S 20 SO 66/13

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SO 66/13
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 20 SO 348/13
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte die Kosten für die Beschaffung eines türkischen Passes in Höhe von 211,00 EUR aus Sozialhilfemitteln als Zuschuss statt – wie in Höhe von 208,00 EUR bewilligt – als Darlehen zu übernehmen hat.

Der 0000 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er ist psychisch schwer krank und steht unter amtsgerichtlich angeordneter Betreuung. Er lebt in einem Wohnheim für psychisch Behinderte und erhält von der Beklagten Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) vorläufig bis 31.05.2014 (Bewilligungsbescheid vom 25.07.2012). Neben der in der Einrichtung zur Verfügung gestellten Hilfe zum Lebensunterhalt erhält der u.a. einen monatlichen Barbetrag von 100,98 EUR.

Am 16.10.2012 beantragte der Kläger die Übernahme der Kosten für die Verlängerung seines türkischen Reisepasses in Höhe von 162,00 EUR als Zuschuss. Zur Begründung wies er daraufhin, die Gültigkeit des Passes laufe im Januar 2013 aus; es bestehe für ihn eine Passpflicht; da er nur Taschengeld besitze, könne er sich das Passgeld nicht ansparen.

Durch Bescheid vom 06.12.2012 bewilligte der Beklagte ein Darlehen in Höhe von 162,00 EUR für die Beschaffung des Reisepasses unter Hinweis auf die Vorschrift des § 37 Abs. 1 SGB XII. Sie sprach die Erwartung aus, dass das Darlehen in monatlichen Raten von 10,00 EUR zurückgezahlt werde.

Gegen die nur darlehensweise gewährte Hilfe erhob der Kläger am 11.12.2012 Widerspruch und begehrte die Umwandlung des Darlehens in einmalige Beihilfe. Er wies daraufhin, dass ihm nach Abzug der Rückzahlungsbeträge nur noch wenig Geld im Monat übrig bleibe. Deutsche Staatsbürger hätten nicht die gleichen Kosten zu tragen; darin liege eine Ungleichbehandlung. Anlässlich einer Terminabsprache habe er vom türkischen Konsulat erfahren, dass sich die Kosten inzwischen auf 208,00 EUR zuzüglich 5,00 EUR für ein Passfoto, insgesamt 213,00 EUR beliefen.

Der Beklagte wies des Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 25.03.2013, zugestellt am 05.04.2013, zurück mit der Maßgabe, dass der Darlehensbetrag auf 208,00 EUR angehoben und der erwartete Rückzahlungsbetrag auf monatlich 5,00 EUR gesenkt wurde. Dagegen hat der Kläger am 06.05.2013 Klage erhoben. Er hat mitgeteilt, dass die endgültigen Gebühren für die Passbeschaffung bei 211,00 EUR gelegen hätten; der Pass sei zwischenzeitlich beantragt, ausgestellt und aufgrund des Darlehens auch bezahlt worden. Der Kläger ist unter Bezugnahme auf das Urteil des LSG NRW vom 23.05.2011 (L 20 AY 19/08) der Auffassung, es liege eine so genannte unbenannte Bedarfslage im Sinne von § 73 SGB XII vor, die die Übernahme der Passbeschaffungskosten ermögliche. Im Regelbedarf seien allenfalls die Kosten für einen deutschen Personalausweis (28,80 EUR) enthalten. Die Kosten für den türkischen Pass seien aber wesentlich höher. Weiche – wie hier – der individuelle Bedarf vom typischen Bedarf ab, begründe dies einen Anspruch auf zusätzliche Leistungen. Da für ihn Passpflicht bestehe und die Passbeschaffung auch nicht durch Ersatzausweispapiere umgangen werden könne, sei bei solchen Kosten das menschenwürdige Existenzminimum eines türkischen Leistungsempfängers nicht mehr gedeckt. § 73 Satz 2 SGB XII ermögliche die Gewährung der Hilfe in sonstigen Lebenslagen als Beihilfe oder als Darlehen. Dies setze eine Ermessensausübung voraus. Der Kläger hat auf sein psychiatrisches Krankheitsbild und ein im Betreuungsverfahren eingeholtes Fachgutachten hingewiesen. Daraus ergebe sich, dass er sich aufgrund von Vergiftungsideen nicht ausreichend ernähre. Neben der Rückzahlungsverpflichtung wegen des Passbeschaffungsdarlehens habe er noch weitere Schulden, auf die er aber zurzeit keine Raten zahle. Seinem monatlichen Taschengeld von ca. 100,00 EUR stehe ein Bedarf von monatlich mehr als 150,00 EUR gegenüber. Vor diesem Hintergrund könne das Ermessen nur dahin ausgeübt werden, dass ihm keine weiteren Darlehensverpflichtungen zumutbar sind, weil sie dauerhaft zur Einschränkung seines Existenzminimums führen würden. Deshalb sei nach seiner Auffassung die Voraussetzungen für eine Gewährung der Passkosten als Zuschuss gem. § 73 SGB XII erfüllt.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter entsprechender Abänderung des Bescheides vom 06.12.2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25.03.201 zu verurteilen, ihm die Kosten für die Ausstellung eines Passes für türkische Staatsangehörige in Höhe von 211,00 EUR als Zuschuss zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verweist auf seine in den angefochtenen Bescheiden vertretene Rechtsauffassung. Er ist der Auffassung, dass § 73 SGB XII nicht mehr als Anspruchsgrundlage für die Übernahme der Passkosten herhalten könne. Denn nunmehr seien die Kosten hierfür durch das zum 01.01.2011 in Kraft getretene Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe nach § 28 SGB XII im Regelbedarf mit enthalten. Das vom Kläger zitierte Urteil des LSG NRW vom 23.05.2011 betreffe noch die alte Rechtslage und könne deswegen nicht zu Gunsten des Klägers herangezogen werden. Die Kosten für die Passbeschaffung seien daher gem. § 37 Abs. 1 SGB XII in Form eines ergänzenden Darlehens zu übernehmen; es sei für den Kläger auch nicht unzumutbar, die Kosten in monatlichen Raten von lediglich 5,00 EUR zurückzuzahlen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet. Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie nicht rechtswidrig sind. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Übernahme von Kosten für die Beschaffung seines türkischen Passes aus Sozialhilfemitteln als Zuschuss. Die Entscheidung des Beklagten, die Kosten im Wege eines Darlehens zu übernehmen, ist nicht zu beanstanden; insbesondere hat der Beklagte von dem ihm eingeräumten Ermessen rechtsfehlerfrei Gebrauch gemacht.

Gemäß § 27 Abs. 1 SGB XII ist Hilfe zum Lebensunterhalt Personen zu leisten, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften oder Mitteln bestreiten können. § 27a SGB XII bestimmt, dass der für die Gewährleistung des Existenzminimums notwendige Lebensunterhalt insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie ohne die auf Heizung und Erzeugung von Warmwasser entfallenden Anteile, persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens sowie Unterkunft und Heizung umfasst (Abs. 1 Satz 1). Der gesamte notwendige Lebensunterhalt nach Abs. 1 (mit Ausnahme der Bedarfe nach dem Zweiten bis Vierten Abschnitt) ergibt den monatlichen Regelbedarf (Abs. 2 Satz 1). Zur Deckung der Regelbedarfe sind monatliche Regelsätze zu gewähren. Der Regelsatz stellt einen monatlichen Pauschalbetrag zur Bestreitung des Regelbedarfs dar, über dessen Verwendung die Leistungsberechtigten eigenverantwortlich entscheiden; dabei haben sie das Eintreten unregelmäßig anfallender Bedarfe zu berücksichtigen (Abs. 3). Nach § 27a Abs. 4 Satz 1 SGB XII wird der individuelle Bedarf im Einzelfall abweichend vom Regelsatz festgelegt, wenn ein Bedarf ganz oder teilweise anderweitig gedeckt ist oder unabweisbar seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.

Anders als nach dem bis 31.12.2010 geltenden Sozialhilferecht sind durch das zum 01.01.2011 in Kraft getretene "Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe nach § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch" – Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG) – nunmehr die Kosten für die Beschaffung von Ausweispapieren im Regelbedarf abgebildet (vgl. § 5 Abs. 1 unter Abteilung 12 – andere Waren und Dienstleistungen – ). Hierzu heißt es in der Gesetzesbegründung (BT-Drucksache 17/3404 S. 64): "Bei sonstigen Dienstleistungen werden die neufestgelegten Gebühren von 28,80 EUR bezogen auf zehn Jahre für den Personalausweis, die künftig auch hilfebedürftige Personen zu entrichten haben, zusätzlich berücksichtigt. Die sich durch Einführung des neuen Personalausweises ergebenden Gebühren sind – da erst im Jahre 2010 beschlossen – in den Verbrauchsausgaben der EVS 2008 nicht erfasst, werden aber ab dem 2011 anfallen. Zusätzlich wird unter der Position "Sonstige Dienstleitungen, nicht genannte" ein Betrag von 0,25 EUR berücksichtigt. (Daraus ergeben sich 3,00 EUR im Jahr und für die Gültigkeitsdauer des neuen Personalausweises insgesamt 30,00 EUR.)" Daraus folgt, dass § 73 SGB XII nicht mehr als Anspruchsgrundlage für die Übernahme der Kosten für die Beschaffung von Ausweispapieren herangezogen werden kann. Das Urteil des LSG NRW vom 23.05.2011 (L 20 AY 19/08) erging noch zu dem bis 31.12.2010 geltenden Recht, als diese Kosten noch nicht im Regelbedarf abgebildet waren. Die Kammer hält daher die rechtlichen Erwägungen zu einem Anspruch nach § 73 SGB XII für das frühere – hier nicht anzuwendende – Recht für nachvollziehbar und überzeugend. Unter dem ab 01.01.2011 – hier anzuwendenden – Recht scheidet § 73 SGB XII jedoch als Anspruchsgrundlage aus.

Nach § 73 Satz 1 SGB XI können Leistungen auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen. Geldleistungen können als Beihilfe oder Darlehen erbracht werden (Satz 2). Eine sonstige Lebenslage, die den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigt, besteht, wenn es um die Regelung einer so genannten unbenannten Bedarfslage geht, die jedoch eine gewisse Vergleichbarkeit mit den ansonsten von der Sozialhilfe abgedeckten Lebenslagen aufweist (sog. atypische Bedarfslage). Eine "unbenannte Bedarfslage" liegt vor, wenn der Lebenssachverhalt weder einer der anderen in § 8 SGB XII genannten Hilfearten unterfällt, noch in den sonstigen Bereichen des (Sozial-)Rechts eine abschließende Regelung erfährt (LSG, Urteil vom 23.05.2011 – L 20 AY 19/08). Passbeschaffungskosten stellen – jedenfalls seit 01.01.2011 – keine atypische Bedarfslage i. S. v. § 73 SGB XII dar (vgl. auch LSG NRW, Beschlüsse vom 22.07.2010 – L 7 B 204/09 AS, vom 03.01.2011 – L 7 AS 460/10 B, vom 25.02.2011 – L 19 AS 2003/10 B und vom 28.01.2013 – L 12 AS 1836/12 NZB; Urteil der Kammer vom 05.06.2012 – S 20 SO 179/11).

Die Kosten für die Beschaffung von Ausweispapieren gehören – wie dargelegt – seit dem 01.01.2011 zum notwendigen Lebensunterhalt im Sinne von §§ 27, 27a, 28 SGB XII. Indem die Gebühren für die Beschaffung von Ausweispapieren seit dem 01.01.2011 Eingang in die Bemessung des Regelsatzes gefunden haben, kommt allenfalls eine Übernahme der Kosten nach § 27a Abs. 4 Satz 1 oder nach § 37 Abs. 1 SGB XII, nicht mehr aber nach § 73 SGB XII in Betracht.

§ 27a Abs. 4 Satz 1 SGB XII scheidet als Anspruchsgrundlage aus, da sich diese Vorschrift nur auf laufende, nicht nur einmalige, besondere, aber vom Regelbedarf grundsätzlich erfasste Bedarfe bezieht (vgl. Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3. Auflage, § 28 SGB XII Rn. 20). Zu Recht hat der Beklagte daher durch den Bescheide vom 06.12.2012 und den Widerspruchsbescheid vom 25.03.2013 die Kosten der Passbeschaffung gem. § 37 Abs. 1 SGB XII in Form eines ergänzenden Darlehns übernommen. Die Vorschrift bestimmt: "Kann im Einzelfall ein von den Regelsätzen umfasster und nach den Umständen unabweisbar gebotener Bedarf auf keine andere Weise gedeckt werden, sollen auf Antrag hierfür notwendige Leistungen als Darlehen erbracht werden." Kosten für die Beschaffung von Ausweispapieren werden grundsätzlich seit 01.01.2011 von den Regelsätzen umfasst. "Im Einzelfall" des Klägers liegt jedoch die Besonderheit vor, dass die Kosten für die Beschaffung eines türkischen Reisepasses höher sind als diejenigen, die nach dem RBEG im Regelbedarf abgebildet sind. Die Beschaffung des türkischen Passes war jedoch aus aufenthaltsrechtlichen Gründen ein nach den Umständen unabweisbar gebotener Bedarf. Der Kläger hat glaubhaft gemacht, dass er ihn nicht auf andere Weise als durch Sozialhilfemitteln decken konnte. Unter diesen Umständen war es geboten, dass die Beklagte dem Kläger die entsprechenden Mittel als Darlehen zur Verfügung stellte. Ihre Entscheidung, die Sozialhilfe "nur" als Darlehen zu gewähren und auch nur in Höhe von 208 EUR statt in Höhe der tatsächlichen Kosten von 211 EUR, ist nicht ermessensfehlerhaft. Sie hat den Betrag bewilligt, den der Kläger zuletzt im Widerspruchsschreiben vom 11.12.2012 (ohne Passfoto) angegeben hatte; den Betrag von 211 EUR hat er erstmals mit der Klage geltend gemacht. Bei der Bemessung der Höhe des Darlehensbetrages hat der Beklagte nicht einmal berücksichtigt, dass bereits 28,80 EUR (die Höhe der Gebühr für die Beschaffung eines deutschen Personalausweises) im Regelbedarf abgebildet sind. Dass sie weitere Umstände des Klägers nicht bei ihren Erwägungen berücksichtigt hat, macht die Darlehensbescheide nicht ermessensfehlerhaft. Die Bedarfsdeckung über § 37 SGB XII sieht das Darlehen als Regelfall ("sollen") vor. Auch die vom Kläger vorgetragenen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Umstände lassen die Darlehensentscheidung unter Berücksichtigung der angebotenen Tilgungsraten von monatlich 5 EUR angesichts der Höhe des monatlichen Taschengeldbetrages bei Unterbringung in einer Einrichtung nicht ermessensfehlerhaft erscheinen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Kammer hat die im Hinblick auf den Streitwert an sich nicht statthafte Berufung zugelassen, weil sie der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beimisst (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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