Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Münster (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
3
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 3 AS 321/11
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten. Die Berufung wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klage richtet sich gegen einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid, mit dem die Beklagte Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) zurückfordert.
Der Kläger stand seit Dezember 2008 bei der Beklagten im Leistungsbezug nach dem SGB II. Am 15.01.2009 händigte die Beklagte dem Kläger ein "Merkblatt zur Grundsicherung für Arbeitsuchende (Arbeitslosengeld II / Sozialgeld)" aus. Dieses enthielt unter 5. (Pflichten des Hilfebedürftigen) einen Hinweis, wonach der Hilfebedürftige "Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind oder über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abgegeben worden, unverzüglich mitzuteilen" habe. Im Folgenden lautet das Merkblatt auszugsweise: "Diese Mitteilungspflicht besteht insbesondere dann, wenn [ ] ein Angehöriger oder eine sonstige Person im Haushalt aufgenommen wird."
Auf dessen Weiterbewilligungsantrag vom 04.05.2009 bewilligte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 13.05.2009 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 01.06.2009 bis 30.11.2009. Mit weiterem Bescheid vom 25.11.2009 bewilligte die Beklagte dem Kläger auf dessen Folgeantrag vom 18.11.2009 für die Zeit vom 01.12.2009 bis 31.05.2010 Leistungen von monatlich 676 EUR. Darin enthalten waren Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 301 EUR. In der Folge – der genaue Zeitpunkt ist zwischen den Beteiligten umstritten – zog der Bruder des Klägers bei diesem ein. Seit dem 01.02.2010 ist der Bruder unter der Anschrift des Klägers gemeldet. Mit Bescheid vom 19.04.2010 stellte die Beklagte die Leistungen zum 30.04.2010 ein. Seit dem 01.05.2010 bezieht der Kläger Sozialhilfe.
Am 04.05.2010 wurde die Beklagte auf den Einzug des Bruders aufmerksam gemacht. Daraufhin erklärte der Kläger im Rahmen einer persönlichen Vorsprache am 20.05.2010, sein Bruder sei Ende des Jahres zu ihm gezogen. Er (der Kläger) ließe ihn vorübergehend kostenlos bei sich wohnen. Mit Schreiben vom 18.06.2010 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sein Bruder sich nach ihren Erkenntnissen seit der Zwangsräumung von dessen Wohnung im August 2009 bei ihm aufhalte, und dass sie beabsichtige, ihren Leistungsbe-scheid 13.05.2009 ab der Änderung der Verhältnisse aufzuheben und überzahlte Leistungen zurückzufordern. Die Beklagte gab dem Kläger Gelegenheit zur Äußerung bis zum 30.07.2010. Daraufhin teilte der Kläger unter dem 22.06.2010 mit, sein Bruder wohne nicht seit August 2009 bei ihm. Auch erhielte er keine Mietanteile von ihm.
Mit Bescheid vom 27.12.2010 hob die Beklagte ihren Bewilligungsbescheid vom 25.11.2009 insoweit auf, als darin für die Monate Februar bis einschließlich April 2010 Leistungen von monatlich mehr als 525 EUR festgesetzt wurden und forderte vom Kläger insgesamt 453 EUR zurück. Zur Begründung führte sie aus, es sei mit dem Einzug des Bruders eine Änderung in den Verhältnissen eingetreten. Diese habe der Kläger trotz entsprechender Hinweise in dem Merkblatt zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht mitgeteilt. Auch sei der Kläger bei der Stellung von Wohngeldanträgen entsprechend informiert worden. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Kreis T. mit Bescheid vom 05.04.2011 zurück. Der Kläger habe die ihm obliegenden Mitwirkungspflichten verletzt, auf die er u.a. in den Hinweisen des aufgehobenen Bewilligungsbescheids vom 25.11.2009 hingewiesen worden sei. Die Aufwendungen für die vom Kläger und seinem Bruder bewohnte Unterkunft seien nach Kopfteilen zwischen diesen aufzuteilen.
Der Kläger hat am 02.05.2011 Klage erhoben.
Er macht geltend, sein Bruder bewohne lediglich minimalsten Raum auf dem Dachboden – ca. 10 m² mit Dachschrägen – und halte sich zudem nur abends bei ihm auf. Er habe seinem Bruder daher keine Miete abverlangt. Er habe seinen Bruder bei sich einziehen lassen, als dieser keinen Raum zum Wohnen gehabt habe. Irgendwelche Gedanken habe er sich dabei nicht gemacht. Das "Merkblatt Grundsicherung für Arbeitsuchende" habe er bekommen, aber nicht gelesen. Er gebe zu, versäumt zu haben, den Einzug seines Bruders bei der Beklagten zu melden. Er hätte den Einzug seines Bruders aber mitgeteilt, wenn er das Merkblatt gelesen und von seinen entsprechenden Pflichten gewusst hätte.
Er beantragt, den Bescheid vom 27.12.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.04.2011 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie verteidigt die angefochtenen Bescheide.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Streit- sowie der beigezogenen Leistungsakten der Beklagten verwiesen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet
Der angefochtene Bescheid vom 27.12.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.04.2011 ist rechtmäßig und der Kläger nicht beschwert (§ 54 Abs. 2 Sozialge-richtsgesetz (SGG)).
Die Beklagte hat die angefochtenen Bescheide für den Zeitraum Februar bis April 2010 zu Recht aufgehoben. Dabei kann offen bleiben, zu welchem Zeitpunkt der Bruder des Klägers genau bei diesem eingezogen ist. Ginge man davon aus, der Einzug sei nach dem Erlass des Bewilligungsbescheids vom 25.11.2009 erfolgt, könnte die Beklagte den Aufhebungsbescheid auf § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 330 Abs. 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch (SGB) Drittes Buch (III) und § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) stützen. Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist dieser nach den genannten Vorschriften mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse sowie für die Zukunft aufzuheben, soweit der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist. Ginge man demgegenüber davon aus, der Bruder des Klägers sei bereits vor Erlass des Bescheids vom 25.11.2009 bei diesem eingezogen, fände der Aufhebungsbescheid seine Rechtsgrundlage in § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 330 Abs. 2 SGB III und § 45 Abs. 1 SGB X. Danach ist ein begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den Einschränkungen des § 45 Abs. 2 bis 4 SGB X ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückzunehmen. Einschränkend darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt u.a. nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist, wobei sich der Betroffene allerdings dann nicht auf Vertrauen berufen kann, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X).
Die Bewilligungsentscheidung betreffend die den Zeitraum Februar bis April 2010 war rechtswidrig, weil zu dieser Zeit unstrittig mit dem Bruder des Klägers eine zweite Person in dessen Wohnung wohnte und dem Kläger damit nur anteilige Kosten für Unterkunft und Heizung zustanden. Denn in Fällen, in denen eine Unterkunft außer vom leistungsberechtigten Hilfebedürftigen von weiteren auch nicht zur Bedarfsgemeinschaft gehörenden Per-sonen genutzt wird, erfolgt die Zuordnung der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung grundsätzlich entsprechend einer Aufteilung nach Kopfzahl (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 19.03.2008, B 11b AS 13/09 R – juris, Rn. 13; Urteil vom 18.06.2008, B 14/11b AS 61/06 R – juris, Rn. 19). Die anteilige Aufteilung pro Kopf ist unabhängig von Alter, konkretem Wohnflächenbedarf oder Nutzungsintensität (BSG, Urteil vom 23.11.2006, B 11b AS 1/06 R – juris, Rn. 28; Piepenstock, in: jurisPK-SGB II, 3. Aufl. 2012, § 22 Rn. 61 m.w.N.). Die Rechtslage nach dem SGB II schließt damit an die nach dem alten Bundes-sozialhilfegesetz (BSHG) an (dazu Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 21.01.1988, 5 C 68/85 – juris).
Die Behauptung des Klägers, sein Bruder bewohne lediglich den ca. 10 m² großen und mit Dachschrägen versehenen Dachboden und halte sich überdies nur abends bei ihm auf, ist danach ohne Belang, weil es auf die genutzte Wohnfläche ebenso wenig ankommt wie auf die Intensität der Nutzung. Ebenso unerheblich ist, dass der Bruder dem Kläger keine Miete gezahlt hat bzw. keine Mietanteile übernehmen konnte. Auch in diesem Fall sind die Wohnkosten nach Köpfen aufzuteilen (vgl. BSG, Urteil vom 18.06.2008, a.a.O.). Danach standen dem Kläger im Aufhebungszeitraum monatliche Kosten für Unterkunft in Höhe von lediglich 150,50 EUR anstelle der bewilligten 301 EUR zu. Dieser Betrag ist gemäß § 41 Abs. 2 SGB II a.F. auf 151 EUR aufzurunden. Besonderheiten, die ein Abweichen von der Aufteilung der Kosten nach Kopfteilen rechtfertigen, sind nicht ersichtlich. Ausnahmen können insbesondere in Fällen der Behinderung oder Pflegebedürftigkeit eines Mitbewohners vorliegen (BSG; Urteil vom 27.02.2008, B 14/11b AS 55/06 R – juris, Rn. 18 f.). Dass ein derartiger Fall hier vorliegt, ist bereits nicht vorgetragen.
Weiter ist der Kläger einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse grob fahrlässig nicht nachgekommen (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X) bzw. kann sich nicht auf Vertrauensschutz berufen, weil der Bewilligungsbescheid vom 25.11.2009 auf Angaben beruht, die der Kläger grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig gemacht hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X). Der Kläger war nach § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 Sozialgesetzbuch (SGB) Erstes Buch (I) verpflichtet, der Beklagten mitzuteilen, dass sein Bruder bei ihm eingezogen war, weil dieser Umstand für die Höhe der ihm zustehenden Kosten für Unterkunft und Heizung erheblich war (s.o.). Dass er dies nicht getan hat, hat der Kläger selbst eingestanden.
Dem Kläger ist insoweit auch grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen. Diese liegt vor, wenn der durch einen Verwaltungsakt Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3, 2. Hs. SGB X). Maßgebend ist insoweit die persönliche Einsichtsfähigkeit des Begünstigten. Die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt danach, wer schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss (dazu Schütze, in: von Wulffen, SGB X, 7. Aufl. 2010, § 45 Rn. 52 m.w.N.). So liegt es hier. Denn dem Kläger war seinerzeit das "Merkblatt zur Grundsicherung für Arbeitsuchende" ausgehändigt worden (zur Verwendung von Merkblättern vgl. BSG, Urteil vom 24.04.1997, 11 RAr 89/96; Beschluss vom 15.04.1992, 10 BKg 4/92 – juris; Urteil vom 20.04.1997, 11 RAr 89/96 – juris, Rn. 22 f.). Nach seiner eigenen Einlassung im Rahmen der mündlichen Verhandlung hat der Kläger dieses Merkblatt zwar erhalten, aber nicht gelesen. Es ist zur Überzeugung der Kammer grob fahrlässig, wenn jemand ein Merkblatt, in dem er u.a. über seine Pflichten als Leistungsbezieher aufgeklärt wird, nicht zur Kenntnis nimmt. Denn hierdurch verschließt sich ein Leistungsempfänger naheliegendsten Erkenntnismöglichkeiten über die ihn treffenden Rechte und Pflichten. Der Kläger hätte sich nach dem Einzug seines Bruders zumindest veranlasst sehen müssen, anhand der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten und damit insbesondere auch mithilfe des Merkblatts zu überprüfen, ob sich dieser Umstand auf seinen Leistungsbezug auswirkt. Denn der Einzug seines Bruders während des Leistungsbezugs des Klägers führte faktisch dazu, dass auch dessen Bedarfe für Unterkunft und Heizung aus den steuerfinanzierten Leistungen nach dem SGB II gedeckt wurden (vgl. dazu Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen (NRW), Beschluss vom 07.04.2006, L 20 B 74/06 AS ER). Dass der Hinweis in dem Merkblatt, wonach eine Mitteilungspflicht insbesondere dann besteht, "wenn [ ] ein Angehöriger oder eine sonstige Person im Haushalt aufgenommen wird", auch ausreichend gewesen wäre, ihm seine diesbezüglichen Mitwirkungspflichten hinreichend klar vor Augen zu führen und ihn zu veranlassen, den Einzug seines Bruders mitzuteilen, hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung auf Vorhalt des Merkblatts selbst eingeräumt. Ob die im Widerspruchsbescheid vertretene Ansicht zutrifft, dem Kläger sei bereits aufgrund der u.a. in dem aufgehobenen Bewilligungsbescheid vom 25.11.2009 enthaltenen Hinweise grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen, bedarf danach keiner Entscheidung.
Die Beklagte hat auch die Fristen des § 45 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1, Abs. 4 Satz 2 SGB X (ggf. in Verbindung mit 48 Abs. 4 Satz 1 SGB X) gewahrt.
Die Aufhebungsentscheidung stand gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 45 Abs. 1 SGB X und § 330 Abs. 2 SGB III bzw. § 48 Abs. 1 SGB X und § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III auch nicht im Ermessen der Beklagten. Dies gilt auch für eine auf § 45 Abs. 1 SGB X gestützte Aufhebung mit Wirkung für die Zukunft, denn § 330 Abs. 2 SGB III sieht auch insoweit eine gebundene Entscheidung vor (dazu Düe, in: Niesel/Brand, SGB III, 5. Aufl. 2010, § 330 Rn. 23). Diese Auslegung ergibt sich nach Ansicht der Kammer aus dem Wortlaut der Vorschrift ("auch"). Ginge man davon aus, dass der Bruder des Klägers bereits vor dem 01.02.2010 bei diesem eingezogen ist, hätte die Beklagte die Bewilligungsbescheide zwar mit Wirkung ab dem Zeitpunkt des Einzugs des Bruders aufheben müssen. Selbst wenn dies zur Rechtswidrigkeit des Aufhebungsbescheids führte, wäre der Kläger hierdurch jedoch nicht beschwert und hätte ebenfalls keinen Aufhebungsanspruch.
Die Erstattungsforderung findet ihre Rechtsgrundlage in § 40 Abs. 1 Satz SGB II in Verbindung mit § 50 Abs. 1 SGB X. Sondervorschriften über die Erstattung von Bedarfen für die Unterkunft greifen vorliegend nicht ein (§ 40 Abs. 4 Satz 2 SGB II).
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs. 1 SGG. Anlass, gemäß § 144 Abs. 2 SGG die Berufung zuzulassen, besteht nicht.
Tatbestand:
Die Klage richtet sich gegen einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid, mit dem die Beklagte Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) zurückfordert.
Der Kläger stand seit Dezember 2008 bei der Beklagten im Leistungsbezug nach dem SGB II. Am 15.01.2009 händigte die Beklagte dem Kläger ein "Merkblatt zur Grundsicherung für Arbeitsuchende (Arbeitslosengeld II / Sozialgeld)" aus. Dieses enthielt unter 5. (Pflichten des Hilfebedürftigen) einen Hinweis, wonach der Hilfebedürftige "Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind oder über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abgegeben worden, unverzüglich mitzuteilen" habe. Im Folgenden lautet das Merkblatt auszugsweise: "Diese Mitteilungspflicht besteht insbesondere dann, wenn [ ] ein Angehöriger oder eine sonstige Person im Haushalt aufgenommen wird."
Auf dessen Weiterbewilligungsantrag vom 04.05.2009 bewilligte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 13.05.2009 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 01.06.2009 bis 30.11.2009. Mit weiterem Bescheid vom 25.11.2009 bewilligte die Beklagte dem Kläger auf dessen Folgeantrag vom 18.11.2009 für die Zeit vom 01.12.2009 bis 31.05.2010 Leistungen von monatlich 676 EUR. Darin enthalten waren Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 301 EUR. In der Folge – der genaue Zeitpunkt ist zwischen den Beteiligten umstritten – zog der Bruder des Klägers bei diesem ein. Seit dem 01.02.2010 ist der Bruder unter der Anschrift des Klägers gemeldet. Mit Bescheid vom 19.04.2010 stellte die Beklagte die Leistungen zum 30.04.2010 ein. Seit dem 01.05.2010 bezieht der Kläger Sozialhilfe.
Am 04.05.2010 wurde die Beklagte auf den Einzug des Bruders aufmerksam gemacht. Daraufhin erklärte der Kläger im Rahmen einer persönlichen Vorsprache am 20.05.2010, sein Bruder sei Ende des Jahres zu ihm gezogen. Er (der Kläger) ließe ihn vorübergehend kostenlos bei sich wohnen. Mit Schreiben vom 18.06.2010 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sein Bruder sich nach ihren Erkenntnissen seit der Zwangsräumung von dessen Wohnung im August 2009 bei ihm aufhalte, und dass sie beabsichtige, ihren Leistungsbe-scheid 13.05.2009 ab der Änderung der Verhältnisse aufzuheben und überzahlte Leistungen zurückzufordern. Die Beklagte gab dem Kläger Gelegenheit zur Äußerung bis zum 30.07.2010. Daraufhin teilte der Kläger unter dem 22.06.2010 mit, sein Bruder wohne nicht seit August 2009 bei ihm. Auch erhielte er keine Mietanteile von ihm.
Mit Bescheid vom 27.12.2010 hob die Beklagte ihren Bewilligungsbescheid vom 25.11.2009 insoweit auf, als darin für die Monate Februar bis einschließlich April 2010 Leistungen von monatlich mehr als 525 EUR festgesetzt wurden und forderte vom Kläger insgesamt 453 EUR zurück. Zur Begründung führte sie aus, es sei mit dem Einzug des Bruders eine Änderung in den Verhältnissen eingetreten. Diese habe der Kläger trotz entsprechender Hinweise in dem Merkblatt zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht mitgeteilt. Auch sei der Kläger bei der Stellung von Wohngeldanträgen entsprechend informiert worden. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Kreis T. mit Bescheid vom 05.04.2011 zurück. Der Kläger habe die ihm obliegenden Mitwirkungspflichten verletzt, auf die er u.a. in den Hinweisen des aufgehobenen Bewilligungsbescheids vom 25.11.2009 hingewiesen worden sei. Die Aufwendungen für die vom Kläger und seinem Bruder bewohnte Unterkunft seien nach Kopfteilen zwischen diesen aufzuteilen.
Der Kläger hat am 02.05.2011 Klage erhoben.
Er macht geltend, sein Bruder bewohne lediglich minimalsten Raum auf dem Dachboden – ca. 10 m² mit Dachschrägen – und halte sich zudem nur abends bei ihm auf. Er habe seinem Bruder daher keine Miete abverlangt. Er habe seinen Bruder bei sich einziehen lassen, als dieser keinen Raum zum Wohnen gehabt habe. Irgendwelche Gedanken habe er sich dabei nicht gemacht. Das "Merkblatt Grundsicherung für Arbeitsuchende" habe er bekommen, aber nicht gelesen. Er gebe zu, versäumt zu haben, den Einzug seines Bruders bei der Beklagten zu melden. Er hätte den Einzug seines Bruders aber mitgeteilt, wenn er das Merkblatt gelesen und von seinen entsprechenden Pflichten gewusst hätte.
Er beantragt, den Bescheid vom 27.12.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.04.2011 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie verteidigt die angefochtenen Bescheide.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Streit- sowie der beigezogenen Leistungsakten der Beklagten verwiesen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet
Der angefochtene Bescheid vom 27.12.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.04.2011 ist rechtmäßig und der Kläger nicht beschwert (§ 54 Abs. 2 Sozialge-richtsgesetz (SGG)).
Die Beklagte hat die angefochtenen Bescheide für den Zeitraum Februar bis April 2010 zu Recht aufgehoben. Dabei kann offen bleiben, zu welchem Zeitpunkt der Bruder des Klägers genau bei diesem eingezogen ist. Ginge man davon aus, der Einzug sei nach dem Erlass des Bewilligungsbescheids vom 25.11.2009 erfolgt, könnte die Beklagte den Aufhebungsbescheid auf § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 330 Abs. 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch (SGB) Drittes Buch (III) und § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) stützen. Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist dieser nach den genannten Vorschriften mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse sowie für die Zukunft aufzuheben, soweit der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist. Ginge man demgegenüber davon aus, der Bruder des Klägers sei bereits vor Erlass des Bescheids vom 25.11.2009 bei diesem eingezogen, fände der Aufhebungsbescheid seine Rechtsgrundlage in § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 330 Abs. 2 SGB III und § 45 Abs. 1 SGB X. Danach ist ein begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den Einschränkungen des § 45 Abs. 2 bis 4 SGB X ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückzunehmen. Einschränkend darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt u.a. nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist, wobei sich der Betroffene allerdings dann nicht auf Vertrauen berufen kann, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X).
Die Bewilligungsentscheidung betreffend die den Zeitraum Februar bis April 2010 war rechtswidrig, weil zu dieser Zeit unstrittig mit dem Bruder des Klägers eine zweite Person in dessen Wohnung wohnte und dem Kläger damit nur anteilige Kosten für Unterkunft und Heizung zustanden. Denn in Fällen, in denen eine Unterkunft außer vom leistungsberechtigten Hilfebedürftigen von weiteren auch nicht zur Bedarfsgemeinschaft gehörenden Per-sonen genutzt wird, erfolgt die Zuordnung der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung grundsätzlich entsprechend einer Aufteilung nach Kopfzahl (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 19.03.2008, B 11b AS 13/09 R – juris, Rn. 13; Urteil vom 18.06.2008, B 14/11b AS 61/06 R – juris, Rn. 19). Die anteilige Aufteilung pro Kopf ist unabhängig von Alter, konkretem Wohnflächenbedarf oder Nutzungsintensität (BSG, Urteil vom 23.11.2006, B 11b AS 1/06 R – juris, Rn. 28; Piepenstock, in: jurisPK-SGB II, 3. Aufl. 2012, § 22 Rn. 61 m.w.N.). Die Rechtslage nach dem SGB II schließt damit an die nach dem alten Bundes-sozialhilfegesetz (BSHG) an (dazu Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 21.01.1988, 5 C 68/85 – juris).
Die Behauptung des Klägers, sein Bruder bewohne lediglich den ca. 10 m² großen und mit Dachschrägen versehenen Dachboden und halte sich überdies nur abends bei ihm auf, ist danach ohne Belang, weil es auf die genutzte Wohnfläche ebenso wenig ankommt wie auf die Intensität der Nutzung. Ebenso unerheblich ist, dass der Bruder dem Kläger keine Miete gezahlt hat bzw. keine Mietanteile übernehmen konnte. Auch in diesem Fall sind die Wohnkosten nach Köpfen aufzuteilen (vgl. BSG, Urteil vom 18.06.2008, a.a.O.). Danach standen dem Kläger im Aufhebungszeitraum monatliche Kosten für Unterkunft in Höhe von lediglich 150,50 EUR anstelle der bewilligten 301 EUR zu. Dieser Betrag ist gemäß § 41 Abs. 2 SGB II a.F. auf 151 EUR aufzurunden. Besonderheiten, die ein Abweichen von der Aufteilung der Kosten nach Kopfteilen rechtfertigen, sind nicht ersichtlich. Ausnahmen können insbesondere in Fällen der Behinderung oder Pflegebedürftigkeit eines Mitbewohners vorliegen (BSG; Urteil vom 27.02.2008, B 14/11b AS 55/06 R – juris, Rn. 18 f.). Dass ein derartiger Fall hier vorliegt, ist bereits nicht vorgetragen.
Weiter ist der Kläger einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse grob fahrlässig nicht nachgekommen (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X) bzw. kann sich nicht auf Vertrauensschutz berufen, weil der Bewilligungsbescheid vom 25.11.2009 auf Angaben beruht, die der Kläger grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig gemacht hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X). Der Kläger war nach § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 Sozialgesetzbuch (SGB) Erstes Buch (I) verpflichtet, der Beklagten mitzuteilen, dass sein Bruder bei ihm eingezogen war, weil dieser Umstand für die Höhe der ihm zustehenden Kosten für Unterkunft und Heizung erheblich war (s.o.). Dass er dies nicht getan hat, hat der Kläger selbst eingestanden.
Dem Kläger ist insoweit auch grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen. Diese liegt vor, wenn der durch einen Verwaltungsakt Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3, 2. Hs. SGB X). Maßgebend ist insoweit die persönliche Einsichtsfähigkeit des Begünstigten. Die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt danach, wer schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss (dazu Schütze, in: von Wulffen, SGB X, 7. Aufl. 2010, § 45 Rn. 52 m.w.N.). So liegt es hier. Denn dem Kläger war seinerzeit das "Merkblatt zur Grundsicherung für Arbeitsuchende" ausgehändigt worden (zur Verwendung von Merkblättern vgl. BSG, Urteil vom 24.04.1997, 11 RAr 89/96; Beschluss vom 15.04.1992, 10 BKg 4/92 – juris; Urteil vom 20.04.1997, 11 RAr 89/96 – juris, Rn. 22 f.). Nach seiner eigenen Einlassung im Rahmen der mündlichen Verhandlung hat der Kläger dieses Merkblatt zwar erhalten, aber nicht gelesen. Es ist zur Überzeugung der Kammer grob fahrlässig, wenn jemand ein Merkblatt, in dem er u.a. über seine Pflichten als Leistungsbezieher aufgeklärt wird, nicht zur Kenntnis nimmt. Denn hierdurch verschließt sich ein Leistungsempfänger naheliegendsten Erkenntnismöglichkeiten über die ihn treffenden Rechte und Pflichten. Der Kläger hätte sich nach dem Einzug seines Bruders zumindest veranlasst sehen müssen, anhand der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten und damit insbesondere auch mithilfe des Merkblatts zu überprüfen, ob sich dieser Umstand auf seinen Leistungsbezug auswirkt. Denn der Einzug seines Bruders während des Leistungsbezugs des Klägers führte faktisch dazu, dass auch dessen Bedarfe für Unterkunft und Heizung aus den steuerfinanzierten Leistungen nach dem SGB II gedeckt wurden (vgl. dazu Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen (NRW), Beschluss vom 07.04.2006, L 20 B 74/06 AS ER). Dass der Hinweis in dem Merkblatt, wonach eine Mitteilungspflicht insbesondere dann besteht, "wenn [ ] ein Angehöriger oder eine sonstige Person im Haushalt aufgenommen wird", auch ausreichend gewesen wäre, ihm seine diesbezüglichen Mitwirkungspflichten hinreichend klar vor Augen zu führen und ihn zu veranlassen, den Einzug seines Bruders mitzuteilen, hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung auf Vorhalt des Merkblatts selbst eingeräumt. Ob die im Widerspruchsbescheid vertretene Ansicht zutrifft, dem Kläger sei bereits aufgrund der u.a. in dem aufgehobenen Bewilligungsbescheid vom 25.11.2009 enthaltenen Hinweise grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen, bedarf danach keiner Entscheidung.
Die Beklagte hat auch die Fristen des § 45 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1, Abs. 4 Satz 2 SGB X (ggf. in Verbindung mit 48 Abs. 4 Satz 1 SGB X) gewahrt.
Die Aufhebungsentscheidung stand gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 45 Abs. 1 SGB X und § 330 Abs. 2 SGB III bzw. § 48 Abs. 1 SGB X und § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III auch nicht im Ermessen der Beklagten. Dies gilt auch für eine auf § 45 Abs. 1 SGB X gestützte Aufhebung mit Wirkung für die Zukunft, denn § 330 Abs. 2 SGB III sieht auch insoweit eine gebundene Entscheidung vor (dazu Düe, in: Niesel/Brand, SGB III, 5. Aufl. 2010, § 330 Rn. 23). Diese Auslegung ergibt sich nach Ansicht der Kammer aus dem Wortlaut der Vorschrift ("auch"). Ginge man davon aus, dass der Bruder des Klägers bereits vor dem 01.02.2010 bei diesem eingezogen ist, hätte die Beklagte die Bewilligungsbescheide zwar mit Wirkung ab dem Zeitpunkt des Einzugs des Bruders aufheben müssen. Selbst wenn dies zur Rechtswidrigkeit des Aufhebungsbescheids führte, wäre der Kläger hierdurch jedoch nicht beschwert und hätte ebenfalls keinen Aufhebungsanspruch.
Die Erstattungsforderung findet ihre Rechtsgrundlage in § 40 Abs. 1 Satz SGB II in Verbindung mit § 50 Abs. 1 SGB X. Sondervorschriften über die Erstattung von Bedarfen für die Unterkunft greifen vorliegend nicht ein (§ 40 Abs. 4 Satz 2 SGB II).
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs. 1 SGG. Anlass, gemäß § 144 Abs. 2 SGG die Berufung zuzulassen, besteht nicht.
Rechtskraft
Aus
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