L 6 AS 1897/12 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
6
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 29 AS 2761/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 6 AS 1897/12 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 05.09.2012 wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat die Kosten der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Antragsgegner wendet sich gegen die Verpflichtung, einstweilen Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 09.07.2012 bis 31.12.2012 zu zahlen.

Die Antragstellerin ist polnische Staatsangehörige. Am 12.04.2007 meldete sie sich unter der Adresse I-Straße 00, X, bei der Meldebehörde der Stadt X an. Als Grund für ihren Aufenthalt in Deutschland gab sie "Arbeitsplatzsuche" an. Unter dem 13.04.2007 bescheinigte die Ausländerbehörde der Stadt X ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU. Im März 2012 meldete die Antragstellerin sich in der H-Straße ab und unter der Anschrift L-Straße 00 in E an. Am 18.05.2012 zog die Antragstellerin auch aus dieser Wohnung aus, seither ist sie nach eigenen Angaben ohne festen Wohnsitz. Das Diakonische Werk E bescheinigte unter dem 03.07.2012, dass die Antragstellerin dort eine Erreichbarkeitsadresse hat und werktäglich vorsprechen kann.

Am 13.04.2012 beantragte die Antragstellerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Sie trug vor, sie habe seit ihrer Einreise nach Deutschland unentgeltlich bei einer freichristlichen Gemeinde in X gewohnt und gearbeitet. Nach Auflösung der Gemeinschaft sei sie zu einem Bekannten nach E gezogen, wo sie mietfrei wohne. Über Einkommen oder Vermögen verfüge sie nicht.

Mit Bescheid vom 20.04.2012 lehnte der Antragsgegner den Antrag ab. Weil unklar sei, wovon die Antragstellerin in den letzten fünf Jahren gelebt habe, sei die Feststellung, dass nunmehr Hilfebedürftigkeit i.S.d. §§ 7 Abs. 1 Nr. 3, 9 SGB II vorliege, nicht möglich.

Im Widerspruchsverfahren trug die Antragstellerin vor, ihr Lebensunterhalt sei seit ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland durch die christliche Gemeinschaft sichergestellt worden. Sie habe dort gekocht, geputzt und bei der Mission geholfen. Im Gegenzug habe sie mietfrei gewohnt und Lebensmittel sowie die für ihren Lebensunterhalt notwendigen Gegenstände erhalten. Nach Auflösung der Gemeinschaft sei sie vorübergehend bei einem Bekannten in E untergekommen.

Am 09.07.2012 hat die Antragstellerin beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr ab dem 13.04.2012 Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu bewilligen. Sie hat ergänzend vorgetragen, dass eine Unterstützung durch ihre Verwandten in E nicht mehr möglich sei, weshalb sie derzeit keinen festen Wohnsitz habe. Sie habe keinen Kontakt mehr zu den Mitgliedern der christlichen Gemeinschaft. Hinsichtlich der Unterstützung durch die Gemeinschaft in X hat die Antragstellerin eine Erklärung ihres Sohnes H Q vorgelegt, der die Angaben der Antragstellerin bestätigt hat. Auch habe sie sich seit ihrem Zuzug dauerhaft in Deutschland aufgehalten.

Der Antragsgegner hat sich ergänzend auf § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II berufen. Das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin ergebe sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche. Es sei nicht nachgewiesen, dass die Antragstellerin sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe und sie damit ein Daueraufenthaltsrecht gem. § 4a FreizügG/EU habe.

Auf Nachfrage durch das Sozialgericht hat die Klägerin ergänzend dargelegt (Erörterungstermin vom 04.09.2012): Bei der christlichen Gemeinschaft habe es sich um ca. 50 Personen gehandelt, die in Wagen gewohnt hätten und oft unterwegs gewesen seien. Die Gemeinschaft habe einen König in Amerika. Den Namen der Gemeinschaft könne sie nicht nennen. Sie habe in X in den Räumen der Gemeinschaft gewohnt und bei zwei Damen geputzt und die Wohnung versorgt. Auch habe sie für die Gemeinschaft gekocht und aufgeräumt und an der Mission teilgenommen. Sie habe sich dauerhaft in Deutschland aufgehalten und sei auch für Krankenbehandlungen nicht nach Polen gereist. Der Sohn der Antragstellerin ist vom Sozialgericht als Zeuge vernommen worden. Er hat die Angaben der Antragstellerin bestätigt. Der ebenfalls als Zeuge vernommene N L, der mit der Antragstellerin nach eigenen Angaben "weitläufig verwandt" ist, hat ausgeführt, dass die Antragstellerin "im Moment" bei verschiedenen Mitgliedern der Familie übernachte und Essen erhalte.

Mit Beschluss vom 05.09.2012 hat das Sozialgericht den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 286,70 EUR für die Zeit vom 09.07.2012 bis 31.07.2012 und in Höhe von 374.- EUR monatlich für die Zeit vom 01.08.2012 bis 31.12.2012 zu gewähren. Die Antragstellerin sei als erwerbsfähig (§ 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB II) und hilfebedürftig (§ 7 Abs. 1 Nr. 3 SGB II) anzusehen und habe ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 7 Abs. 1 Nr. 4 SGB II). Als polnische Staatsangehörige sei sie auch "rechtlich erwerbsfähig" i.S.d. § 8 Abs. 2 SGB II. Nicht abschließend zu klären sei, ob die Antragstellerin dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II - kein Leistungsanspruch für Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt - unterliege. Zwar spreche einiges dafür, dass die Antragstellerin sich seit fünf Jahren ständig im Bundesgebiet aufgehalten habe und deshalb ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU - unabhängig von der Arbeitsuche - habe. Zweifel bestünden jedoch, ob die Antragstellerin sich tatsächlich lückenlos im Bundesgebiet aufgehalten habe, weil sie Mitglied einer umherreisenden Glaubensgemeinschaft gewesen sei und nicht klar sei, ob sie an diesen Reisen teilgenommen habe. Offen bleibe auch, ob die Antragstellerin sich im Bundesgebiet rechtmäßig i.S.d. § 4a FreizügG/EU aufgehalten habe. Es bestünden jedoch erhebliche Zweifel, ob der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit dem Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union vereinbar sei. Soweit der Bundesgesetzgeber mit § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II eine Umsetzung des Art. 24 Abs. 2 i.V.m. Art. 14 Abs. 4 b der Richtlinie 2004/38/EG in nationales Recht bezweckt habe, sei fraglich, ob die Richtlinie als Ermächtigungsgrundlage für einen Leistungsausschluss bereits deshalb ausscheide, weil die Vorschrift allein einen Ausschluss von "Ansprüchen der Sozialhilfe" ermögliche. Ob es sich bei den Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II um Leistungen der Sozialhilfe handele, sei problematisch. Selbst wenn die Grundsicherungsleistungen in den Ausschlussvorbehalt der Unionsbürgerrichtlinie einbezogen würden, könne sich ein Anspruch der Antragstellerin unmittelbar aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz des primärem Gemeinschaftsrechts (Art. 39 Abs. 2, 12 EG) ergeben. Die angesichts dieser schwierigen und komplexen, im Eilverfahren nicht abschließend zu klärenden Rechtsfragen erforderliche Folgenabwägung falle zugunsten der Antragstellerin aus. Ohne die beantragten Leistungen drohten der Antragstellerin existenzielle Nachteile. Demgegenüber habe der Antragsgegner nur finanzielle Nachteile zu gewärtigen, wenn die Antragstellerin mit ihrem Begehren im Hauptsacheverfahren nicht durchdringen sollte. In diesem Fall erscheine es allerdings nicht ausgeschlossen, dass der Antragsgegner sein Rückforderungsbegehren faktisch nicht werde realisieren können. Dem trage die Kammer bei der inhaltlichen Ausgestaltung der einstweiligen Anordnung Rechnung, indem sie die nachteiligen Folgen auf Seiten des Antragsgegners zeitlich begrenze und der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes hohe Bedeutung beimesse. Dieser liege nur für die Zeit ab Eingang des Anordnungsantrags bei Gericht und nur bis zum Ende des sechsmonatigen Bewilligungszeitraums vor.

Gegen diese dem Antragsgegner am 10.09.2012 zugestellte Entscheidung richtet sich die am 25.09.2012 eingelegte Beschwerde des Antragsgegners. Der Antragsgegner meint, die Antragstellerin habe gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II keinen Leistungsanspruch. Dieser gründe sich auch nicht auf ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU, weil die Antragstellerin einen lückenlosen Aufenthalt in Deutschland während der vergangenen fünf Jahre nicht nachgewiesen habe. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstoße nicht gegen höherrangiges europäisches Recht. Auch habe die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht, weshalb sie ihren Lebensunterhalt in den letzten fünf Jahren ohne Sozialleistungen sicherstellen konnte und dies nun nicht mehr möglich sein solle.

Die Antragstellerin hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.

Mit Beschluss vom 26.10.2012 hat der Senat durch den Vorsitzenden den Antrag des Beschwerdeführers, die Vollstreckung aus dem Beschluss des Sozialgerichts auszusetzen (§ 199 Abs. 2 Satz 1 SGG), abgelehnt.

Auf Nachfrage durch den Senat hinsichtlich ihrer Arbeitsuche hat die Antragstellerin dargelegt, dass diese sich angesichts ihrer geringen Deutschkenntnisse schwierig gestalte. Sie werde daher einen Sprachkurs belegen. Der Antragsgegner hat mitgeteilt, dass mit der Antragstellerin am 26.11.2012 eine Eingliederungsvereinbarung geschlossen wurde, in der sie sich verpflichtet habe, sich bis zum 28.12.2012 bei einem Sprach- und Integrationskurs anzumelden. Ein Auszug aus dem Beitragskonto der DAK wurde beigezogen.

II.

Die Beschwerde des Antragsgegners ist zulässig, aber unbegründet. Das Sozialgericht hat den Antragsgegner zu Recht im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin im tenorierten Umfang Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu zahlen.

Das Sozialgericht hat zutreffend dargelegt, dass die Frage, ob die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch i.S.d. § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG hat, offen ist und deshalb das Gericht anhand einer Folgenabwägung entscheiden muss, die die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend einstellt (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05, Breith. 2005, 803; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 3 86b RdNr. 29, 29a; ständige Rechtsprechung des Senats, vergl. nur Beschluss vom 9.11.2012 - L 6 AS 1324/12 B ER; Beschluss vom 14.08.2012 - L 6 AS 1503/12 B ER).

Der Senat schließt sich den Ausführungen des Sozialgerichts an und weist ergänzend auf Folgendes hin:

Die Antragstellerin hat im einstweiligen Anordnungsverfahren hinreichend glaubhaft gemacht (§§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG, 920 Abs. 2 ZPO), dass sie hilfebedürftig i.S.d. §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 Abs. 1 SGB II ist. Hiernach ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält. Anhaltspunkte dafür, dass die Antragstellerin seit Juli 2012 über Einkommen oder Vermögen verfügt, gibt es nicht. Die Antragstellerin hat plausibel und durch die Aussage ihres Sohnes bestätigt ausgeführt, dass sie in den letzten fünf Jahren Kost und Logis durch die christliche Gemeinschaft erhalten hat und dieser Unterhalt aufgrund der Auflösung bzw. des Umzugs der Gemeinschaft ohne die Antragstellerin nun weggefallen ist. Zwar konnte die Antragstellerin letzte Zweifel an ihrer der Glaubwürdigkeit nicht ausräumen, da der Senat ihre Einlassung, sie wisse den Namen der Gemeinschaft, für die sie fünf Jahre gearbeitet und missioniert haben will, nicht, für unglaubhaft hält. Dies ändert indes nichts daran, dass es jedenfalls überwiegend wahrscheinlich ist, dass die Antragstellerin zur Zeit keine erforderliche Hilfe von anderen i.S.d. § 9 Abs. 1 SGB II erhält, zumal Zuwendungen, die nur erbracht werden, um eine Notlage bis zur Erbringung beantragter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu überbrücken, nicht als Einkommen zu berücksichtigen sind (hierzu LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22.04.2012 - L 7 AS 5268/09).

Der Antragsgegner kann sich im einstweiligen Rechtsschutzverfahren auch deshalb nicht auf den Leistungsausschluss gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II berufen, weil viel dafür spricht, dass sich der Anspruch der Antragstellerin auf Leistungen zur Sicherung des Regelbedarfs aus Art. 4 i.V.m. Art. 70 Abs. 1 der Verordnung (VO) (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der Sozialen Sicherheit ergibt (vergl. hierzu bereits Senatsbeschluss vom 09.11.2012 - L 6 AS 1324/B ER):

Art. 4 VO (EG) 883/2004 regelt, dass Personen, für die die VO gilt und sofern in dieser VO nichts anderes bestimmt ist, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaates haben, wie die Staatsangehörigen dieses Staates.

Diese Bestimmung ist seit dem 01.05.2010 als unmittelbar geltendes Recht anwendbar. Die VO (EG) 883/2004 hat die VO (EWG) 1408/71 abgelöst und ist seit diesem Zeitpunkt in Kraft (Art. 91 VO (EG) 883/2004 i.V.m. DurchführungsVO (EG) 987/2009). Die VO (EG) 883/2004 erzeugt unmittelbare Rechtswirkungen in allen Mitgliedsstaaten, ohne dass es einer Umsetzung in nationales Recht bedarf; die Regelungen können in diesen Wirkungen auch nicht durch nationale Gesetze oder Maßnahmen eingeschränkt werden (Art. 288 Abs. 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV); BVerfG, Beschluss vom 06.04.2010 - 2 BvR 2261/06; siehe auch schon EuGH, Urteil vom 15.07.1964 - RS 6/64 - Costa./. E.N.E.L.).

Für die Annahme, dass Art. 4 VO (EG) 883/2004 den Leistungsausschluss verdrängt und die Antragstellerin aus dieser Bestimmung Leistungsansprüche ableiten kann, wie sie auch deutschen Staatsangehörigen zustehen (vgl. hierzu etwa LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.06.2012 - L 14 AS 1460/12 B ER -; vom 23.05.2012 - L 25 AS 837/12 B ER ; LSG Hessen, Beschuss vom. 14.07.2011 - L 7 AS 107/11 B ER - bejahend -; aA LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12.06.2012 - L 20 AS 1322/12 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 23.05.2012 - L 9 AS 347/12 B ER), sprechen folgende Überlegungen:

Die Antragstellerin unterfällt als polnische Staatsangehörige dem persönlichen Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 (Art. 2 Abs. 1 der VO).

Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II werden als besondere beitragsunabhängige Leistungen vom sachlichen Anwendungsbereich der VO erfasst. Es handelt sich insbesondere auch um Rechtsvorschriften im Sinne des Art. 4 VO (EG) 883/2004. Art. 1 Buchstabe l) VO (EG) 883/2004 definiert diesen Begriff als "Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durchführungsvorschriften in Bezug auf die in Art. 3 Absatz 1 genannten Zweige der sozialen Sicherheit". Damit ist keine für die Einbeziehung des SGB II maßgebliche Beschränkung verbunden, denn die Zuordnung nach Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 erfolgt zuallererst thematisch nach dem Inhalt der Leistung, nicht nach der Finanzierung des Systems der sozialen Sicherheit (s. Art. 3 Abs. 1 Buchstabe h: "Leistungen bei Arbeitslosigkeit", Abs. 3 i.V.m. Art. 70 Abs. 1, Abs. 2 VO (EG) 883/2004 und Anhang X). Die Frage der Beitrags(un)abhängigkeit ist, wie auch Art. 70 Abs. 3, Abs. 4 VO (EG) 883/2004 zeigen, keine Frage des sachlichen Anwendungsbereichs, sondern nur der Anknüpfungspunkt für die Frage, ob die Leistung auch in einen anderen Mitgliedstaat exportiert werden kann (Art. 7 VO (EG) 883/2004; s auch SG Berlin Urteil vom 08.05.2012 - S 91 AS 8804/12).

Bei Anwendbarkeit der VO (EG) 883/2004 folgt der Anspruch auf Gleichbehandlung mit Inländern unmittelbar aus Art 4. Dessen Voraussetzungen sind erfüllt. Bei dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II handelt es sich um eine offene, unmittelbare Diskriminierung, denn das entscheidende Unterscheidungskriterium ist die Staatsangehörigkeit Eine derartige unterschiedliche Behandlung ist aber nur zulässig, wenn die VO sie ausdrücklich zulässt (dazu auch Dern, in: Schreiber/Wunder/Dern VO (EG) Nr. 883/2004 Art. 4 VO RdNr. 5). Dies ist nicht der Fall.

Ein Anordnungsanspruch wäre schließlich auch dann zu bejahen, wenn man zur Begründung eines Leistungsanspruchs für Ausländer zur Vermeidung von "Sozialtourismus" eine hinreichende Verbindung des Anspruchsstellers mit dem deutschen Arbeitsmarkt verlangt (so LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 01.10.2012 - L 7 AS 3836/12 ER B; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 21.08.2012 -L 3 AS 250/12 B-ER) und (in Anlehnung an die Regelung des Art 14 Abs. 4 b der Richtlinie 2004/38/EG) eine Unzulässigkeit des Leistungsausschlusses aufgrund europarechticher Normen nur für den Fall annehmen würde, dass der Betroffene, der sein Aufenthaltsrecht allein auf den Zweck der Arbeitsuche stützt, tatsächlich mit Aussicht auf Erfolg Arbeit sucht. Denn die Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, dass sie sich zur Arbeitsuche im Bundesgebiet aufhält. Sie hat diesen Aufenthaltszweck bereits bei ihrer Einreise angegeben, nunmehr eine Eingliederungsvereinbarung mit dem Antragsgegner geschlossen und wird einen Sprach- und Integrationskurs besuchen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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