L 5 AS 330/11 B ER

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 19 AS 620/11 ER
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 5 AS 330/11 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 7. Juli 2011 wird als unzulässig verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die außergerichtlichen Kosten der Beschwerdegegner für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Antragsgegner und Beschwerdeführer wendet sich gegen einen Beschluss des Sozialgerichts Dessau-Roßlau, das ihn im Rahmen eines Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes zur vorläufigen Bewilligung eines Darlehens nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) verpflichtet hat.

Die Antragsteller und Beschwerdegegner beziehen als Bedarfsgemeinschaft seit 2008 laufend Leistungen nach dem SGB II. Die Antragsteller zu 1. und 2. üben eine selbstständige Tätigkeit aus. Der Antragsteller zu 2. ist Eigentümer mehrerer vermieteter Immobilien. Der Antragsgegner bewilligte für die Zeit vom 1. Dezember 2010 bis 31. März 2011 darlehensweise Leistungen nach dem SGB II i.H.v. 1.225,50 EUR/Monat.

Nachdem ihr Weiterzahlungsantrag zunächst nicht beschieden wurde, haben die Antragsteller am 11. April 2011 bei dem Sozialgericht Dessau-Roßlau einstweiligen Rechtsschutz für die Zeit ab dem 1. April 2011 beantragt. Der Antragsgegner hat im Erörterungstermin am 13. Mai 2011 ein vorläufiges Darlehen i.H.v. 647,86 EUR/Monat ab 1. April 2011 zugesichert. Nach Vorlage weiterer Unterlagen der Antragsteller hat er mit Bescheid vom 8. Juni 2011 für die Monate April und Mai 2011 ein Darlehen i.H.v. insgesamt 1.295,72 EUR bewilligt. Mit weiterem Bescheid vom 8. Juni 2006 ist den Antragstellern ein Vorschuss i.H.v. 413,36 EUR bewilligt worden. Mit Bescheid vom 4. Juli 2011 hat der Antragsgegner für den Monat Juli 2011 wiederum ein Darlehen i.H.v. 647,86 EUR bewilligt.

Das Sozialgericht hat den Antragsgegner mit Beschluss vom 7. Juli 2011 verpflichtet, den Antragstellern vorläufig für den Zeitraum vom 11. April bis 30. September 2011, längstens jedoch bis zum bestandskräftigen Abschluss des Verwaltungsverfahrens, monatlich 1.006,84 EUR als Darlehen zu gewähren, soweit nicht Leistungen bereits erbracht worden sind. Für die Zeit vor dem 11. April 2011 sowie für die begehrte Übernahme der Beiträge zur privaten Krankenversicherung hat das Sozialgericht ein Eilbedürfnis verneint. Der Beschluss ist dem Antragsgegner am 13. Juli 2011 zugestellt worden.

Mit Bescheid vom 26. Juli 2011 hat der Antragsgegner den Antragstellern Leistungen für die Zeit vom 1. April bis 30. September 2011 i.H.v. 1.371,67 EUR für April und i.H.v. 1.006,84 EUR plus 492,31 EUR Zuschuss zur Kranken- und Pflegeversicherung für Mai bis September 2011 bewilligt. Der Bescheid trägt die Überschrift: "hier: Darlehensbescheid - Änderung zu den Bescheiden vom 08.06.2011 und 04.07.2011." Im Anschreiben heißt es: " Sie haben nachgewiesen, dass der sofortige Verbrauch oder die sofortige Verwertung von grundsätzlich zu berücksichtigendem Vermögen nicht möglich ist oder für Sie eine besondere Härte bedeuten würde, so dass Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts als Darlehen gewährt werden können.

Aufgrund ihres Antrages vom 01.04.2011 bewillige ich gemäß § 24 Abs. 5 SGB II die beantragten Leistungen für die Zeit vom 01.04.2011 bis 30.09.2011 in der nachstehenden Höhe als Darlehen:"

Es folgen die Berechnungen für die einzelnen Monate. Die Rechtsbehelfsbelehrung lautet: "Der Bescheid ergeht in Ausführung des Beschlusses vom 08.07.2011 - Sozialgericht Dessau-Roßlau S 19 AS 620/11 ER". Die Leistungen für August 2011 sind am 27. Juli 2011 zur Zahlung angewiesen worden.

Am 5. August 2011 hat der Antragsgegner beim Landessozialgericht Beschwerde gegen den Beschluss eingelegt und beantragt, diesen aufzuheben und den Antrag abzulehnen. Mit Schreiben vom 15. August 2011 hat er Ausführungen zur Sache gemacht.

Auf den rechtlichen Hinweis des Senatsvorsitzenden hinsichtlich dessen Bedenken an der Zulässigkeit der Beschwerde hat der Antragsgegner weiter ausgeführt: Die zitierte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei hier nicht einschlägig, denn hier sei keine endgültige Leistungsbewilligung erfolgt. Zur Vermeidung eines Zwangsgelds habe er den Beschluss des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vorbehaltlos ausführen müssen. Der Ausführungsbescheid habe den Hinweis enthalten, dass die Entscheidung in Ausführung des Beschlusses des Sozialgerichts Dessau-Roßlau ergehe. Den Antragstellern sei dieser Beschluss bekannt gewesen und damit auch die Vorläufigkeit der Entscheidung. Ein verständiger, objektiver Erklärungsempfänger hätte gerade nicht von einer endgültigen Entscheidung ausgehen dürfen, zumal das Widerspruchsverfahren noch nicht abgeschlossen sei und die Antragsteller bereits eine Vielzahl von Rechtsbehelfen und Rechtsmitteln erhoben hätten. Daher bestehe ein Rechtsschutzbedürfnis für das Beschwerdeverfahren.

Der Antragsgegner beantragt,

den Beschluss aufzuheben und den Antrag abzulehnen und gemäß § 193 Sozialgerichts (SGG) zu entscheiden, dass außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten sind.

Die Antragsteller halten die Beschwerde für unzulässig und den angefochtenen Beschluss für richtig.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Gerichts- und Verwaltungsverfahren sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Akten und Beiakten Bezug genommen. Die Verwaltungsakten des Antragsgegners haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung des Senats gewesen.

II.

Die Beschwerde ist form- und fristgerecht im Sinne von § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingelegt worden. Sie ist auch statthaft gemäß § 172 Abs. 3 Ziffer 1 SGG. Hier ist der Beschwerdewert von 750,00 EUR überschritten. Der vom Sozialgericht zugesprochene Betrag i.H.v. 1.006,84 EUR/Monat für die Zeit vom 11. April bis 30. September 2011 übersteigt die vom Antragsgegner bereits bewilligten Leistungen für April und Mai (1.295,72 EUR), Juni (413,36 EUR) und Juli (647,86 EUR) um einen Betrag von mehr als 750,00 EUR.

Die Beschwerde ist jedoch unzulässig. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners fehlt es an einem Rechtsschutzbedürfnis. Ein solches ist vom Gericht im jeweiligen Rechtszug von Amts wegen zu prüfen (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer SGG, 9. Auflage, vor § 51, Rn. 20). Das Rechtsschutzbedürfnis des Antragsgegners ist hier zu verneinen, weil die beantragte Entscheidung, nämlich die Aufhebung des sozialgerichtlichen Beschlusses, seine Rechtsstellung nicht verbessern könnte (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., vor § 51, Rd. 16a). Ihm steht ein schützenswertes Interesse an der Aufhebung des sozialgerichtlichen Beschlusses nicht mehr zu, weil er mit dem Änderungsbescheid vom 26. Juli 2011 einen eigenständigen Rechtsgrund für einen Anspruch der Antragsteller auf darlehensweise Bewilligung von Leistungen in der dort genannten Höhe gesetzt hat (so auch: Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11. Juli 2008, L 25 B 1174/08 AS ER; Beschluss vom 7. November 2007, L 9 B 572/07 KR ER, juris).

Der Antragsgegner hat in dem Bescheid vom 26. Juli 2011 den Antragstellern nicht nur die vom Sozialgericht zugesprochene Leistung, sondern darüber hinaus weitere, von diesem abgelehnte Leistungen bewilligt. Eine Verböserung zu Lasten der Antragsteller bei erfolgreichem Obsiegen im Beschwerdeverfahren wäre unzulässig, da der Änderungsbescheid vom 26. Juli 2011 eine den Antragsgegner bindende Regelung enthält (vgl. BSG, Urteil vom 27. Februar 2008, B 14 AS 23/07 R (18)). Insoweit könnte der Antragsgegner allein nach den Vorschriften des § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) den Änderungsbescheid vom 26. Juli 2011 zurücknehmen. Eine Aufhebung des sozialgerichtlichen Beschlusses durch den Senat wäre hierfür nicht ausreichend.

Der Antragsgegner hat in dem Bescheid vom 26. Juli 2011 eine abschließende Regelung über die Bewilligung eines Darlehens für die Zeit vom 1. April bis 30. September 2011 in der jeweils genannten Höhe getroffen. Es handelt sich nicht um einen vorläufigen Ausführungsbescheid. Dieser kommt dann in Betracht, wenn ein Rechtsmittel - wie hier - keine aufschiebende Wirkung entfaltet. Dann hat die Behörde der ihr im Urteil oder Beschluss aufgegebenen Verpflichtung ungeachtet der noch nicht eingetretenen Rechtskraft vorläufig zu entsprechen. Mit einem vorläufigen Ausführungsbescheid wird jedoch ausdrücklich keine verbindliche Regelung getroffen. Ein solcher muss deshalb unter dem Vorbehalt stehen, dass er nur dann gilt, wenn die auferlegte Verpflichtung in Rechtskraft erwächst (BSG, Urteil vom 21. Oktober 1998, B 6 KA 65/97 R (15)). Um einen solchen vorläufigen Ausführungsbescheid handelt es sich hier nicht.

Für die Auslegung eines Bescheids ist maßgeblich, wie der Empfänger ihn verstehen durfte (§ 130 Bürgerliches Gesetzbuch). Auszugehen ist vom Empfängerhorizont eines objektiven Adressaten sowie darauf, wie dieser den Verwaltungsakt nach Treu und Glauben verstehen musste. Unerheblich ist, ob die Behörde einen solchen Bescheid auch tatsächlich erlassen wollte. Ein Adressat kann sich nicht auf ein Fehlverständnis eines Bescheids berufen, wenn dieser objektiv und unter Berücksichtigung aller Umstände nicht so verstanden werden durfte (BSG, Urteil vom 6. April 2011, B 4 AS 119/10 R (18)). Bei der Auslegung ist zunächst vom Wortlaut des Verfügungssatzes, ggf. unter Zuhilfenahme der Begründung des Bescheids auszugehen (BSG, Urteil vom 2. März 2010, B 5 R 104/07 R (12)). Maßgeblich ist die Beurteilung zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses (BSG, Urteil vom 17. Juni 2008, B 8 AY 8/07 R (12)).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ergibt sich aus dem Bescheid vom 26. Juli 2011 aus Sicht eines objektiven Erklärungsempfängers nicht, dass nur eine vorläufige, nicht verbindliche Bewilligung für die Zeit bis zur Aufhebung des sozialgerichtlichen Beschlusses durch das Beschwerdegericht erfolgen sollte.

Zunächst lässt sich aus dem Wortlaut des Bescheids vom 26. Juli 2011 nur eine vorbehaltlose Regelung im Sinne einer darlehensweisen Bewilligung von Leistungen für den genannten Zeitraum entnehmen. Schon die Überschrift "Darlehensbescheid - Änderung zu den Bescheiden vom 08.06.2011 und 04.07.2011" sowie die Ausführungen Eingangs der Begründung des Bescheids lassen für einen objektiven Erklärungsempfänger nur die Auslegung zu, dass die ausgewiesenen Leistungen als Darlehen bewilligt werden sollen. Dort ist nämlich ausgeführt, dass der sofortige Verbrauch oder die Verwertung des Vermögens nicht möglich sei oder eine besondere Härte bedeuten würde, sodass ein Darlehen gewährt werden könne. Ferner ist ausdrücklich auf den Leistungsantrag vom 1. April 2011 Bezug genommen und der Darlehensanspruch auf § 24 Abs. 5 SGB II gestützt worden.

Auch die ausdrückliche Bezugnahme auf eine Änderung der Bescheide vom 8. Juni und 4. Juli 2011 lässt nur den Schluss einer endgültigen darlehensweisen Bewilligung zu. Denn in diesen Bescheiden hatte der Antragsgegner - schon vor dem sozialgerichtlichen Beschluss - endgültige Regelungen über eine darlehensweise Bewilligung von Leistungen in Teilen des streitigen Zeitraums getroffen.

Die Rechtsbehelfsbelehrung, wonach der Bescheid in Ausführung des sozialgerichtlichen Beschlusses ergehe, führt nicht zu einer anderen Beurteilung des objektiven Erklärungswerts. Denn dieser Hinweis konnte vor dem Hintergrund der vorher stehenden Formulierungen nur so verstanden werden, dass der Antragsgegner den sozialgerichtlichen Beschluss "akzeptiert" und umgesetzt hat. Ein Vorbehalt einer gerichtlichen Überprüfung in einem Hauptsache- oder Beschwerdeverfahren lässt sich dem nicht entnehmen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Bescheid vom 26. Juli 2011 deutlich vor Beschwerdeeinlegung am 5. August 2011 ergangen ist. Zu diesem Zeitpunkt wussten die Antragsgegner noch nichts von dem später eingelegten Rechtsmittel. Ein objektiver Erklärungsempfänger hätte daher keinen Anlass gehabt, wegen widersprüchlichen Verhaltens der Behörde am Inhalt des Bescheids zu zweifeln.

Auch die Gesamtumstände lassen eine andere Auslegung des Bescheids nicht zu. So hat der Antragsgegner - über die Verpflichtung des Sozialgerichts hinaus - Leistungen schon für die Zeit vor dem 11. Januar 2011 bewilligt und darüber hinaus Leistungen für die private Krankenversicherung gewährt. Dafür hatte das Sozialgericht jedoch keinen Anordnungsgrund gesehen. Da die Verfügungssätze des Bescheids vom 26. Juli 2011 sogar über die im angefochtenen Beschluss getroffene Anordnung hinausgingen, konnte aus objektiver Sicht nur auf eine eigenständige Regelung unabhängig von der Auffassung des Sozialgerichts geschlossen werden. Dies schließt jedoch denknotwendig eine bloße vorläufige Umsetzung des Beschlusses zur Vermeidung eines Zwangsgelds aus.

Die vom Antragsgegner weiter angeführten Einwände sind nicht stichhaltig. Der dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 17. Juni 2008 (a.a.O.) zugrunde liegende Fall ist zwar nicht mit dem Vorliegenden identisch, da dort die Klagebefugnis der Leistungsberechtigten wegen der bereits bestandskräftig erfolgten Bewilligung verneint worden war. Inhaltlich geht es jedoch um die gleiche Frage, nämlich ob ein Rechtsgrund für das Behaltendürfen einer bewilligten Leistung besteht und wie Bescheide auszulegen sind.

Unerheblich ist auch, dass die Antragsteller bereits mehrere Widersprüche und Klage im Zusammenhang mit der Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II erhoben haben. Aus diesem Umstand lässt sich keinerlei Rückschluss auf das objektive Verständnis des Bewilligungsbescheids ziehen.

Nichts anderes ergibt sich auch aus dem Argument, das Widerspruchsverfahren sei noch nicht abgeschlossen. Der Bescheid vom 26. Juli 2011 konnte ohne Weiteres als Teilabhilfebescheid verstanden werden. Soweit die Antragsteller mit ihrem Weiterzahlungsantrag die Bewilligung von Leistungen als Zuschuss beantragt haben, ist diesem Begehren seitens des Antragsgegners nicht stattgegeben worden. Insoweit steht eine Widerspruchsentscheidung noch aus.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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