L 14 AS 205/11 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
14
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 173 AS 38684/10 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 14 AS 205/11 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Ist ein Anspruch auf (höhere) Leistungen für Unterkunft und Heizung glaubhaft gemacht, kommt eine einstweilige Anordnung zur vorläufigen Erbringung entsprechender Leistungen auch in Betracht, wenn noch kein Räumungstitel vorliegt und auch noch keine Räumungsklage erhoben ist (entgegen LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25. November 2010 - L 5 AS 2025/10 B ER -).
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 17. Januar 2011 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

Die nicht durch § 172 Abs. 3 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossene und auch im Übrigen zulässige (§ 173 SGG) Beschwerde des Antragstellers ist unbegründet. Er kann vom Antragsgegner die vorläufige Erbringung höherer als in dem Bescheid vom 3. November 2010 (in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Dezember 2010) für die Zeit vom 1. Januar 2011 bis 30. Juni 2011 bewilligter Leistungen für Unterkunft und Heizung nicht verlangen.

Dabei lässt der Senat dahinstehen, ob – wie das Sozialgericht angenommen hat – deshalb keine Notwendigkeit für eine vorläufige Regelung besteht, weil dem Antragsteller keine durch eine Entscheidung in der Hauptsache nicht abwendbare oder zu beseitigende Nachteile drohen (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG – sog. Anordnungsgrund), weil Mietrückstände, die die Vermieterin zur außerordentlichen fristlosen Kündigung aus wichtigem Grund berechtigen würden, (noch) nicht bestünden und frühestens im Juni 2011 bestehen könnten. Abgesehen davon, dass der Antragsteller bei fortlaufender Zahlung (für Januar, Februar und März 2011) nur eines den ihm jetzt für Unterkunft und Heizung bewilligten Leistungen in Höhe von 378 Euro entsprechenden Teils der geschuldeten Miete in Höhe von insgesamt 591,07 Euro bereits im März 2011 "für zwei aufeinander folgende Termine mit der Entrichtung eines nicht unerheblichen Teils der Miete in Verzug" geraten dürfte (vgl. Blank, in: Blank/Börstinghaus, Miete, 3. Aufl. [2008], § 543 Rdnr. 103), ist zu berücksichtigen, dass nach § 22 Abs. 1 Satz 1 des Zweiten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB II) Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der "tatsächlichen Aufwendungen" erbracht werden.

"Tatsächliche Aufwendungen" für eine Wohnung liegen allerdings nicht nur dann vor, wenn der Hilfebedürftige die Miete bereits gezahlt hat und nunmehr deren Erstattung verlangt. Vielmehr reicht es aus, dass der Hilfebedürftige im jeweiligen Leistungszeitraum einer wirksamen und nicht dauerhaft gestundeten Mietzinsforderung ausgesetzt ist. Denn bei Nichtzahlung der Miete drohen regelmäßig Kündigung und Räumung der Unterkunft. Zweck der Regelung über die Erstattung der Kosten für die Unterkunft ist es aber gerade, existentielle Notlagen zu beseitigen und den Eintritt von Wohnungslosigkeit zu verhindern. Der Hilfebedürftige wird – solange er im Leistungsbezug steht – zumeist auf die Übernahme der Unterkunftskosten durch den Grundsicherungsträger angewiesen sein (BSG, Urteil vom 7. Mai 2009 – B 14 AS 31/07 R –). Vor diesem Hintergrund hat jeder erwerbsfähige Hilfebedürftige Anspruch darauf, dass ihm die ihm von Gesetzes wegen zustehenden Leistungen so rechtzeitig erbracht werden, dass er in der Lage ist, seine vertraglichen Verpflichtungen gegenüber dem Vermieter von Wohnraum ebenfalls rechtzeitig zu erfüllen. Das Risiko einer Kündigung von Wohnraum oder eines Prozesses wegen verspäteter Zahlung des Mietzinses (mit der damit verbundenen Kostenfolge) oder gar einer Klage auf Räumung ist ihm in aller Regel nicht zuzumuten (zuletzt Beschluss des Senats vom 31. August 2010 – L 14 AS 1263/10 B ER –). Ein Anordnungsgrund wird dementsprechend bei glaubhaft gemachtem Anordnungsanspruch regelmäßig nur dann zu verneinen sein, wenn der erwerbsfähige Hilfebedürftige die tatsächlichen Aufwendungen jedenfalls vorläufig aus nicht zu berücksichtigendem Einkommen ("Freibeträge") oder Vermögen ("Schonvermögen") tätigen kann. Dafür ist hier nichts ersichtlich.

Der begehrten Anordnung steht indes entgegen, dass nicht glaubhaft gemacht ist, dass der Antragsteller für die Zeit ab 1. Januar 2011 Anspruch auf Erbringung von Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe des von ihm nach dem Mietvertrag geschuldeten Mietzinses (einschließlich Vorauszahlungen für Betriebskosten, Warmwasser und Heizung: 591,07 Euro) hat. Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 und 3 SGB II werden Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen – nur – erbracht, soweit sie angemessen sind. Soweit die Aufwendungen für die Unterkunft den die Besonderheit des Einzelfalles angemessenen Umfang übersteigen, sind sie als Bedarf des alleinstehenden Hilfebedürftigen so lange zu berücksichtigen, wie es ihm nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für sechs Monate.

Die Aufwendungen für die vom Antragsteller derzeit genutzte Wohnung sind nicht mehr angemessen. Die Angemessenheit der Aufwendungen ist für die Unterkunft und deren Heizung getrennt zu prüfen (BSG, Urteil vom 2. Juli 2009 – B 14 AS 36/08 R –).

Die Höhe der Aufwendungen für die Unterkunft wird in erster Linie durch ihre Größe beeinflusst. Deshalb ist zunächst deren Angemessenheit zu bestimmen, "und zwar typisierend anhand der landessrechtlichen Ausführungsbestimmungen über die Förderung des sozialen Mietwohnungsbaus" (BSG, Urteil vom 7. November 2006 – B 7b AS 10/06 R –). Auch in Berlin hält der Senat für eine Person eine Wohnung mit einer Wohnfläche von höchstens 50 qm für angemessen (BSG, Urteil vom 19. Februar 2009 – B 4 AS 30/08 R – für die Stadt München). Sodann ist der Wohnstandard festzustellen, wobei dem Hilfebe¬dürftigen lediglich ein einfacher und im unte¬ren Segment lie¬gender Ausstat¬tungsgrad der Woh¬nung zusteht. Als Vergleichsmaßstab ist re¬gelmäßig die Miete am Wohnort heranzuziehen. Letztlich kommt es dar¬auf an, dass das Produkt aus Wohnfläche und Standard, das sich in der Wohnungsmiete nie¬derschlägt, der Ange¬mes¬senheit entspricht. Als Maßstab hierfür scheiden die vom Grundsicherungsträger herangezogenen Ausführungsvorschriften – AV-Wohnen – aus (vgl. BSG, Terminbericht vom 20. Oktober 2010 - Nr. 58/10). Mangels anderer Erkenntnisquellen hält der Senat derzeit, jedenfalls in einstweiligen Anordnungsverfahren, das von Richterinnen und Richtern des Sozialgerichts Berlin entwickelte Konzept für geeignet zur Bestimmung von angemessenen Kosten der Unterkunft und legt es deswegen zugrunde. Danach ergibt sich unter Berücksichtigung des für Berlin geltenden qualifizierten Mietspiegels (Mietspiegel 2009) und einer Gewichtung der sich daraus für einzelne Gruppen ergebenden Werte entsprechend der Zahl der vorhandenen Wohnungen eine "abstrakt" angemessene (Nettokalt-)Miete von 4,76 Euro/qm für Wohnungen bis zu einer Größe von 60 qm (vgl. dazu und zum folgenden auch S. Schifferdecker/B. Irgang/E. Silbermann, Einheitliche Kosten der Unterkunft. Ein Projekt von Richterinnen und Richtern des Sozialgerichts Berlin, ArchsozArb 2010, Nr. 1, 28-42). Hinzuzurechnen sind die umlagefähigen Betriebskosten in einer Höhe von 1,41 Euro/qm. Somit ergibt sich für eine für eine Person angemessene Wohnung eine (Bruttokalt-)Miete von 308,50 Euro. Diese Grenze übersteigen die Aufwendungen für die bisherige Wohnung des Antragstellers. Diese betragen unter Einschluss der von der Vermieterin mit den Kosten für Warmwasser und Heizung abgerechneten, dessen ungeachtet aber den "kalten" Betriebskosten hinzuzurechnenden Kosten für (Kalt-)Wasser und Entwässerung in Höhe von monatlich gerundet 50 Euro (nach der Heizkostenabrechnung für das Jahr 2009 596,82 Euro jährlich) 378,36 Euro monatlich (273,62 Euro Grundmiete [davon 83,10 Euro wegen Modernisierung], 54,74 Euro Betriebskostenvorauszahlung, 50 Euro Vorauszahlung für [Kalt-]Wasser und Entwässerung).

Auch die Aufwendungen des Antragstellers für die Heizung seiner Wohnung (ohne die aus der Regelleistung zu deckenden Aufwendungen für die Lieferung von Warmwasser) übersteigen das Maß des Angemessenen. Der Senat lässt ausdrücklich offen, ob der Auffassung der Bundessozialgerichts – uneingeschränkt – zu folgen ist, wonach Aufwendungen bis zu einem sich aus einem kommunalen oder bundesweiten Heizspiegel ergebenden Grenzwert (Produkt aus abstrakt angemessener Wohnungsgröße und "extrem hohen" Heizkosten) als angemessen anzusehen sind (Urteil vom 2. Juli 2009 – B 14 AS 36/08 R –). Nach der Heizkostenabrechnung für 2009 betrugen die Heizkosten für die gesamte Wirtschaftseinheit (1.419,39 qm) 13.145,98 Euro (9,26 Euro/qm jährlich) und liegen damit nach dem bundesweiten Heizspiegel im mittleren Bereich. Es wäre deshalb zumindest näher begründungsbedürftig, warum unter derartigen Umständen Aufwendungen in nahezu der zweifachen Höhe bis hin zur "Verschwendungsgrenze" (in diesem Fall: 17,90 Euro/qm jährlich) noch angemessen sein sollten. Aber selbst diese "Verschwendungsgrenze" übersteigen die Aufwendungen des Antragstellers, die für das Jahr 2009 insgesamt 1.335,53 Euro und damit unter Zugrundelegung der tatsächlichen Wohnfläche (55,4 qm) 24,10 Euro/qm jährlich und unter Zugrundelegung der angemessenen Wohnfläche (50 qm) sogar 26,71 Euro/qm jährlich betrugen. Dafür, dass diese Aufwendungen in dem vorliegend zu beurteilenden Zeitraum ab dem 1. Januar 2011 wesentlich geringer sein könnten, besteht kein Anhalt; insbesondere hat der Antragsteller keine niedrigeren Vorauszahlungen als 2009 oder 2010 zu leisten.

Es ist auch nicht glaubhaft gemacht, dass die Aufwendungen des Antragstellers für Unterkunft und Heizung aufgrund "der Besonderheit des Einzelfalles" (§ 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II) angemessen sein könnten. Dies ist weder wegen der Schwerbehinderung des Antragstellers noch sonstiger gesundheitlicher Beeinträchtigungen anzunehmen. Ebenso wenig ergibt sich dies daraus, dass die Tochter des Antragstellers diesen jedes zweite Wochenende besucht und dort auch übernachtet. Dadurch werden keine höheren Aufwendungen für die Unterkunft des Antragstellers erforderlich. Insbesondere kann er nicht verlangen, dass ihm wegen dieser zwar regelmäßigen, aber zeitlich begrenzten Besuche Leistungen für eine Unterkunft erbracht werden, die für zwei (dauerhaft in einer Wohnung lebende) Personen angemessen sind.

Leistungen in Höhe der tatsächlichen, aber nicht mehr angemessenen Aufwendungen sind dem Antragsteller für die Zeit ab dem 1. Januar 2011 auch nicht etwa deswegen zu erbringen, weil es ihm nicht möglich oder nicht zumutbar wäre, die Kosten für die Unterkunft – durch einen Umzug – zu senken (§ 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II). Dass ihm eine Wohnung, für die die Aufwendungen noch angemessen sind, konkret nicht zugänglich ist, ist nicht glaubhaft gemacht. Das Gegenteil ist anzunehmen. Dem "Antrag" des Antragstellers vom 2. Juni 2010 an den Antragsgegner ist zu entnehmen, dass ihm zumindest zwei entsprechende Angebote vorlagen, die er "aus persönlichen Gründen" abgelehnt hat. Welche Gründe dies waren, hat der Antragsteller nicht erläutert. Jedenfalls scheiterte ein Wohnungsangebot nicht an einer (im Übrigen vom Antragsteller gleichfalls nicht belegten) "negativen Schufa". Eben sowenig bestehen Hinweise, dass zu den als angemessen anzusehenden Bedingungen weder eine Wohnung im Erdgeschoß (oder ggf. mit Aufzug) noch mit zwei Räumen (ein und ein halbes Zimmer) angeboten werden.

Dass der Antragsteller innerhalb eines Zeitraums von nunmehr mehr als einem Jahr keine seinen Vorstellungen entsprechende preiswertere Wohnung gefunden hat, dürfte vielmehr darauf beruhen, dass er zu verkennen scheint ("Und ich möchte mich ja nicht verschlechtern gegenüber meiner jetzigen Wohnung."), dass ihm – wie bereits ausgeführt – lediglich ein einfacher und im unte¬ren Segment lie¬gender Ausstat¬tungsgrad der Woh¬nung zusteht und er deshalb nicht mit der ihm obliegenden gebotenen Intensität eine solche Wohnung gesucht hat. Solange und soweit er auf staatliche Fürsorgeleistungen zur Deckung seines Lebensunterhalts angewiesen sein wird, wird er die von ihm nicht gewünschte Verschlechterung seiner Wohnverhältnisse allerdings nicht vermeiden können.

Schließlich ist dem Antragsteller eine Senkung der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nicht etwa deshalb unzumutbar, weil er vom Antragsgegner nicht oder nur unzureichend auf seine Obliegenheit, die Kosten für Unterkunft und Heizung zu senken, hingewiesen bzw. darüber aufgeklärt worden wäre. Der Antragsgegner hat den Antragsteller durch die Schreiben bereits vom 25. November 2009 und 29. Dezember 2009 auf die Unangemessenheit der Aufwendungen für die Unterkunft, auf die nach seiner Ansicht angemessene Höhe der Aufwendungen (378 Euro) und darauf hingewiesen, dass Leistungen in Höhe der tatsächlichen (unangemessenen) Aufwendungen nur noch bis zum 30. Juni 2010 bzw. – nach dem dem Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid vom 31. Mai 2010 abhelfenden Bescheid vom 10. Juni 2010 – bis zum 31. Dezember 2010 erbracht werden würden; dies genügt den Anforderungen an eine "Kostensenkungsaufforderung". Unschädlich ist, dass der Antragsgegner dem Antragsteller darin ungeachtet der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 2. Juli 2009, a.a.O.) eine Bruttowarmmiete benannt hat. Letztlich wirkt sich die getrennte Berechnung der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung allenfalls geringfügig aus. Auch deshalb ist nicht erkennbar, dass der Antragsteller seine Suche nach einer angemessenen Wohnung aufgrund dieses Mangels entscheidend eingeschränkt hätte oder dadurch sonst in der Suche beschränkt gewesen wäre (vgl. dazu BSG, Urteil vom 19. Februar 2009 – B 4 AS 30/08 R –).

Die Entscheidung über die Kostenerstattung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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