicht, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen (d.h. die Arbeitnehmerstellung und das damit verbundene Aufenthaltsrecht) künstlich bzw. willkürlich geschaffen werden, festgestellt werden (vgl. BSG, a.a.O., RN 28 und 29).

Hierbei ist zu beachten, dass der EuGH den Missbrauchstatbestand im Zusammenhang mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit, soweit ersichtlich, nur zur Anwendung gebracht hat, wenn die Aufnahme einer Arbeitstätigkeit im Zielstaat erkennbar darauf zielte, sich Zugang zu (Sozial)Leistungen mit einem deutlich anderen Förderziel (konkret: Studienbeihilfen) zu verschaffen und eine mehr als ganz kurzzeitige Integration unmittelbar in den Arbeitsmarkt daher von vornherein nicht angestrebt war (vgl. EuGH, Urteil vom 21. Juni 1988, C-39/86, RS Lair, juris; EuGH, Urteil vom 6. November 2003, C-413/01, RS Ninni-Orasche, juris RN 36). Eine Übertragung dieser Überlegungen auf Sozialleistungen, die gerade der Integration in den Arbeitsmarkt dienen und aufstockend zu Einkünften aus einem – tatsächlichen und echten – Arbeitsverhältnis gezahlt werden, erscheint dem Senat bereits schwierig bzw. zweifelhaft (ebenso LSG Hessen, Beschluss vom 11. Dezember 2019, L 6 AS 528/19 B ER, juris RN 39). Zudem fällt der Bezug aufstockender existenzsichernder Leistungen bzw. der Bezug von Leistungen nach unfreiwilliger Arbeitslosigkeit gerade in den Schutzbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit und wird u.a. von Art. 7 Abs. 2 VO (EU) 492/2011 garantiert. Das gilt jedenfalls, sofern die Arbeitsaufnahme nicht mehr oder weniger zum Schein erfolgt ist (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. Februar 2022, L 14 AS 1563/21 B ER, juris RN 45 f.), wofür hier keinerlei Anhaltspunkte bestehen.

Der Senat geht daher weiterhin davon aus, dass der Missbrauchstatbestand im Zusammenhang mit der Gewährleistung der Arbeitnehmerfreizügigkeit – als Ausnahme im Einzelfall – grundsätzlich eng auszulegen ist und allein die Inanspruchnahme von Bürgergeld bzw. Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, die aufstockend zu einer tatsächlichen und echten Arbeitnehmertätigkeit oder zur (weiteren) Integration in den Arbeitsmarkt gewährt werden, keinen Missbrauch des Freizügigkeitsrechts begründet. Erforderlich ist das Hinzutreten weiterer objektiver Umstände, die den Rechtsmissbrauch belegen. Anders als in dem vom LSG Berlin-Brandenburg entschiedenen Fall (Beschluss vom 13. Dezember 2022, L 18 AS 1084/22 BER, juris) haben die Antragsteller vorliegend weder sofort nach ihrer Einreise einen Leistungsantrag gestellt noch einen zweifelhaften Arbeitsvertrag vorgelegt.

Zudem ergeben sich aus dem bisherige Verlauf der Erwerbsbiografie des Antragstellers zu 1 in Deutschland auch keine objektiven Anhaltspunkte für einen Rechtsmissbrauch. Er ist nach der Einreise im August 2021 ab September 2021 durchgängig einer Erwerbstätigkeit, wenn auch durch (kurze) Zeiten der Arbeitslosigkeit unterbrochen, nachgegangen. Auch die Antragstellerin zu 2 hat – vor der Geburt der Antragstellerin zu 4 – eine geringfügige Beschäftigung ausgeübt.

Erst 18 Monate nach ihrer Einreise – nach der Geburt der Antragstellerin zu 4 und dem Umzug nach J. – haben die Antragsteller erstmals einen SGB II-Leistungsantrag gestellt. Der Antragsteller zu 1 hat sich zu keinem Zeitpunkt auf einen einmal erlangten Arbeitnehmerstatus berufen, sondern sich bei Verlust des Arbeitsplatzes sofort um eine neue Beschäftigung bemüht. Es besteht daher auch kein Anhalt für eine Einreise nach Deutschland mit der Absicht des Sozialleistungsbezugs. Seit dem Zuzug in den Bereich des Antragsgegners befindet sich der Antragsteller zu 1 seit 18 Monaten mit Ausnahme einer Unterbrechung von sechs Wochen in Beschäftigung und erzielt hieraus ein monatliches Nettoeinkommen von regelmäßig mindestens 1.000 €.

Der Senat bleibt zudem bei seiner Auffassung, wonach für die Annahme der rechtsmissbräuchlichen Berufung auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit dann kein Raum bleibt, wenn der Betroffene – wie hier – durch seine Tätigkeit seinen eigenen Bedarf vollständig decken kann (Beschluss des Senats vom 4. Juli 2023, L 4 AS 122/23 B ER, juris RN 44; LSG Hessen, Beschluss vom 11. Dezember 2019, L 6 AS 528/19 B ER, juris RN 43). Der Antragsteller zu 1 hat im Jahr 2024 einen Regelbedarf von 506 €. Hinzu kommen die auf ihn entfallenden Bedarfe für Unterkunft und Heizung von (anteilig) 165 €. Weitere grundsicherungsrechtlich relevante Bedarfe sind nicht ersichtlich. Das von ihm üblicherweise – bis auf den Monat Juni 2024 – erzielte Nettoentgelt von mindestens 1.000 € ist daher zur Deckung seines Gesamtbedarfs von 671 € ausreichend.

Nach Auffassung des Senats kann es die Reichweite der Arbeitnehmerfreizügigkeit vor dem Hintergrund der zitierten Rechtsprechung des EuGH auch unter dem Gesichtspunkt des Missbrauchs nicht beeinflussen, wenn das deutsche Existenzsicherungsrecht zumindest im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende durch die Zusammenfassung einer Familie zu einer Bedarfsgemeinschaft und die damit einhergehende horizontale Verteilung von Einkommen und Vermögen dafür sorgt, dass rechnerisch auch der Bedarf eines Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft mit eigenem Arbeitseinkommen erst dann vollständig gedeckt ist, wenn dies auch für alle anderen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft gilt (ebenso LSG Hessen, Beschluss vom 11. Dezember 2019, L 6 AS 528/19 B ER, juris RN 44).

Die Ausführung im angegriffenen Beschluss des SG, es wäre praktischer, darauf abzustellen, ob das Erwerbseinkommen den Bedarf der Bedarfsgemeinschaft decke, weil dann ohnehin kein Leistungsanspruch nach dem SGB II bestehe und sich „eine problematische Prüfung erübrige“, ist ersichtlich nicht mit der Rechtslage vereinbar und zynisch. Zudem ist die an den Arbeitnehmerstatus eines Familienmitglieds anknüpfende Freizügigkeit der anderen Familienmitglieder (§ 3 Abs. 1 FreizügG/EU) allein von dem Arbeitnehmerstatus des beschäftigten Familienmitglieds abgeleitet.

Nach der Einschätzung des Senats ist derzeit das einzige, was man den Antragstellern zu 1 und 2 bei der Einreise nach Deutschland vorwerfen könnte, eine gewisse „Blauäugigkeit“ oder Naivität im Hinblick auf die Lebenshaltungskosten in Deutschland, weil sie die Vorstellung hatten, dass ein Erwerbseinkommen von 1.000 € monatlich ausreiche, um eine dreiköpfige Familie zu unterhalten. Im Übrigen ist nach den derzeit bekannten Umständen des Einzelfalls davon auszugehen, dass die Antragsteller zu 1 und 2 sich seit ihrer Einreise darum bemüht haben, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Gegenteilige Umstände hat der Antragsgegner weder vorgetragen noch ermittelt. Die vom Antragsgegner und dem SG vertretene Auffassung des Rechtsmissbrauchs ist nicht nachvollziehbar.

Nach allem ist der Senat nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung der Auffassung, dass die Berufung auf den Arbeitnehmerstatus seitens des Antragstellers zu 1 und nachfolgend auf die Freizügigkeit als Familienangehörige seitens der übrigen Antragsteller nicht als rechtsmissbräuchlich qualifiziert werden kann. Dementsprechend greift der Ausnahmetatbestand aus § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II aller Voraussicht nach nicht ein, sodass ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht ist.

Der Leistungsanspruch der Antragsteller für Juni 2024 beläuft sich auf insgesamt 1.611,90 €. Die Regelbedarfe der Antragsteller zu 1 und 2 (Regelbedarfsstufe 2, § 20 Abs. 4 SGB II) von je 506 €, des Antragstellers zu 3 (Regelbedarfsstufe 5, § 23 Nr. 1 SGB II) von 390 € und der Antragstellerin zu 4 (Regelbedarfsstufe 6) von 357 € führen zu einem Gesamtbedarf von 1.759 €, nach Anrechnung des Kindergelds von 1.259 €. Daneben sind die KdUH von 660 € zu berücksichtigen. Auch wenn der Vermieter das Mietverhältnis zum 29. Februar 2024 fristlos wegen der Mietrückstände gekündigt hat, bewohnen die Antragsteller die Wohnung weiterhin. Der Vermieter duldet aktuell die Nutzung. Die dafür anfallende Nutzungsentschädigung entspricht dem bisherigen Mietzins und ist zu übernehmen (vgl. Berlit in LPK-SGB II, 8. Auflage 2024, § 22 RN 61).

Das Einkommen des Antragstellers zu 1 beläuft sich im Juni 2024 auf nur 521,25 €. Davon sind nach Bereinigung 307,10 € anrechenbar. Der Senat hat keine Zweifel daran, dass der neue Arbeitgeber K. Sch. GmbH den ersten Lohn des Antragstellers zu 1 erst nach dessen Arbeitsaufnahme am 18. Mai 2024 und nach Erstellen der Entgeltabrechnung am 7. Juni 2024 bar ausgezahlt hat. Zudem ist belegt, dass der letzte Lohn (für Mai 2024) des vorherigen Arbeitgebers MB F. O. GmbH nach Erstellen der Abrechnung am 27. Mai 2024 ausnahmsweise bereits im Mai 2024 durch eine Barzahlung zugeflossen ist. Denn die ansonsten übliche Überweisung auf das Konto des Antragstellers zu Beginn des Folgemonats ist im Juni 2024 ausweislich der für diesen Monat vollständig vorliegenden Kontoauszüge nicht erfolgt.

Das anrechenbare Einkommen von 307,10 € ist verhältnismäßig gemäß § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II auf die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft zu verteilen. Es verbleiben ungedeckte Bedarfe von je 563,62 € der Antragsteller zu 1 und 2, von 256,19 € des Antragstellers zu 3 und von 228,47 € der Antragstellerin zu 4. In dieser Höhe besteht der vom Antragsgegner zu befriedigende Leistungsanspruch. Es wird angeregt, die Leistungen für die KdUH direkt an den Vermieter zu zahlen.

b)         Die Antragsteller haben auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Sie verfügen außer den bekannten Einnahmen nicht über weiteres Einkommen oder Vermögen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Es besteht eine aktuelle existenzielle Notlage, die im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung andauert, denn den Antragstellern stehen bereits seit Monaten keine ausreichenden Mittel zur Deckung ihres Existenzminimums zur Verfügung. Sie haben ihre Mittellosigkeit zur Überzeugung des Senats glaubhaft gemacht.

Den Antragstellern war für das Beschwerdeverfahren gemäß § 73a SGG in Verbindung mit §§ 114 ff., § 121 Abs. 2 ZPO Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Die Voraussetzungen für die Bewilligung von PKH zu Gunsten der Antragsteller unter Beiordnung ihres Bevollmächtigten lagen bereits für das erstinstanzliche Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vor. Insoweit war auf ihre zulässige und begründete PKH-Beschwerde der Beschluss des SG aufzuheben und nachträglich PKH zu bewilligen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. Im PKH-Beschwerdeverfahren sind Kosten kraft Gesetzes nicht zu erstatten (vgl. § 127 Abs. 4 ZPO).

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG).

Rechtskraft
Aus
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