Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
1
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 29 AS 6/08
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 AS 15/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Der Anspruch eines voll erwerbsgeminderten Sozialgeldbeziehers auf Mehrbedarf in Höhe von 17 v. H. der Regelleistung entsteht mit dem Zeitpunkt der vom zuständigen Versorgungsamt festgestellten Schwerbehinderung einschließlich des Vorliegens der Voraussetzungen für das Merkzeichen G und nicht erst mit Aushändigung des Schwerbehindertenausweises (entgegen LSG Bad.-Württ., Urt. vom 20.11.2008 und LSG Nds.-Br., Urt. vom 25.02.2010).
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 7. Dezember 2009 - S 29 AS 6/08 - wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Gegenstand des Rechtsstreits ist die Frage, ob sich die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Rahmen des Anspruchs auf Sozialgeld bei nichterwerbsfähigen Personen, die Inhaber eines Schwerbehindertenausweises mit dem Merkzeichen G sind, ab dem Gültigkeitsdatum oder dem Ausstellungsdatum des Ausweises um einen Mehrbedarf von 17 v. H. erhöhen.
Der Kläger bezieht zusammen mit seiner Ehefrau und zwei seiner drei Töchter, mit denen er eine Bedarfsgemeinschaft bildet, seit 1. Januar 2005 durchgehend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch - Zweites Buch (SGB II).
Am 4. Dezember 2006 stellte der Kläger bei dem Hessischen Amt für Versorgung und Soziales in ZP. einen Antrag auf Feststellung des Vorliegens einer Behinderung. Dieses erkannte mit Bescheid vom 18. Mai 2007 einen Grad der Behinderung von 60 an und stellte das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen G fest. Weiter heißt es dort: "Diese Feststellung trifft zu ab 04.12.2006". Der Kläger teilte dies ausweislich eines entsprechenden Aktenvermerks der Beklagten am 24. Mai 2007 mit. Der Schwerbehindertenausweis wurde vom Versorgungsamt in ZP. am 12. Juni 2007 ausgestellt und ist gültig ab 4. Dezember 2006.
Mit Bescheid vom 4. September 2007 bewilligte die Beklagte dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und anerkannte dabei einen Mehrbedarf wegen Behinderung in Höhe von 17 v. H. der Regelleistung ab dem 12. Juni 2007, dem Ausstellungsdatum des Schwerbehindertenausweises.
Hiergegen legte der Kläger am 27. September 2007 Widerspruch ein und forderte eine Berücksichtigung des Mehrbedarfs bereits ab der Zuerkennung des Merkzeichens G zum 4. Dezember 2006. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 29. November 2007 zurück mit der Begründung, maßgeblich für den Zeitpunkt der Gewährung eines Mehrbedarfs nach § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II sei der Zeitpunkt des "Innehabens" und damit der des Besitzes des Schwerbehindertenausweises, nicht hingegen dessen Gültigkeit.
Hiergegen hat der Kläger am 2. Januar 2008 Klage bei dem Sozialgericht Gießen mit der Begründung erhoben, er habe Anfang Dezember 2006 telefonisch der Beklagten mitgeteilt, dass er einen Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderter gestellt habe, was als formlose Antragstellung im Sinne von § 37 SGB II zu werten sei. Die Gewährung des Mehrbedarfs habe ab dem Zeitpunkt zu erfolgen, zu dem die Schwerbehinderung anerkannt worden sei, also dem 4. Dezember 2006. Diesem Begehren ist die Beklagte in erster Instanz mit der Begründung entgegengetreten, zwingende Voraussetzung der Gewährung eines Mehrbedarfs nach § 28 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 SGB II sei nach dem Wortlaut der Vorschrift die Inhaberschaft eines Schwerbehindertenausweises, also dessen tatsächliches Innehaben. Maßgeblich für den Beginn der Gewährung eines Mehrbedarfs sei daher nicht der Zeitpunkt der Antragstellung durch den Leistungsempfänger oder der Zeitpunkt der Gültigkeit des Ausweises, sondern der Zeitpunkt, zu dem die zuständige Behörde dem Leistungsempfänger den Ausweis zur Verfügung stelle. Dies sei der 12. Juni 2007 gewesen.
Das Sozialgericht Gießen hat mit Urteil vom 7. Dezember 2009 die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 4. September 2007 verpflichtet, dem Kläger einen Mehrbedarf für nichterwerbsfähige Personen nach § 28 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 SGB II ab dem 4. Dezember 2006 zu gewähren und hat die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger sei bereits seit dem 4. Dezember 2006 Inhaber eines Schwerbehindertenausweises gewesen und habe daher seit diesem Zeitpunkt einen Anspruch auf Mehrbedarfsleistungen gehabt. Sowohl der Wortlaut des § 28 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 SGB II ("Inhaber eines Ausweises") wie die Formulierung der Gesetzesbegründung ("einen Schwerbehindertenausweis ... besitzen") ließen keine eindeutigen Schlussfolgerungen hinsichtlich des Zeitpunkts des Beginns des Mehrbedarfsanspruchs zu. Gleiches gelte hinsichtlich der Mehrbedarfsregelung des § 30 Abs. 1 SGB XII und der Vorgängerregelung des § 23 BSHG. Die hierzu ergangene sozialhilferechtliche Rechtsprechung habe maßgeblich auf das Innehaben des Ausweises im Bewilligungszeitraum abgestellt, dies auch wegen der Problematik einer nachträglichen Gewährung von Leistungen, wenn erst nach Ablauf eines Bewilligungszeitraums die Voraussetzungen und das Vorliegen eines Merkzeichens trotz rechtzeitiger Geltendmachung sich abschließend klären ließen. Diese Rechtsprechung lasse sich nicht auf Leistungen nach dem SGB II übertragen, denn hiernach sei lediglich eine Antragstellung nach § 37 SGB II erforderlich mit der Folge, dass eine nachträgliche Leistungsgewährung auch für bereits abgelaufene Bewilligungszeiträume nicht nur möglich, sondern sogar geboten sei. Die Forderung des Innehabens eines Ausweises nach § 69 Abs. 5 SGB IX als Voraussetzung der Gewährung eines Mehrbedarfs habe den Zweck, gegenüber dem Grundsicherungsträger dartun zu können, dass der Leistungsempfänger die Leistungen für schwerbehinderte Menschen in Anspruch nehmen dürfe. Dieser sei daher von Eigenermittlungen zum Grad der Behinderung befreit und die Entscheidung sei bei der hierfür sachkundigen Stelle konzentriert. Das diene der Verwaltungsvereinfachung und vermeide Doppelbegutachtungen durch verschiedene Leistungsträger. Diese Intention des Gesetzgebers stehe jedoch einer Korrektur der Leistungshöhe für bereits abgelaufene Bewilligungszeiträume nicht entgegen, zumal die nachträgliche Anpassungshöhe im Rahmen der Grundsicherungsleistungen allein aufgrund der Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nach dem Zuflussprinzip bereits im System selbst angelegt sei und keine Besonderheit darstelle. Die Voraussetzung der Inhaberschaft des Ausweises so eng auszulegen, dass dies den körperlichen unmittelbaren Besitz des Ausweisdokuments erfordere, widerspräche dem allgemeinen Gleichheitssatz. Es sei kein sachlicher Grund erkennbar, wonach der Beginn der Gewährung eines Mehrbedarfs davon abhängig gemacht werden dürfe, zu welchem Zeitpunkt die zuständige Stelle in der Lage sei, dem Leistungsempfänger den Schwerbehindertenausweis körperlich zur Verfügung zu stellen. Die Leistungsempfänger selbst hätten keinen Einfluss auf die Dauer des Verwaltungsverfahrens zur Anerkennung des Merkzeichens G. Jeder Tag der Verzögerung seitens der Verwaltung bei der Ausstellung des Ausweises wirke sich nachteilig auf den Leistungsanspruch des Betreffenden aus. Der mehrdeutige Wortlaut des § 28 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 SGB II sei daher verfassungskonform dahin auszulegen, dass Beginn des Mehrbedarfsanspruchs das Gültigkeitsdatum des Schwerbehindertenausweises sei. Eine solche Auslegung vermeide zudem Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Anspruchsbeginns für den Fall, dass Ausstellungsdatum und tatsächliches Innehaben des Ausweises auseinander fielen. Gegebenenfalls müssten weitere Ermittlungen zur Übergabe bzw. Übersendung des Ausweises durchgeführt werden. Schließlich sei § 30 SGB XII zum 7. Dezember 2006 dahin geändert worden, dass nunmehr der Nachweis des Merkzeichens G als Voraussetzung des Mehrbedarfs sowohl durch einen Feststellungsbescheid nach § 69 Abs. 4 SGB IX als auch durch einen Ausweis nach § 69 Abs. 5 SGB IX nachgewiesen werden könne. Eine entsprechende Klarstellung des § 28 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 SGB II habe der Gesetzgeber bislang noch nicht vorgenommen. Daraus könne indessen keine bewusste Abkehr des Gesetzgebers von der durch die Kammer vertretenen Auslegung der fraglichen Vorschrift gesehen werden.
Gegen das der Beklagten am 28. Dezember 2009 zugestellte Urteil hat diese am 13. Januar 2010 Berufung eingelegt und zur Begründung vorgetragen, dass sowohl im Geltungsbereich des Grundsicherungs- wie des Sozialhilferechts das tatsächliche Verfügen über eine öffentliche Urkunde wie im vorliegenden Fall den Schwerbehindertenausweis notwendig sei, um einen Mehrbedarf geltend machen zu können. Inhaber eines Ausweises könne nur derjenige sein, der über diesen verfüge, also die öffentliche Urkunde in Händen halte. Insoweit nimmt die Beklagte Bezug auf das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 28. November 2008 - L 7 SO 3246/08 -. Eine solche eng am Wortlaut des Gesetzes orientierte Auslegung entspreche der Historie der gesetzlichen Regelungen und der Zielsetzung einer Gleichbehandlung zwischen erwerbsgeminderten Hilfebedürftigen nach dem SGB XII und dem SGB II. Demgegenüber führe die Entscheidung des Sozialgerichts zu einer Besserstellung der Hilfesuchenden nach dem SGB II dadurch, dass es nachträgliche Leistungsgewährungen zulasse. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts erfolgten Leistungsgewährungen sowohl nach dem SGB II wie dem SGB XII nur auf Antragstellung. In dem Moment, in dem der Hilfesuchende über einen Ausweis verfüge, weise er dies gegenüber dem betreffenden Sozialleistungsträger nach. Der für den aktuellen Bewilligungszeitraum gestellte Leistungsantrag stelle dann zugleich auch den Antrag hinsichtlich des Mehrbedarfs dar. Ob diesem Antrag zu entsprechen sei, richte sich danach, ob der Hilfesuchende zu dem Zeitpunkt, zu dem der Grundleistungsantrag für den neuen Bewilligungszeitraum gestellt worden sei, tatsächlich Inhaber eines Schwerbehindertenausweises mit dem Merkzeichen G gewesen sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 7. Dezember 2009 - S 29 AS 6/08 - abzuändern und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 4. September 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. November 2007 abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er nimmt zur Begründung Bezug auf die Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG zugestimmt.
Wegen des Sach- und Streitstands im Einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge der Beklagten, die Gegenstand der Beratung waren, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die vom Sozialgericht gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 SGG zugelassene Berufung, über die der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, weil die Beteiligten zugestimmt haben (§ 124 Abs. 2 SGG), hat keinen Erfolg.
Das Sozialgericht hat die Beklagte zu Recht unter Aufhebung ihres Bescheides vom 4. September 2007 verpflichtet, dem Kläger einen Mehrbedarf in Höhe von 17 v.H. der nach § 20 SGB II maßgebenden Regelleistung bereits ab dem 4. Dezember 2006 zu gewähren. Klarstellend ist darauf hinzuweisen, dass Streitgegenstand ausschließlich die Leistung des Mehrbedarfs in dem Zeitraum zwischen der Anerkennung der Schwerbehinderung durch das Versorgungsamt am 4. Dezember 2006, der gleichzeitig das Gültigkeitsdatum des Schwerbehindertenausweises darstellt, und der Ausstellung des Schwerbehindertenausweises am 12. Juni 2007 ist, also dem Zeitpunkt, ab dem die Beklagte die Regelleistung um den Mehrbedarf erhöht hat.
Der Kläger hat als nichterwerbsfähiger Sozialgeldbezieher einen Anspruch auf Mehrbedarf als Schwerbehinderter mit dem Merkzeichen G bereits seit dem Zeitpunkt der Anerkennung durch das zuständige Versorgungsamt. Anspruchsgrundlage ist § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II i.d.F. des Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20. Juli 2006 (BGBl. I, S. 1706, 1710). Hiernach erhalten nichterwerbsfähige Personen, die voll erwerbsgemindert nach dem Sechsten Buch sind, einen Mehrbedarf von 17 v.H. der nach § 20 maßgebenden Regelleistung, wenn sie Inhaber eines Ausweises nach § 69 Abs. 5 des Neunten Buches mit dem Merkzeichen G sind; dies gilt nicht, wenn bereits ein Anspruch auf einen Mehrbedarf wegen Behinderung nach § 21 Abs. 4 oder § 28 Abs. 1 Nr. 2 oder 3 besteht.
Diese Voraussetzungen liegen im streitgegenständlichen Zeitraum vor. Der Kläger war voll erwerbsgemindert und hat als nicht erwerbsfähiger Angehöriger, der mit erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in Bedarfsgemeinschaft lebt, Sozialgeld erhalten. Die Ausschlusstatbestände des § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 2. Halbsatz liegen unstreitig im Falle des Klägers nicht vor. Der Kläger war im streitgegenständlichen Zeitraum auch "Inhaber eines Ausweises" nach § 69 Abs. 5 SGB IX mit dem Merkzeichen G. Alleiniger Streitpunkt der Beteiligten ist der Zeitpunkt des Entstehens des Anspruchs auf Mehrbedarf wegen der Schwerbehinderung. Während der Kläger und ihm folgend das Sozialgericht die Auffassung vertreten, es komme auf den Zeitpunkt der Schwerbehinderung mit dem Merkzeichen G durch das Versorgungsamt an, also auf das Gültigkeitsdatum des Schwerbehindertenausweises, vertritt die Beklagte die Auffassung, für den Anspruchsbeginn sei der Zeitpunkt des Innehabens, mithin des Besitzes des Schwerbehindertenausweises, maßgeblich. Es komme also auf das Ausfertigungsdatum 12. Juni 2007 an.
Der Senat hält die Rechtsauffassung des Klägers, die auch vom Sozialgericht geteilt wird, für zutreffend.
Der Normtext des § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II lässt entgegen der Ansicht der Beklagten keine eindeutige Schlussfolgerung zu Gunsten einer der beiden von den Beteiligten vertretenen Auffassungen zu, wenn es dort heißt " wenn sie Inhaber eines Ausweises sind." Dem Sozialgericht ist darin zuzustimmen, dass nach allgemeinem Sprachverständnis der Wortlaut sowohl dahingehend verstanden werden kann, dass der Besitz des Ausweisdokumentes notwendig ist, also dieses auch vorher ausgestellt und ausgehändigt sein muss, als auch, dass es auf die Gültigkeit des Schwerbehindertenausweises ankommt, weil daraus auf den Beginn der (materiellen) Inhaberschaft zu schließen ist. Der Gesetzeswortlaut lässt also sowohl eine formelle wie eine materielle Auslegung des Begriffes "Inhaber eines Ausweises" zu.
Auch die Entstehungsgeschichte vermag zur Klärung der Streitfrage nichts beizutragen. In der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 16/1410 S. 25) heißt es: "Mit der Anfügung der Nr. 4 findet eine im SGB XII bestehende Mehrbedarfsregelung für Behinderte im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz (Artikel 3 des Grundgesetzes) Aufnahme in das SGB II. Sozialgeldbezieher, die einen Schwerbehindertenausweis mit dem Merkzeichen G besitzen, erhalten einen Mehrbedarf in Höhe von 17% der maßgeblichen Regelleistung."
Die systematische Auslegung ergibt auch kein eindeutiges Ergebnis. § 30 Abs. 1 SGB XII, dem § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 nachgebildet ist, lautet: "Für Personen, die voll erwerbsgemindert nach dem Sechsten Buch sind, und durch einen Bescheid der nach § 69 Abs. 4 des Neunten Buches zuständigen Behörde oder einen Ausweis nach § 69 Abs. 5 des Neunten Buches die Feststellung des Merkzeichens G nachweisen, wird ein Mehrbedarf von 17 v.H. des maßgebenden Regelsatzes anerkannt." Diese Vorschrift hat die jetzige Fassung durch Artikel 1 des Gesetzes zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 2. Dezember 2006 (BGBl. I S. 2670) erhalten, in dem zusätzlich die Möglichkeit aufgenommen worden ist, durch einen Bescheid der zuständigen Behörde die Feststellung des Merkzeichens G nachzuweisen. Diese Erweiterung des Nachweises ist nach der Einfügung des § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II erfolgt und in das Recht der Grundsicherung bislang nicht übertragen worden. Immerhin lässt sich hieraus ableiten, dass diese Parallelvorschrift des SGB XII, die der Sache nach Vorbild für die streitgegenständliche Rechtsnorm war, alternativ zu dem Nachweis des Merkzeichens G durch einen entsprechenden Schwerbehindertenausweis den Feststellungsbescheid des Versorgungsamtes ausreichen lässt. Aber auch die Neufassung des § 30 Abs. 1 SGB XII lässt keinen eindeutigen Rückschluss darauf zu, ob es auf das Bescheiddatum oder auf das Gültigkeitsdatum ankommen soll.
Für den Senat ist bei der Auslegung der Vorschrift entscheidend der Zweck der Mehrbedarfsregelungen für Schwerbehinderte mit dem Merkzeichen G in § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II und der Parallel- und Vorbildvorschrift in § 30 Abs. 1 SGB XII. Im Kern drückt sich in diesen Regelungen die Entscheidung des Gesetzgebers aus, Menschen, die voll erwerbsgemindert sind und bei denen die zuständige Behörde das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen G festgestellt hat, im Hinblick auf ihre zum Zwecke des Behinderungsausgleichs typischerweise notwendigen Mehrausgaben einen Mehrbedarf zuzuerkennen und die Regelleistung entsprechend zu erhöhen. Diese zum Ausgleich der Behinderung erforderlichen zusätzlichen finanziellen Mittel müssen, sollen sie ihren Zweck erfüllen können, ab dem Zeitpunkt der entsprechenden Feststellung durch die zuständige Versorgungsverwaltung bereit gestellt werden. Der erhöhte finanzielle Aufwand zum Ausgleich der Behinderung entsteht also materiell ab dem Zeitpunkt der Feststellung durch die zuständige Verwaltungsbehörde, ausgedrückt durch das Gültigkeitsdatum des Feststellungsbescheides bzw. des Schwerbehindertenausweises. Auf diesen Zeitpunkt ist daher abzustellen für den Beginn des Anspruchs auf Mehrbedarf.
Streng davon zu trennen ist die in § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II und § 30 Abs. 1 SGB XII getroffene Entscheidung des Gesetzgebers, in formeller Hinsicht dem Hilfebedürftigen den Nachweis der Schwerbehinderung und der Feststellung des Merkzeichens G durch das zuständige Versorgungsamt gegenüber dem für Grundsicherung oder Sozialhilfe zuständigen Leistungsträger durch den entsprechenden Ausweis nach § 69 Abs. 5 SGB IX oder - so die später erfolgte Ergänzung in § 30 Abs. 1 SGB XII - durch Vorlage eines Bescheides der nach § 69 Abs. 4 SGB IX zuständigen Behörde zu erleichtern. Beide Regelungen des Gesetzgebers mit ganz unterschiedlichen Zielrichtungen, einerseits der Anspruch auf Mehrbedarf in materieller Hinsicht und zum anderen die Erleichterung des Nachweises dieser materiellen Berechtigung aufgrund der Entscheidung der zuständigen Versorgungsverwaltung gegenüber den Grundsicherungs- oder Sozialhilfeträger andererseits, müssen nach Auffassung des Senats auseinander gehalten werden.
Diese gebotene Unterscheidung der Regelungsinhalte und damit den maßgeblichen Ansatzpunkt bei der teleologischen Auslegung der Norm verkennen nach Auffassung des Senats die Landessozialgerichte Baden-Württemberg (Urteil vom 20.11.2008 – L 7 SO 3246/08) und Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 25.02.2010 – L 8 SO 219/07). In der Literatur schließen sich dieser Auffassung an Linhart/Adolph, Sozialgesetzbuch II/Sozialgesetzbuch XII, Stand: Juli 2009, § 30 Rn. 4 a. E. Demgegenüber wird die vom Senat vertretene Auffassung geteilt von Knickrehm in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage 2008, § 28 Rn. 33; Nebe SGb 2011, 193 (194 ff.) m.w.N. in Anm. 27 f.
Die im Streitfall maßgebliche teleologische Auslegung führt daher zu dem Ergebnis, dass der Anspruch auf Mehrbedarf in dem Zeitpunkt entsteht, in dem die für diese Feststellung zuständige Versorgungsverwaltung das Vorliegen der Schwerbehinderung und des Merkzeichens G festgestellt hat. Dies ist der 4. Dezember 2006.
Die von der Beklagten und den beiden Landessozialgerichten vertretene Auslegung ist nach Auffassung des Senats im Übrigen auch unvereinbar mit Grundprinzipien, die der Gesetzgeber mit dem Recht des Sozialgesetzbuches verfolgt und die bei der Auslegung deren Normen leitend sind (§ 1 Abs. 1, § 2 Abs. 2, § 10 SGB I).
Ferner läuft diese Auslegung dem Schutzzweck des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zuwider, die Stellung behinderter Menschen in Recht und Gesellschaft zu stärken (vgl. BT-Drs. 12/8165, S. 29), wenn das Entstehen eines materiellen, dem Behinderungsausgleich dienenden Rechts - hier auf Mehrbedarf - hinausgeschoben wird, bis die Verwaltung bereit und in der Lage ist, ein entsprechendes Ausweisdokument zu erstellen, ggfs. bis ein darüber geführter Rechtsstreit möglicherweise nach Jahren zu Gunsten des behinderten Menschen entschieden ist (so die Fallgestaltung bei dem LSG Niedersachsen-Bremen im Urteil vom 25.02.2010 a.a.O.).
Dem hier vertretenen Ergebnis steht auch nicht das Prinzip entgegen, dass Grundsicherungs- ebenso wie Sozialhilfeleistungen bedarfsbezogen sind und der Abwehr einer konkreten, gegenwärtigen Notlage dienen. Dieses unter dem Stichwort "keine Hilfe für die Vergangenheit" geltende Prinzip steht einer rückwirkenden Leistungsgewährung jedenfalls dann nicht entgegen, wenn – wie hier - davon auszugehen ist, dass der infolge der Schwerbehinderung entstandene erhöhte Bedarf von den Hilfebedürftigen für einen kurzen Zeitraum anderweitig gedeckt werden konnte. Aus Gründen der Effektivität der Gewährung des Anspruchs auf Hilfe und der Effektivität des Rechtsschutzes ist es für die rückwirkende Geltendmachung eines Anspruchs unschädlich, wenn der Hilfebedürftige den Bedarf unter Einsatz eigener Geldmittel oder durch Dritte selbst gedeckt hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen. Angesichts der auch in der obergerichtlichen Rechtsprechung vertretenen unterschiedlichen Auffassungen soll dem Bundessozialgericht Gelegenheit gegeben werden, die streitige Rechtsfrage zu klären.
Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Gegenstand des Rechtsstreits ist die Frage, ob sich die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Rahmen des Anspruchs auf Sozialgeld bei nichterwerbsfähigen Personen, die Inhaber eines Schwerbehindertenausweises mit dem Merkzeichen G sind, ab dem Gültigkeitsdatum oder dem Ausstellungsdatum des Ausweises um einen Mehrbedarf von 17 v. H. erhöhen.
Der Kläger bezieht zusammen mit seiner Ehefrau und zwei seiner drei Töchter, mit denen er eine Bedarfsgemeinschaft bildet, seit 1. Januar 2005 durchgehend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch - Zweites Buch (SGB II).
Am 4. Dezember 2006 stellte der Kläger bei dem Hessischen Amt für Versorgung und Soziales in ZP. einen Antrag auf Feststellung des Vorliegens einer Behinderung. Dieses erkannte mit Bescheid vom 18. Mai 2007 einen Grad der Behinderung von 60 an und stellte das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen G fest. Weiter heißt es dort: "Diese Feststellung trifft zu ab 04.12.2006". Der Kläger teilte dies ausweislich eines entsprechenden Aktenvermerks der Beklagten am 24. Mai 2007 mit. Der Schwerbehindertenausweis wurde vom Versorgungsamt in ZP. am 12. Juni 2007 ausgestellt und ist gültig ab 4. Dezember 2006.
Mit Bescheid vom 4. September 2007 bewilligte die Beklagte dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und anerkannte dabei einen Mehrbedarf wegen Behinderung in Höhe von 17 v. H. der Regelleistung ab dem 12. Juni 2007, dem Ausstellungsdatum des Schwerbehindertenausweises.
Hiergegen legte der Kläger am 27. September 2007 Widerspruch ein und forderte eine Berücksichtigung des Mehrbedarfs bereits ab der Zuerkennung des Merkzeichens G zum 4. Dezember 2006. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 29. November 2007 zurück mit der Begründung, maßgeblich für den Zeitpunkt der Gewährung eines Mehrbedarfs nach § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II sei der Zeitpunkt des "Innehabens" und damit der des Besitzes des Schwerbehindertenausweises, nicht hingegen dessen Gültigkeit.
Hiergegen hat der Kläger am 2. Januar 2008 Klage bei dem Sozialgericht Gießen mit der Begründung erhoben, er habe Anfang Dezember 2006 telefonisch der Beklagten mitgeteilt, dass er einen Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderter gestellt habe, was als formlose Antragstellung im Sinne von § 37 SGB II zu werten sei. Die Gewährung des Mehrbedarfs habe ab dem Zeitpunkt zu erfolgen, zu dem die Schwerbehinderung anerkannt worden sei, also dem 4. Dezember 2006. Diesem Begehren ist die Beklagte in erster Instanz mit der Begründung entgegengetreten, zwingende Voraussetzung der Gewährung eines Mehrbedarfs nach § 28 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 SGB II sei nach dem Wortlaut der Vorschrift die Inhaberschaft eines Schwerbehindertenausweises, also dessen tatsächliches Innehaben. Maßgeblich für den Beginn der Gewährung eines Mehrbedarfs sei daher nicht der Zeitpunkt der Antragstellung durch den Leistungsempfänger oder der Zeitpunkt der Gültigkeit des Ausweises, sondern der Zeitpunkt, zu dem die zuständige Behörde dem Leistungsempfänger den Ausweis zur Verfügung stelle. Dies sei der 12. Juni 2007 gewesen.
Das Sozialgericht Gießen hat mit Urteil vom 7. Dezember 2009 die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 4. September 2007 verpflichtet, dem Kläger einen Mehrbedarf für nichterwerbsfähige Personen nach § 28 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 SGB II ab dem 4. Dezember 2006 zu gewähren und hat die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger sei bereits seit dem 4. Dezember 2006 Inhaber eines Schwerbehindertenausweises gewesen und habe daher seit diesem Zeitpunkt einen Anspruch auf Mehrbedarfsleistungen gehabt. Sowohl der Wortlaut des § 28 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 SGB II ("Inhaber eines Ausweises") wie die Formulierung der Gesetzesbegründung ("einen Schwerbehindertenausweis ... besitzen") ließen keine eindeutigen Schlussfolgerungen hinsichtlich des Zeitpunkts des Beginns des Mehrbedarfsanspruchs zu. Gleiches gelte hinsichtlich der Mehrbedarfsregelung des § 30 Abs. 1 SGB XII und der Vorgängerregelung des § 23 BSHG. Die hierzu ergangene sozialhilferechtliche Rechtsprechung habe maßgeblich auf das Innehaben des Ausweises im Bewilligungszeitraum abgestellt, dies auch wegen der Problematik einer nachträglichen Gewährung von Leistungen, wenn erst nach Ablauf eines Bewilligungszeitraums die Voraussetzungen und das Vorliegen eines Merkzeichens trotz rechtzeitiger Geltendmachung sich abschließend klären ließen. Diese Rechtsprechung lasse sich nicht auf Leistungen nach dem SGB II übertragen, denn hiernach sei lediglich eine Antragstellung nach § 37 SGB II erforderlich mit der Folge, dass eine nachträgliche Leistungsgewährung auch für bereits abgelaufene Bewilligungszeiträume nicht nur möglich, sondern sogar geboten sei. Die Forderung des Innehabens eines Ausweises nach § 69 Abs. 5 SGB IX als Voraussetzung der Gewährung eines Mehrbedarfs habe den Zweck, gegenüber dem Grundsicherungsträger dartun zu können, dass der Leistungsempfänger die Leistungen für schwerbehinderte Menschen in Anspruch nehmen dürfe. Dieser sei daher von Eigenermittlungen zum Grad der Behinderung befreit und die Entscheidung sei bei der hierfür sachkundigen Stelle konzentriert. Das diene der Verwaltungsvereinfachung und vermeide Doppelbegutachtungen durch verschiedene Leistungsträger. Diese Intention des Gesetzgebers stehe jedoch einer Korrektur der Leistungshöhe für bereits abgelaufene Bewilligungszeiträume nicht entgegen, zumal die nachträgliche Anpassungshöhe im Rahmen der Grundsicherungsleistungen allein aufgrund der Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nach dem Zuflussprinzip bereits im System selbst angelegt sei und keine Besonderheit darstelle. Die Voraussetzung der Inhaberschaft des Ausweises so eng auszulegen, dass dies den körperlichen unmittelbaren Besitz des Ausweisdokuments erfordere, widerspräche dem allgemeinen Gleichheitssatz. Es sei kein sachlicher Grund erkennbar, wonach der Beginn der Gewährung eines Mehrbedarfs davon abhängig gemacht werden dürfe, zu welchem Zeitpunkt die zuständige Stelle in der Lage sei, dem Leistungsempfänger den Schwerbehindertenausweis körperlich zur Verfügung zu stellen. Die Leistungsempfänger selbst hätten keinen Einfluss auf die Dauer des Verwaltungsverfahrens zur Anerkennung des Merkzeichens G. Jeder Tag der Verzögerung seitens der Verwaltung bei der Ausstellung des Ausweises wirke sich nachteilig auf den Leistungsanspruch des Betreffenden aus. Der mehrdeutige Wortlaut des § 28 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 SGB II sei daher verfassungskonform dahin auszulegen, dass Beginn des Mehrbedarfsanspruchs das Gültigkeitsdatum des Schwerbehindertenausweises sei. Eine solche Auslegung vermeide zudem Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Anspruchsbeginns für den Fall, dass Ausstellungsdatum und tatsächliches Innehaben des Ausweises auseinander fielen. Gegebenenfalls müssten weitere Ermittlungen zur Übergabe bzw. Übersendung des Ausweises durchgeführt werden. Schließlich sei § 30 SGB XII zum 7. Dezember 2006 dahin geändert worden, dass nunmehr der Nachweis des Merkzeichens G als Voraussetzung des Mehrbedarfs sowohl durch einen Feststellungsbescheid nach § 69 Abs. 4 SGB IX als auch durch einen Ausweis nach § 69 Abs. 5 SGB IX nachgewiesen werden könne. Eine entsprechende Klarstellung des § 28 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 SGB II habe der Gesetzgeber bislang noch nicht vorgenommen. Daraus könne indessen keine bewusste Abkehr des Gesetzgebers von der durch die Kammer vertretenen Auslegung der fraglichen Vorschrift gesehen werden.
Gegen das der Beklagten am 28. Dezember 2009 zugestellte Urteil hat diese am 13. Januar 2010 Berufung eingelegt und zur Begründung vorgetragen, dass sowohl im Geltungsbereich des Grundsicherungs- wie des Sozialhilferechts das tatsächliche Verfügen über eine öffentliche Urkunde wie im vorliegenden Fall den Schwerbehindertenausweis notwendig sei, um einen Mehrbedarf geltend machen zu können. Inhaber eines Ausweises könne nur derjenige sein, der über diesen verfüge, also die öffentliche Urkunde in Händen halte. Insoweit nimmt die Beklagte Bezug auf das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 28. November 2008 - L 7 SO 3246/08 -. Eine solche eng am Wortlaut des Gesetzes orientierte Auslegung entspreche der Historie der gesetzlichen Regelungen und der Zielsetzung einer Gleichbehandlung zwischen erwerbsgeminderten Hilfebedürftigen nach dem SGB XII und dem SGB II. Demgegenüber führe die Entscheidung des Sozialgerichts zu einer Besserstellung der Hilfesuchenden nach dem SGB II dadurch, dass es nachträgliche Leistungsgewährungen zulasse. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts erfolgten Leistungsgewährungen sowohl nach dem SGB II wie dem SGB XII nur auf Antragstellung. In dem Moment, in dem der Hilfesuchende über einen Ausweis verfüge, weise er dies gegenüber dem betreffenden Sozialleistungsträger nach. Der für den aktuellen Bewilligungszeitraum gestellte Leistungsantrag stelle dann zugleich auch den Antrag hinsichtlich des Mehrbedarfs dar. Ob diesem Antrag zu entsprechen sei, richte sich danach, ob der Hilfesuchende zu dem Zeitpunkt, zu dem der Grundleistungsantrag für den neuen Bewilligungszeitraum gestellt worden sei, tatsächlich Inhaber eines Schwerbehindertenausweises mit dem Merkzeichen G gewesen sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 7. Dezember 2009 - S 29 AS 6/08 - abzuändern und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 4. September 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. November 2007 abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er nimmt zur Begründung Bezug auf die Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG zugestimmt.
Wegen des Sach- und Streitstands im Einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge der Beklagten, die Gegenstand der Beratung waren, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die vom Sozialgericht gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 SGG zugelassene Berufung, über die der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, weil die Beteiligten zugestimmt haben (§ 124 Abs. 2 SGG), hat keinen Erfolg.
Das Sozialgericht hat die Beklagte zu Recht unter Aufhebung ihres Bescheides vom 4. September 2007 verpflichtet, dem Kläger einen Mehrbedarf in Höhe von 17 v.H. der nach § 20 SGB II maßgebenden Regelleistung bereits ab dem 4. Dezember 2006 zu gewähren. Klarstellend ist darauf hinzuweisen, dass Streitgegenstand ausschließlich die Leistung des Mehrbedarfs in dem Zeitraum zwischen der Anerkennung der Schwerbehinderung durch das Versorgungsamt am 4. Dezember 2006, der gleichzeitig das Gültigkeitsdatum des Schwerbehindertenausweises darstellt, und der Ausstellung des Schwerbehindertenausweises am 12. Juni 2007 ist, also dem Zeitpunkt, ab dem die Beklagte die Regelleistung um den Mehrbedarf erhöht hat.
Der Kläger hat als nichterwerbsfähiger Sozialgeldbezieher einen Anspruch auf Mehrbedarf als Schwerbehinderter mit dem Merkzeichen G bereits seit dem Zeitpunkt der Anerkennung durch das zuständige Versorgungsamt. Anspruchsgrundlage ist § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II i.d.F. des Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20. Juli 2006 (BGBl. I, S. 1706, 1710). Hiernach erhalten nichterwerbsfähige Personen, die voll erwerbsgemindert nach dem Sechsten Buch sind, einen Mehrbedarf von 17 v.H. der nach § 20 maßgebenden Regelleistung, wenn sie Inhaber eines Ausweises nach § 69 Abs. 5 des Neunten Buches mit dem Merkzeichen G sind; dies gilt nicht, wenn bereits ein Anspruch auf einen Mehrbedarf wegen Behinderung nach § 21 Abs. 4 oder § 28 Abs. 1 Nr. 2 oder 3 besteht.
Diese Voraussetzungen liegen im streitgegenständlichen Zeitraum vor. Der Kläger war voll erwerbsgemindert und hat als nicht erwerbsfähiger Angehöriger, der mit erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in Bedarfsgemeinschaft lebt, Sozialgeld erhalten. Die Ausschlusstatbestände des § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 2. Halbsatz liegen unstreitig im Falle des Klägers nicht vor. Der Kläger war im streitgegenständlichen Zeitraum auch "Inhaber eines Ausweises" nach § 69 Abs. 5 SGB IX mit dem Merkzeichen G. Alleiniger Streitpunkt der Beteiligten ist der Zeitpunkt des Entstehens des Anspruchs auf Mehrbedarf wegen der Schwerbehinderung. Während der Kläger und ihm folgend das Sozialgericht die Auffassung vertreten, es komme auf den Zeitpunkt der Schwerbehinderung mit dem Merkzeichen G durch das Versorgungsamt an, also auf das Gültigkeitsdatum des Schwerbehindertenausweises, vertritt die Beklagte die Auffassung, für den Anspruchsbeginn sei der Zeitpunkt des Innehabens, mithin des Besitzes des Schwerbehindertenausweises, maßgeblich. Es komme also auf das Ausfertigungsdatum 12. Juni 2007 an.
Der Senat hält die Rechtsauffassung des Klägers, die auch vom Sozialgericht geteilt wird, für zutreffend.
Der Normtext des § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II lässt entgegen der Ansicht der Beklagten keine eindeutige Schlussfolgerung zu Gunsten einer der beiden von den Beteiligten vertretenen Auffassungen zu, wenn es dort heißt " wenn sie Inhaber eines Ausweises sind." Dem Sozialgericht ist darin zuzustimmen, dass nach allgemeinem Sprachverständnis der Wortlaut sowohl dahingehend verstanden werden kann, dass der Besitz des Ausweisdokumentes notwendig ist, also dieses auch vorher ausgestellt und ausgehändigt sein muss, als auch, dass es auf die Gültigkeit des Schwerbehindertenausweises ankommt, weil daraus auf den Beginn der (materiellen) Inhaberschaft zu schließen ist. Der Gesetzeswortlaut lässt also sowohl eine formelle wie eine materielle Auslegung des Begriffes "Inhaber eines Ausweises" zu.
Auch die Entstehungsgeschichte vermag zur Klärung der Streitfrage nichts beizutragen. In der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 16/1410 S. 25) heißt es: "Mit der Anfügung der Nr. 4 findet eine im SGB XII bestehende Mehrbedarfsregelung für Behinderte im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz (Artikel 3 des Grundgesetzes) Aufnahme in das SGB II. Sozialgeldbezieher, die einen Schwerbehindertenausweis mit dem Merkzeichen G besitzen, erhalten einen Mehrbedarf in Höhe von 17% der maßgeblichen Regelleistung."
Die systematische Auslegung ergibt auch kein eindeutiges Ergebnis. § 30 Abs. 1 SGB XII, dem § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 nachgebildet ist, lautet: "Für Personen, die voll erwerbsgemindert nach dem Sechsten Buch sind, und durch einen Bescheid der nach § 69 Abs. 4 des Neunten Buches zuständigen Behörde oder einen Ausweis nach § 69 Abs. 5 des Neunten Buches die Feststellung des Merkzeichens G nachweisen, wird ein Mehrbedarf von 17 v.H. des maßgebenden Regelsatzes anerkannt." Diese Vorschrift hat die jetzige Fassung durch Artikel 1 des Gesetzes zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 2. Dezember 2006 (BGBl. I S. 2670) erhalten, in dem zusätzlich die Möglichkeit aufgenommen worden ist, durch einen Bescheid der zuständigen Behörde die Feststellung des Merkzeichens G nachzuweisen. Diese Erweiterung des Nachweises ist nach der Einfügung des § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II erfolgt und in das Recht der Grundsicherung bislang nicht übertragen worden. Immerhin lässt sich hieraus ableiten, dass diese Parallelvorschrift des SGB XII, die der Sache nach Vorbild für die streitgegenständliche Rechtsnorm war, alternativ zu dem Nachweis des Merkzeichens G durch einen entsprechenden Schwerbehindertenausweis den Feststellungsbescheid des Versorgungsamtes ausreichen lässt. Aber auch die Neufassung des § 30 Abs. 1 SGB XII lässt keinen eindeutigen Rückschluss darauf zu, ob es auf das Bescheiddatum oder auf das Gültigkeitsdatum ankommen soll.
Für den Senat ist bei der Auslegung der Vorschrift entscheidend der Zweck der Mehrbedarfsregelungen für Schwerbehinderte mit dem Merkzeichen G in § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II und der Parallel- und Vorbildvorschrift in § 30 Abs. 1 SGB XII. Im Kern drückt sich in diesen Regelungen die Entscheidung des Gesetzgebers aus, Menschen, die voll erwerbsgemindert sind und bei denen die zuständige Behörde das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen G festgestellt hat, im Hinblick auf ihre zum Zwecke des Behinderungsausgleichs typischerweise notwendigen Mehrausgaben einen Mehrbedarf zuzuerkennen und die Regelleistung entsprechend zu erhöhen. Diese zum Ausgleich der Behinderung erforderlichen zusätzlichen finanziellen Mittel müssen, sollen sie ihren Zweck erfüllen können, ab dem Zeitpunkt der entsprechenden Feststellung durch die zuständige Versorgungsverwaltung bereit gestellt werden. Der erhöhte finanzielle Aufwand zum Ausgleich der Behinderung entsteht also materiell ab dem Zeitpunkt der Feststellung durch die zuständige Verwaltungsbehörde, ausgedrückt durch das Gültigkeitsdatum des Feststellungsbescheides bzw. des Schwerbehindertenausweises. Auf diesen Zeitpunkt ist daher abzustellen für den Beginn des Anspruchs auf Mehrbedarf.
Streng davon zu trennen ist die in § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II und § 30 Abs. 1 SGB XII getroffene Entscheidung des Gesetzgebers, in formeller Hinsicht dem Hilfebedürftigen den Nachweis der Schwerbehinderung und der Feststellung des Merkzeichens G durch das zuständige Versorgungsamt gegenüber dem für Grundsicherung oder Sozialhilfe zuständigen Leistungsträger durch den entsprechenden Ausweis nach § 69 Abs. 5 SGB IX oder - so die später erfolgte Ergänzung in § 30 Abs. 1 SGB XII - durch Vorlage eines Bescheides der nach § 69 Abs. 4 SGB IX zuständigen Behörde zu erleichtern. Beide Regelungen des Gesetzgebers mit ganz unterschiedlichen Zielrichtungen, einerseits der Anspruch auf Mehrbedarf in materieller Hinsicht und zum anderen die Erleichterung des Nachweises dieser materiellen Berechtigung aufgrund der Entscheidung der zuständigen Versorgungsverwaltung gegenüber den Grundsicherungs- oder Sozialhilfeträger andererseits, müssen nach Auffassung des Senats auseinander gehalten werden.
Diese gebotene Unterscheidung der Regelungsinhalte und damit den maßgeblichen Ansatzpunkt bei der teleologischen Auslegung der Norm verkennen nach Auffassung des Senats die Landessozialgerichte Baden-Württemberg (Urteil vom 20.11.2008 – L 7 SO 3246/08) und Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 25.02.2010 – L 8 SO 219/07). In der Literatur schließen sich dieser Auffassung an Linhart/Adolph, Sozialgesetzbuch II/Sozialgesetzbuch XII, Stand: Juli 2009, § 30 Rn. 4 a. E. Demgegenüber wird die vom Senat vertretene Auffassung geteilt von Knickrehm in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage 2008, § 28 Rn. 33; Nebe SGb 2011, 193 (194 ff.) m.w.N. in Anm. 27 f.
Die im Streitfall maßgebliche teleologische Auslegung führt daher zu dem Ergebnis, dass der Anspruch auf Mehrbedarf in dem Zeitpunkt entsteht, in dem die für diese Feststellung zuständige Versorgungsverwaltung das Vorliegen der Schwerbehinderung und des Merkzeichens G festgestellt hat. Dies ist der 4. Dezember 2006.
Die von der Beklagten und den beiden Landessozialgerichten vertretene Auslegung ist nach Auffassung des Senats im Übrigen auch unvereinbar mit Grundprinzipien, die der Gesetzgeber mit dem Recht des Sozialgesetzbuches verfolgt und die bei der Auslegung deren Normen leitend sind (§ 1 Abs. 1, § 2 Abs. 2, § 10 SGB I).
Ferner läuft diese Auslegung dem Schutzzweck des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zuwider, die Stellung behinderter Menschen in Recht und Gesellschaft zu stärken (vgl. BT-Drs. 12/8165, S. 29), wenn das Entstehen eines materiellen, dem Behinderungsausgleich dienenden Rechts - hier auf Mehrbedarf - hinausgeschoben wird, bis die Verwaltung bereit und in der Lage ist, ein entsprechendes Ausweisdokument zu erstellen, ggfs. bis ein darüber geführter Rechtsstreit möglicherweise nach Jahren zu Gunsten des behinderten Menschen entschieden ist (so die Fallgestaltung bei dem LSG Niedersachsen-Bremen im Urteil vom 25.02.2010 a.a.O.).
Dem hier vertretenen Ergebnis steht auch nicht das Prinzip entgegen, dass Grundsicherungs- ebenso wie Sozialhilfeleistungen bedarfsbezogen sind und der Abwehr einer konkreten, gegenwärtigen Notlage dienen. Dieses unter dem Stichwort "keine Hilfe für die Vergangenheit" geltende Prinzip steht einer rückwirkenden Leistungsgewährung jedenfalls dann nicht entgegen, wenn – wie hier - davon auszugehen ist, dass der infolge der Schwerbehinderung entstandene erhöhte Bedarf von den Hilfebedürftigen für einen kurzen Zeitraum anderweitig gedeckt werden konnte. Aus Gründen der Effektivität der Gewährung des Anspruchs auf Hilfe und der Effektivität des Rechtsschutzes ist es für die rückwirkende Geltendmachung eines Anspruchs unschädlich, wenn der Hilfebedürftige den Bedarf unter Einsatz eigener Geldmittel oder durch Dritte selbst gedeckt hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen. Angesichts der auch in der obergerichtlichen Rechtsprechung vertretenen unterschiedlichen Auffassungen soll dem Bundessozialgericht Gelegenheit gegeben werden, die streitige Rechtsfrage zu klären.
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