Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
14
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 59 AS 27338/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 14 AS 3133/12 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Die den Angehörigen der Mitgliedstaaten durch Art. 49 AEUV zuerkannte Niederlassungsfreiheit schließt (unter bestimmten Voraussetzungen) die Ausübung der selbständigen Prostitution - auch ohne "feste Einrichtung" - ein; aufgrund einer solchen selbständigen Erwerbstätigkeit besteht ein von einer Arbeitsuche unabhängiges Recht auf Aufenthalt.
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts vom 8. November 2012 geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, den Antragstellern bis zu einer Entscheidung des Sozialgerichts in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 30. Juni 2013, vorläufig Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld) zu zahlen, und zwar zur Deckung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung ab dem 23. Oktober 2012 und zur Deckung der Regelbedarfe ab Zustellung dieser Entscheidung an den Antragsgegner. Die Beschwerde im Übrigen wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat den Antragstellern drei Viertel der ihnen entstandenen Kosten des Verfahrens zu erstatten. Den Antragstellern wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und der Rechtsanwalt L A, K Damm , B, beigeordnet; Raten oder Beträge aus dem Vermögen sind einstweilen nicht zu zahlen.
Gründe:
Die statthafte (§ 172 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]), nicht durch § 172 Abs. 3 SGG ausgeschlossene und auch im Übrigen zulässige (§ 173 SGG) Beschwerde der Antragsteller ist im Wesentlichen begründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Entsprechend den Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts über den vorläufigen Rechtsschutz gegen die Versagung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (vgl. Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 –) reicht schon die Möglichkeit, dass die begehrten Leistungen zustehen könnten, allemal aus, um im Wege der Folgenabwägung den Erlass einer zusprechenden einstweiligen Anordnung zu rechtfertigen. Der Senat kann im anhängigen Eilverfahren einen Anspruch der Antragsteller auf die von ihnen begehrten Leistungen jedenfalls nicht mit Bestimmtheit ausschließen. Maßgebend sind – auch im Beschwerdeverfahren – in der Regel die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 18. Oktober 2007 – L 28 B 1637/07 AS ER –; erkennender Senat, Beschluss vom 4. September 2009 – L 14 AS 1063/09 B ER –, nicht veröffentlicht; Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), 12.
Ergänzungslieferung 2005, § 123 Rdnrn. 165, 166 m. w. N. zur Parallelproblematik in § 123 VwGO). Dies folgt daraus, dass in dem Erfordernis eines Anordnungsgrundes ein spezifisches Dringlichkeitselement enthalten ist, welches im Grundsatz nur Wirkungen für die Zukunft entfalten kann. Die rückwirkende Feststellung einer – einen zurückliegenden Zeitraum betreffenden – besonderen Dringlichkeit ist zwar rechtlich möglich, sie kann jedoch in aller Regel nicht mehr zur Bejahung eines Anordnungsgrundes führen. Denn die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Artikels 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im – grundsätzlich vorrangigen – Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren
nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschlüsse vom 22. November 2002 – 1 BvR 1586/02 – und vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 –). Dies bedeutet aber zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und dementsprechend die Bejahung eines Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet, soweit diese Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen hat, denn insoweit ist die besondere Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt, das Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden Zeitraum ist dem Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.
Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Abs. 4 GG in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume verlangen kann, so insbesondere dann, wenn anderenfalls effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren nicht erlangt werden kann, weil bis zur Entscheidung im Verfahren der Hauptsache Fakten zum Nachteil des Rechtsschutzsuchenden geschaffen worden sind, die sich durch eine – stattgebende – Entscheidung im Verfahren der Hauptsache nicht oder nicht hinreichend rückgängig machen lassen. Dies schließt dann nicht aus, bei der Beschwerdeentscheidung auch auf einen früheren Zeitpunkt ab Antragstellung der einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht abzustellen.
Anspruch auf Arbeitslosengeld II haben nach den §§ 7 Abs. 1 Satz 1 und 19 Abs. 1 Satz 1 des Zweiten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB II) Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet, aber noch nicht die Altersgrenze nach § 7a SGB II erreicht haben, erwerbsfähig und
hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben.
Diese Voraussetzungen sind für die Antragstellerin zu 1) und den Antragsteller zu 2) glaubhaft gemacht. Die Antragstellerin zu 1) ist 31 Jahre alt, der Antragsteller zu 2) hat im Dezember 2012 das 15. Lebensjahr vollendet. Beide sind erwerbsfähig. Für eine Einschränkung der Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin zu 1) aus gesundheitlichen Gründen gibt es keine Anhaltspunkte. Nach § 8 Abs. 1 SGB II ist erwerbsfähig, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden erwerbstätig zu sein. Dass die Antragstellerin zu 1) aufgrund ihrer Schwangerschaft Einschränkungen in der Erwerbstätigkeit unterliegt, kann insoweit schon aufgrund deren vorübergehenden Charakters keine andere Beurteilung zur Folge haben. Bei einem normalen Verlauf der Schwangerschaft – anderes ist hier nicht ersichtlich – liegt kein regelwidriger Körperzustand der Frau vor und damit nicht einmal eine Arbeitsunfähigkeit (vgl. BAG, Urteil vom 22. März 1995 – 5 AZR 874/93 –). Dass eine Schwangerschaft allein die Erwerbsfähigkeit i.S.d. §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 8 Abs. 1 SGB II nicht berührt, ergibt sich im Übrigen aus § 21 Abs. 2 SGB II. Die Antragstellerin zu 1) und der Antragsteller zu 2) sind ferner "rechtlich erwerbsfähig" i.S.d. § 8 Abs. 2 SGB II, da ihnen jedenfalls die Aufnahme einer (abhängigen) Beschäftigung erlaubt werden könnte. In jedem Fall ist ihnen die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit erlaubt.
Es ist zudem glaubhaft gemacht, dass sämtliche Antragsteller derzeit hilfebedürftig sind. Freilich bestehen durchaus Zweifel, dass die Antragstellerin zu 1) in den Monaten März bis Juni 2012 aus ihrer Tätigkeit lediglich 500 bis 600 Euro monatlich und keine weiteren Einkünfte erzielt haben will, da sie augenscheinlich zumindest bis Mai 2012 den Mietzins für ihre Wohnung in Höhe von 458,62 Euro monatlich gezahlt hat und außerdem berufsbedingte Ausgaben in Höhe von 150 bis 200 Euro monatlich getätigt haben will. Wovon sie in dieser Zeit ihren Lebensunterhalt und den ihrer Kinder (der Antragsteller zu 2] bis 4]) bestritten hat, hat die Antragstellerin zu 1) ungeachtet einer Aufforderung des Gerichts nicht näher geschildert. Möglicherweise verfügte sie tatsächlich über höhere Geldmittel in bar (die im Juli 2012 geschlossenen Konten bei der B Vbank wiesen offenbar seit mehreren Monaten keine Umsätze auf), was mit Blick auf die von ihr angegebene Tätigkeit auch nachvollziehbar erscheinen würde. Diese Zweifel zwingen jedoch nicht zu der Annahme, dass die Antragstellerin zu 1) auch jetzt noch entsprechende Einkünfte erzielt. Vielmehr ist überwiegend wahrscheinlich, dass sie – wie von ihr an Eides statt versichert – die von ihr zuvor ausgeübte Tätigkeit – auch "zur Abwendung von physischen und psychischen Gefahren für Mutter und Kind" (Bescheinigung des Zentrums für sexuelle Gesundheit und Familienplanung des Gesundheitsamts des Bezirksamts von B vom 29. Oktober 2012) – zumindest unterbrochen und dementsprechend derzeit keine Einkünfte mehr hat. Ernsthafte Anhaltspunkte dafür, dass sie oder die (7, 14 und 15 Jahre alten) anderen Antragsteller anderes Einkommen (außer dem für die Zeit ab September 2012 bewilligten Kindergeld) oder Vermögen hätten, ergeben sich nicht.
Der Leistungsanspruch der Antragsteller entfällt auch nicht aufgrund der Regelung in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, wonach Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, und ihre Familienangehörigen keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs haben. Die Antragstellerin zu 1) hat ein Aufenthaltsrecht nicht (lediglich) "zur Arbeitsuche" (§ 2 Abs. 1 und 2 Nr. 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU [FreizügG/EU]), sondern als "niedergelassene selbständige Erwerbstätige" aufgrund des § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 2 FreizügG/EU, ihre sie begleitenden Kinder (die Antragsteller zu 2] bis 4]) nach § 3 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU. Dafür, dass die Antragstellerin zu 1) von August 2011 bis jedenfalls September 2012 eine selbständige Tätigkeit von nicht "völlig untergeordneter und unwesentlicher" Bedeutung ausgeübt hat, sprechen nicht nur ihr entsprechender Vortrag sowie die Tatsachen, dass sie ein Gewerbe angemeldet und für das Jahr 2011 gegenüber dem Finanzamt eine Steuererklärung abgegeben und im Dezember 2012 einen
entsprechenden Bescheid erhalten hat, sondern auch der Brief des Frauentreffs O an den Antragsgegner vom 7. September 2012 sowie die bereits erwähnte Bescheinigung des Zentrums für sexuelle Gesundheit und Familienplanung des Gesundheitsamts des Bezirksamts von B vom 29. Oktober 2012. Unerheblich wäre, wenn die dadurch erzielten Einkünfte nicht ausgereicht haben sollten, um davon die nach den Maßstäben des Zweiten Buchs des Sozialgesetzbuchs berechneten Bedarfe der Antragsteller zu decken. Hilfen vom Antragsgegner oder anderen Ämter haben die Antragsteller jedenfalls nicht in Anspruch genommen.
Auch die Art der von der Antragstellerin zu 1) ausgeübten Tätigkeit steht ihrem Aufenthaltsrecht nicht entgegen. Vielmehr schließt die den Angehörigen der Mitgliedstaaten (jetzt) durch Artikel 49 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zuerkannte Niederlassungsfreiheit die Ausübung auch dieser selbständigen Tätigkeit ein (vgl. bereits Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Urteil vom 20. November 2001, Rs. C-268/99, Aldona Malgorzata Jany u.a. gg. Staatssecretaris van Justitie, Slg. S. 8657, und daran anschließend BVerwG, Beschluss vom 24. Oktober 2002 – 1 C 31/02 –, Buchholz 451.9 Art. 52 EG-Vertrag Nr. 1).
Es ist danach unerfindlich, woraus herzuleiten sein sollte, dass die Antragstellerin zu 1) ihrer Tätigkeit "illegal" nachgegangen wäre und deshalb kein "Bleiberecht" hätte. Wie auch das Sozialgericht erkannt hat, ist deren Ausübung in Deutschland nicht verboten. Ob die Antragstellerin zu 1) die von ihr dadurch erzielten Einkünfte insbesondere dem Finanzamt gegenüber zutreffend angegeben hat, berührt nicht die Rechtmäßigkeit der Ausübung dieser Tätigkeit. Dass sie gegenüber dem Gewerbeamt nicht diese, sondern eine andere Tätigkeit angezeigt hat, dürfte schon deshalb unerheblich sein, weil die von ihr nach ihrem Vortrag tatsächlich ausgeübte Tätigkeit offenbar von den Gewerbeämtern nicht als "Gewerbe" (i.S.d. Gewerbeordnung)
angesehen und eine Anzeigepflicht dementsprechend nicht angenommen wird (Bericht der Bundesregierung zu den Auswirkungen des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten (Prostitutionsgesetz - ProstG), B.IX.1, S. 66). Aber selbst falls diese Tätigkeit als "Gewerbe" i.S.d. Gewerbeordnung anzuzeigen sein sollte – was die Antragstellerin in der Tat nicht getan hat – wäre ihre (nicht angezeigte) Ausübung nicht "illegal", da es jedenfalls einer amtlichen Erlaubnis dazu nicht bedarf (nicht nachvollziehbar deshalb auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20. August 2011 – L 12 AS 531/12 B ER –).
Nicht folgen kann der Senat auch der Auffassung, die Antragstellerin zu 1) habe deshalb keine "selbständige Erwerbstätigkeit" ausgeübt, weil sie dazu keine "feste Einrichtung" unterhalten habe, sondern ihr "auf der Straße nachgegangen" sei. In seinem vom Sozialgericht dafür zur Begründung angezogenen Urteil vom 19. Oktober 2010 (B 14 AS 23/10 R), in dem es als Voraussetzung für die Niederlassungsfreiheit – auch – das Bestehen einer "festen Einrichtung" genannt hat – freilich ohne dass dies für seine Entscheidung erheblich gewesen wäre –, schließt das Bundessozialgericht an das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 25. Juli 1991 (Rs. C-221/89, The Queen gg. Secretary of State for Transport, ex parte: Factortame Ltd u. a., Slg. 3956 [3965]) an, wo der Gerichtshof in der Tat "bemerkt" hat, "daß der Niederlassungsbegriff im Sinne der Artikel 52 ff. EWG-Vertrag die tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit umfasst". Gegenstand jenes Verfahrens war – u.a. – die dem Gerichtshof vorgelegte Frage, ob es einem Mitgliedstaat nach dem Gemeinschaftsrecht untersagt ist, als Voraussetzung für die Eintragung eines Fischereifahrzeugs in sein nationales Register zu
verlangen, dass das fragliche Schiff von diesem Mitgliedstaat aus operiert und sein Einsatz von dort aus geleitet und überwacht wird; diese Frage hat der Gerichtshof verneint und in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass die die Niederlassungsfreiheit verbürgenden Bestimmungen des EWG-Vertrages nicht dem Erfordernis entgegenstehen, für die Registrierung eines für die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit verwendeten Schiffes in einem Mitgliedstaat zu verlangen, dass der Einsatz dieses Schiff von (augenscheinlich einer "festen Einrichtung" in) diesem Mitgliedstaat geleitet und überwacht wird. Daraus lässt sich jedoch nicht der Schluss ziehen, auf die Niederlassungsfreiheit könne sich nur berufen, wer für die Ausübung seiner wirtschaftlichen Tätigkeit eine "feste Einrichtung" unterhält. Denn es sind eine Reihe von wirtschaftlichen ("gewerblichen") Tätigkeiten denkbar, deren Ausübung gerade keine "feste Einrichtung" voraussetzt ("Reisegewerbe"; vgl. §§ 55 ff. der Gewerbeordnung [GewO]). Zudem hat der Gerichtshof in seinem bereits genannten Urteil vom 20. November 2001 zu der von der Antragstellerin zu 1) ausgeübten Tätigkeit – in Kenntnis dessen, dass ihr auch "auf der Straße nachgegangen" werden kann (Erwägungsgrund 62) – entschieden, dass sie als eine durch die Niederlassungsfreiheit gewährleistete selbständige Erwerbstätigkeit anzusehen ist, sofern sie nicht im Rahmen eines Unterordnungsverhältnisses in Bezug auf die Wahl dieser Tätigkeit, die Arbeitsbedingungen und das Entgelt, in eigener Verantwortung und gegen ein Entgelt, das der diese Tätigkeit ausübenden Person vollständig und unmittelbar gezahlt wird, ausgeübt wird; eine "feste Einrichtung" ist danach jedenfalls für diese Tätigkeit nicht erforderlich, um sich auf die Niederlassungsfreiheit berufen zu können.
Das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin zu 1) – und damit auch das davon abgeleitete der übrigen Antragsteller – entfällt nicht dadurch, dass sie ihre Tätigkeit aufgrund ihrer erneuten Schwangerschaft im Oktober 2012 eingestellt hat. Nach § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU bleibt nach mehr als einem Jahr Tätigkeit das Recht auf Aufenthalt als Erwerbstätiger erhalten, wenn die Einstellung der selbständigen Tätigkeit auf Umständen beruht, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte. Dies ist hier anzunehmen: Wie der Senat bereits erwogen hat (Beschluss vom 25. Oktober 2010 – L 14 AS 1806/10 B ER –, nicht veröffentlicht), erscheint es "zweifelhaft, dass die Beendigung einer selbständigen Tätigkeit als freiwillig im Sinne des
Gesetzes anzusehen ist, wenn sie Folge einer Schwangerschaft ist. Der 15. Senat des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg hat im Zusammenhang mit § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU zutreffend und überzeugend ausgeführt, das Grundgesetz (GG) stelle die Familie im allgemeinen und zusätzlich ausdrücklich die Mutter unter besonderen Schutz (Art. 6 Abs. 1 und 4 GG). Diesem Schutzauftrag liefe es zuwider, wenn der Entschluss, ein Kind zu bekommen, mit einem derart schwerwiegenden Nachteil wie dem Verlust des Rechts auf Freizügigkeit und damit auf den Aufenthalt im Inland verbunden wäre. Zum anderen stelle es auch einen Verstoß gegen das Verbot geschlechtsspezifischer Benachteiligung (Art. 3 Abs. 3 GG) dar, nur bei der schwangeren Frau rechtliche Nachteile aus einer Tatsache eintreten zu lassen, die sie zwangsläufig nicht allein herbeiführen kann (L 15 B 54/08 SO ER). Diese Gesichtspunkte sind auf die hier entscheidende Vorschrift des § 2 Abs. 3 S. 2 FreizügG/EU übertragbar." Daran hält der Senat fest.
Demgemäß bestehen auch keine Zweifel, dass die Antragsteller ihren "gewöhnlichen Aufenthalt" in Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II) haben.
Nach allem sind die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld II für die Antragstellerin zu 1) und den Antragsteller zu 2) – für ihn ab dem 26. Dezember 2012 – bzw. auf Sozialgeld (§§ 7 Abs. 2 Satz 1 und 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II) für die mit der Antragstellerin zu 1) in einer Bedarfsgemeinschaft (§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II) lebenden Antragsteller zu 3) und 4) und für den Antragsteller zu 2) bis zum 25. Dezember 2012 glaubhaft gemacht.
Die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung zur Abwendung wesentlichen Nachteile (sog. Anordnungsgrund; § 86b Abs 2 Satz 2 SGG) ergibt sich daraus, dass glaubhaft gemacht ist, dass die Antragsteller auf die begehrten Leistungen zur Sicherung ihrer Existenz angewiesen sind.
Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung sind – vorläufig – ab dem Tag der Antragstellung bei dem Sozialgericht (23. Oktober 2012) zu erbringen, da insoweit noch ein Nachholbedarf (nicht gezahlter Mietzins) anzunehmen ist; im Übrigen (zur Deckung der Regelbedarfe) sind – ebenfalls vorläufig – Leistungen erst ab dem Tag der Zustellung dieses Beschlusses an den Antragsgegner zu erbringen, da insofern ein Nachholbedarf nicht glaubhaft gemacht ist; dementsprechend ist die Beschwerde insoweit zurückzuweisen. Das der Antragstellerin zu 1) für die Antragsteller zu 2) bis 4) gezahlte Kindergeld ist als Einkommen der Kinder (§ 11 Abs. 1 Satz 4 SGB II) zu berücksichtigen.
Den Antragstellern ist für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen und der zu ihrer Vertretung bereite Rechtsanwalt beizuordnen (§ 114 Satz 1 der Zivilprozessordnung [ZPO] i.V.m. § 73a Abs. 1 Satz1 SGG). Unbeachtlich ist, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung möglicherweise von vornherein nicht in vollem Umfang eine hinreichende Aussicht auf Erfolg hatte, da im sozialgerichtlichen Verfahren die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für nur einen Teil des erhobenen Anspruchs nicht in Betracht kommt.
Gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des sie vertretenden Rechtsanwalts für das Verfahren vor dem Sozialgericht haben die Antragsteller Beschwerde nicht eingelegt; ein entsprechender Wille ist der Beschwerdeschrift vom 4. Dezember 2012 nicht hinlänglich deutlich zu entnehmen.
Die Entscheidung über die Erstattung von Kosten beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG und berücksichtigt den nur teilweisen Erfolg der Antragsteller.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Gründe:
Die statthafte (§ 172 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]), nicht durch § 172 Abs. 3 SGG ausgeschlossene und auch im Übrigen zulässige (§ 173 SGG) Beschwerde der Antragsteller ist im Wesentlichen begründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Entsprechend den Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts über den vorläufigen Rechtsschutz gegen die Versagung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (vgl. Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 –) reicht schon die Möglichkeit, dass die begehrten Leistungen zustehen könnten, allemal aus, um im Wege der Folgenabwägung den Erlass einer zusprechenden einstweiligen Anordnung zu rechtfertigen. Der Senat kann im anhängigen Eilverfahren einen Anspruch der Antragsteller auf die von ihnen begehrten Leistungen jedenfalls nicht mit Bestimmtheit ausschließen. Maßgebend sind – auch im Beschwerdeverfahren – in der Regel die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 18. Oktober 2007 – L 28 B 1637/07 AS ER –; erkennender Senat, Beschluss vom 4. September 2009 – L 14 AS 1063/09 B ER –, nicht veröffentlicht; Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), 12.
Ergänzungslieferung 2005, § 123 Rdnrn. 165, 166 m. w. N. zur Parallelproblematik in § 123 VwGO). Dies folgt daraus, dass in dem Erfordernis eines Anordnungsgrundes ein spezifisches Dringlichkeitselement enthalten ist, welches im Grundsatz nur Wirkungen für die Zukunft entfalten kann. Die rückwirkende Feststellung einer – einen zurückliegenden Zeitraum betreffenden – besonderen Dringlichkeit ist zwar rechtlich möglich, sie kann jedoch in aller Regel nicht mehr zur Bejahung eines Anordnungsgrundes führen. Denn die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Artikels 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im – grundsätzlich vorrangigen – Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren
nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschlüsse vom 22. November 2002 – 1 BvR 1586/02 – und vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 –). Dies bedeutet aber zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und dementsprechend die Bejahung eines Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet, soweit diese Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen hat, denn insoweit ist die besondere Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt, das Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden Zeitraum ist dem Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.
Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Abs. 4 GG in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume verlangen kann, so insbesondere dann, wenn anderenfalls effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren nicht erlangt werden kann, weil bis zur Entscheidung im Verfahren der Hauptsache Fakten zum Nachteil des Rechtsschutzsuchenden geschaffen worden sind, die sich durch eine – stattgebende – Entscheidung im Verfahren der Hauptsache nicht oder nicht hinreichend rückgängig machen lassen. Dies schließt dann nicht aus, bei der Beschwerdeentscheidung auch auf einen früheren Zeitpunkt ab Antragstellung der einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht abzustellen.
Anspruch auf Arbeitslosengeld II haben nach den §§ 7 Abs. 1 Satz 1 und 19 Abs. 1 Satz 1 des Zweiten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB II) Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet, aber noch nicht die Altersgrenze nach § 7a SGB II erreicht haben, erwerbsfähig und
hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben.
Diese Voraussetzungen sind für die Antragstellerin zu 1) und den Antragsteller zu 2) glaubhaft gemacht. Die Antragstellerin zu 1) ist 31 Jahre alt, der Antragsteller zu 2) hat im Dezember 2012 das 15. Lebensjahr vollendet. Beide sind erwerbsfähig. Für eine Einschränkung der Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin zu 1) aus gesundheitlichen Gründen gibt es keine Anhaltspunkte. Nach § 8 Abs. 1 SGB II ist erwerbsfähig, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden erwerbstätig zu sein. Dass die Antragstellerin zu 1) aufgrund ihrer Schwangerschaft Einschränkungen in der Erwerbstätigkeit unterliegt, kann insoweit schon aufgrund deren vorübergehenden Charakters keine andere Beurteilung zur Folge haben. Bei einem normalen Verlauf der Schwangerschaft – anderes ist hier nicht ersichtlich – liegt kein regelwidriger Körperzustand der Frau vor und damit nicht einmal eine Arbeitsunfähigkeit (vgl. BAG, Urteil vom 22. März 1995 – 5 AZR 874/93 –). Dass eine Schwangerschaft allein die Erwerbsfähigkeit i.S.d. §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 8 Abs. 1 SGB II nicht berührt, ergibt sich im Übrigen aus § 21 Abs. 2 SGB II. Die Antragstellerin zu 1) und der Antragsteller zu 2) sind ferner "rechtlich erwerbsfähig" i.S.d. § 8 Abs. 2 SGB II, da ihnen jedenfalls die Aufnahme einer (abhängigen) Beschäftigung erlaubt werden könnte. In jedem Fall ist ihnen die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit erlaubt.
Es ist zudem glaubhaft gemacht, dass sämtliche Antragsteller derzeit hilfebedürftig sind. Freilich bestehen durchaus Zweifel, dass die Antragstellerin zu 1) in den Monaten März bis Juni 2012 aus ihrer Tätigkeit lediglich 500 bis 600 Euro monatlich und keine weiteren Einkünfte erzielt haben will, da sie augenscheinlich zumindest bis Mai 2012 den Mietzins für ihre Wohnung in Höhe von 458,62 Euro monatlich gezahlt hat und außerdem berufsbedingte Ausgaben in Höhe von 150 bis 200 Euro monatlich getätigt haben will. Wovon sie in dieser Zeit ihren Lebensunterhalt und den ihrer Kinder (der Antragsteller zu 2] bis 4]) bestritten hat, hat die Antragstellerin zu 1) ungeachtet einer Aufforderung des Gerichts nicht näher geschildert. Möglicherweise verfügte sie tatsächlich über höhere Geldmittel in bar (die im Juli 2012 geschlossenen Konten bei der B Vbank wiesen offenbar seit mehreren Monaten keine Umsätze auf), was mit Blick auf die von ihr angegebene Tätigkeit auch nachvollziehbar erscheinen würde. Diese Zweifel zwingen jedoch nicht zu der Annahme, dass die Antragstellerin zu 1) auch jetzt noch entsprechende Einkünfte erzielt. Vielmehr ist überwiegend wahrscheinlich, dass sie – wie von ihr an Eides statt versichert – die von ihr zuvor ausgeübte Tätigkeit – auch "zur Abwendung von physischen und psychischen Gefahren für Mutter und Kind" (Bescheinigung des Zentrums für sexuelle Gesundheit und Familienplanung des Gesundheitsamts des Bezirksamts von B vom 29. Oktober 2012) – zumindest unterbrochen und dementsprechend derzeit keine Einkünfte mehr hat. Ernsthafte Anhaltspunkte dafür, dass sie oder die (7, 14 und 15 Jahre alten) anderen Antragsteller anderes Einkommen (außer dem für die Zeit ab September 2012 bewilligten Kindergeld) oder Vermögen hätten, ergeben sich nicht.
Der Leistungsanspruch der Antragsteller entfällt auch nicht aufgrund der Regelung in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, wonach Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, und ihre Familienangehörigen keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs haben. Die Antragstellerin zu 1) hat ein Aufenthaltsrecht nicht (lediglich) "zur Arbeitsuche" (§ 2 Abs. 1 und 2 Nr. 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU [FreizügG/EU]), sondern als "niedergelassene selbständige Erwerbstätige" aufgrund des § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 2 FreizügG/EU, ihre sie begleitenden Kinder (die Antragsteller zu 2] bis 4]) nach § 3 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU. Dafür, dass die Antragstellerin zu 1) von August 2011 bis jedenfalls September 2012 eine selbständige Tätigkeit von nicht "völlig untergeordneter und unwesentlicher" Bedeutung ausgeübt hat, sprechen nicht nur ihr entsprechender Vortrag sowie die Tatsachen, dass sie ein Gewerbe angemeldet und für das Jahr 2011 gegenüber dem Finanzamt eine Steuererklärung abgegeben und im Dezember 2012 einen
entsprechenden Bescheid erhalten hat, sondern auch der Brief des Frauentreffs O an den Antragsgegner vom 7. September 2012 sowie die bereits erwähnte Bescheinigung des Zentrums für sexuelle Gesundheit und Familienplanung des Gesundheitsamts des Bezirksamts von B vom 29. Oktober 2012. Unerheblich wäre, wenn die dadurch erzielten Einkünfte nicht ausgereicht haben sollten, um davon die nach den Maßstäben des Zweiten Buchs des Sozialgesetzbuchs berechneten Bedarfe der Antragsteller zu decken. Hilfen vom Antragsgegner oder anderen Ämter haben die Antragsteller jedenfalls nicht in Anspruch genommen.
Auch die Art der von der Antragstellerin zu 1) ausgeübten Tätigkeit steht ihrem Aufenthaltsrecht nicht entgegen. Vielmehr schließt die den Angehörigen der Mitgliedstaaten (jetzt) durch Artikel 49 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zuerkannte Niederlassungsfreiheit die Ausübung auch dieser selbständigen Tätigkeit ein (vgl. bereits Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Urteil vom 20. November 2001, Rs. C-268/99, Aldona Malgorzata Jany u.a. gg. Staatssecretaris van Justitie, Slg. S. 8657, und daran anschließend BVerwG, Beschluss vom 24. Oktober 2002 – 1 C 31/02 –, Buchholz 451.9 Art. 52 EG-Vertrag Nr. 1).
Es ist danach unerfindlich, woraus herzuleiten sein sollte, dass die Antragstellerin zu 1) ihrer Tätigkeit "illegal" nachgegangen wäre und deshalb kein "Bleiberecht" hätte. Wie auch das Sozialgericht erkannt hat, ist deren Ausübung in Deutschland nicht verboten. Ob die Antragstellerin zu 1) die von ihr dadurch erzielten Einkünfte insbesondere dem Finanzamt gegenüber zutreffend angegeben hat, berührt nicht die Rechtmäßigkeit der Ausübung dieser Tätigkeit. Dass sie gegenüber dem Gewerbeamt nicht diese, sondern eine andere Tätigkeit angezeigt hat, dürfte schon deshalb unerheblich sein, weil die von ihr nach ihrem Vortrag tatsächlich ausgeübte Tätigkeit offenbar von den Gewerbeämtern nicht als "Gewerbe" (i.S.d. Gewerbeordnung)
angesehen und eine Anzeigepflicht dementsprechend nicht angenommen wird (Bericht der Bundesregierung zu den Auswirkungen des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten (Prostitutionsgesetz - ProstG), B.IX.1, S. 66). Aber selbst falls diese Tätigkeit als "Gewerbe" i.S.d. Gewerbeordnung anzuzeigen sein sollte – was die Antragstellerin in der Tat nicht getan hat – wäre ihre (nicht angezeigte) Ausübung nicht "illegal", da es jedenfalls einer amtlichen Erlaubnis dazu nicht bedarf (nicht nachvollziehbar deshalb auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20. August 2011 – L 12 AS 531/12 B ER –).
Nicht folgen kann der Senat auch der Auffassung, die Antragstellerin zu 1) habe deshalb keine "selbständige Erwerbstätigkeit" ausgeübt, weil sie dazu keine "feste Einrichtung" unterhalten habe, sondern ihr "auf der Straße nachgegangen" sei. In seinem vom Sozialgericht dafür zur Begründung angezogenen Urteil vom 19. Oktober 2010 (B 14 AS 23/10 R), in dem es als Voraussetzung für die Niederlassungsfreiheit – auch – das Bestehen einer "festen Einrichtung" genannt hat – freilich ohne dass dies für seine Entscheidung erheblich gewesen wäre –, schließt das Bundessozialgericht an das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 25. Juli 1991 (Rs. C-221/89, The Queen gg. Secretary of State for Transport, ex parte: Factortame Ltd u. a., Slg. 3956 [3965]) an, wo der Gerichtshof in der Tat "bemerkt" hat, "daß der Niederlassungsbegriff im Sinne der Artikel 52 ff. EWG-Vertrag die tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit umfasst". Gegenstand jenes Verfahrens war – u.a. – die dem Gerichtshof vorgelegte Frage, ob es einem Mitgliedstaat nach dem Gemeinschaftsrecht untersagt ist, als Voraussetzung für die Eintragung eines Fischereifahrzeugs in sein nationales Register zu
verlangen, dass das fragliche Schiff von diesem Mitgliedstaat aus operiert und sein Einsatz von dort aus geleitet und überwacht wird; diese Frage hat der Gerichtshof verneint und in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass die die Niederlassungsfreiheit verbürgenden Bestimmungen des EWG-Vertrages nicht dem Erfordernis entgegenstehen, für die Registrierung eines für die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit verwendeten Schiffes in einem Mitgliedstaat zu verlangen, dass der Einsatz dieses Schiff von (augenscheinlich einer "festen Einrichtung" in) diesem Mitgliedstaat geleitet und überwacht wird. Daraus lässt sich jedoch nicht der Schluss ziehen, auf die Niederlassungsfreiheit könne sich nur berufen, wer für die Ausübung seiner wirtschaftlichen Tätigkeit eine "feste Einrichtung" unterhält. Denn es sind eine Reihe von wirtschaftlichen ("gewerblichen") Tätigkeiten denkbar, deren Ausübung gerade keine "feste Einrichtung" voraussetzt ("Reisegewerbe"; vgl. §§ 55 ff. der Gewerbeordnung [GewO]). Zudem hat der Gerichtshof in seinem bereits genannten Urteil vom 20. November 2001 zu der von der Antragstellerin zu 1) ausgeübten Tätigkeit – in Kenntnis dessen, dass ihr auch "auf der Straße nachgegangen" werden kann (Erwägungsgrund 62) – entschieden, dass sie als eine durch die Niederlassungsfreiheit gewährleistete selbständige Erwerbstätigkeit anzusehen ist, sofern sie nicht im Rahmen eines Unterordnungsverhältnisses in Bezug auf die Wahl dieser Tätigkeit, die Arbeitsbedingungen und das Entgelt, in eigener Verantwortung und gegen ein Entgelt, das der diese Tätigkeit ausübenden Person vollständig und unmittelbar gezahlt wird, ausgeübt wird; eine "feste Einrichtung" ist danach jedenfalls für diese Tätigkeit nicht erforderlich, um sich auf die Niederlassungsfreiheit berufen zu können.
Das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin zu 1) – und damit auch das davon abgeleitete der übrigen Antragsteller – entfällt nicht dadurch, dass sie ihre Tätigkeit aufgrund ihrer erneuten Schwangerschaft im Oktober 2012 eingestellt hat. Nach § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU bleibt nach mehr als einem Jahr Tätigkeit das Recht auf Aufenthalt als Erwerbstätiger erhalten, wenn die Einstellung der selbständigen Tätigkeit auf Umständen beruht, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte. Dies ist hier anzunehmen: Wie der Senat bereits erwogen hat (Beschluss vom 25. Oktober 2010 – L 14 AS 1806/10 B ER –, nicht veröffentlicht), erscheint es "zweifelhaft, dass die Beendigung einer selbständigen Tätigkeit als freiwillig im Sinne des
Gesetzes anzusehen ist, wenn sie Folge einer Schwangerschaft ist. Der 15. Senat des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg hat im Zusammenhang mit § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU zutreffend und überzeugend ausgeführt, das Grundgesetz (GG) stelle die Familie im allgemeinen und zusätzlich ausdrücklich die Mutter unter besonderen Schutz (Art. 6 Abs. 1 und 4 GG). Diesem Schutzauftrag liefe es zuwider, wenn der Entschluss, ein Kind zu bekommen, mit einem derart schwerwiegenden Nachteil wie dem Verlust des Rechts auf Freizügigkeit und damit auf den Aufenthalt im Inland verbunden wäre. Zum anderen stelle es auch einen Verstoß gegen das Verbot geschlechtsspezifischer Benachteiligung (Art. 3 Abs. 3 GG) dar, nur bei der schwangeren Frau rechtliche Nachteile aus einer Tatsache eintreten zu lassen, die sie zwangsläufig nicht allein herbeiführen kann (L 15 B 54/08 SO ER). Diese Gesichtspunkte sind auf die hier entscheidende Vorschrift des § 2 Abs. 3 S. 2 FreizügG/EU übertragbar." Daran hält der Senat fest.
Demgemäß bestehen auch keine Zweifel, dass die Antragsteller ihren "gewöhnlichen Aufenthalt" in Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II) haben.
Nach allem sind die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld II für die Antragstellerin zu 1) und den Antragsteller zu 2) – für ihn ab dem 26. Dezember 2012 – bzw. auf Sozialgeld (§§ 7 Abs. 2 Satz 1 und 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II) für die mit der Antragstellerin zu 1) in einer Bedarfsgemeinschaft (§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II) lebenden Antragsteller zu 3) und 4) und für den Antragsteller zu 2) bis zum 25. Dezember 2012 glaubhaft gemacht.
Die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung zur Abwendung wesentlichen Nachteile (sog. Anordnungsgrund; § 86b Abs 2 Satz 2 SGG) ergibt sich daraus, dass glaubhaft gemacht ist, dass die Antragsteller auf die begehrten Leistungen zur Sicherung ihrer Existenz angewiesen sind.
Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung sind – vorläufig – ab dem Tag der Antragstellung bei dem Sozialgericht (23. Oktober 2012) zu erbringen, da insoweit noch ein Nachholbedarf (nicht gezahlter Mietzins) anzunehmen ist; im Übrigen (zur Deckung der Regelbedarfe) sind – ebenfalls vorläufig – Leistungen erst ab dem Tag der Zustellung dieses Beschlusses an den Antragsgegner zu erbringen, da insofern ein Nachholbedarf nicht glaubhaft gemacht ist; dementsprechend ist die Beschwerde insoweit zurückzuweisen. Das der Antragstellerin zu 1) für die Antragsteller zu 2) bis 4) gezahlte Kindergeld ist als Einkommen der Kinder (§ 11 Abs. 1 Satz 4 SGB II) zu berücksichtigen.
Den Antragstellern ist für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen und der zu ihrer Vertretung bereite Rechtsanwalt beizuordnen (§ 114 Satz 1 der Zivilprozessordnung [ZPO] i.V.m. § 73a Abs. 1 Satz1 SGG). Unbeachtlich ist, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung möglicherweise von vornherein nicht in vollem Umfang eine hinreichende Aussicht auf Erfolg hatte, da im sozialgerichtlichen Verfahren die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für nur einen Teil des erhobenen Anspruchs nicht in Betracht kommt.
Gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des sie vertretenden Rechtsanwalts für das Verfahren vor dem Sozialgericht haben die Antragsteller Beschwerde nicht eingelegt; ein entsprechender Wille ist der Beschwerdeschrift vom 4. Dezember 2012 nicht hinlänglich deutlich zu entnehmen.
Die Entscheidung über die Erstattung von Kosten beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG und berücksichtigt den nur teilweisen Erfolg der Antragsteller.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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